„Kann man etwas erinnern, das man nicht erlebt hat?“

Inszeniert für Momente der Selbsterkenntnis statt für falsche Betroffenheit: Die britische Theaterregisseurin Lily Sykes. ©MAGNUS REED

Die britische Regisseurin Lily Sykes inszeniert am Akademietheater Yasmin Rezas „Serge“. Ein Gespräch über Gedenktourismus, Erinnerungskultur und die Kunst, im Augenblick des Schreckens lachen zu können.

Von Andrea Schurian

Welturaufführung am Wiener Akademietheater: Die britische Theaterregisseurin Lily Sykes (39) hat Yasmina Rezas Roman Serge dramatisiert. Die Geschwister Serge (Roland Koch), Nana (Alexandra Henkel) und Ich-Erzähler Jean (Michael Maertens) sind Nachkommen von Holocaust-Überlebenden. Nach dem Tod der Mutter beschließen sie, Auschwitz zu besuchen, wo Großvater, Großtante und Urgroßmutter ermordet wurden. Doch bei den drei Geschwistern will nicht so recht Betroffenheit aufkommen – zu sehr sind sie in familiäre Konflikte verstrickt. Was kann man erinnern, was man nicht selbst erlebt hat? Es sind provokante Fragen, die Yasmina Reza aufwirft. Das Interview mit Lily Sykes fand vor der Uraufführung im Akademietheater statt.

NU: Halten Sie es nicht für problematisch, dass man im ehemaligen Täterland Österreich in diesem Stück über Auschwitz lacht?

Lily Sykes: Man lacht nicht über Auschwitz zwischen 1939 und 1945, nicht über Genozid und Holocaust, nicht über sechs Millionen Tote. Die Satire handelt von diesem Ort, der zu einer Touristenattraktion degradiert wurde. In Krakau können Sie eine Tagestour buchen, erste Station ist Auschwitz, die zweite sind die Salzminen. Dass diese beiden Orte quasi touristisch gleichwertig sind, ist absurd. Und es geht um das Benehmen von Menschen an so einem Ort. In Yasmina Rezas Roman Serge sind es Kinder von Überlebenden. Sie fahren nach dem Tod der Mutter nach Auschwitz und benehmen sich furchtbar. Sie kreisen ausschließlich um sich selbst. Sie versuchen, etwas zu empfinden, was ihren Vorfahren passiert ist, aber was sie spüren, sind die Konflikte, die gerade zwischen ihnen stattfinden.

Viele Menschen besuchen Auschwitz aber in erster Linie nicht, um Familienstreitereien zu lösen. Glauben Sie nicht, dass Überlebende oder Angehörige von Überlebenden gekränkt sein könnten durch diese Sichtweise, wenn Josephine zu ihrem Vater sagt: „Papa, das ist die Judenrampe, 500.000 Deportierte sind hier angekommen!“ Und Serge, ihr Vater dann antwortet, dass ihm das egal ist, er steigt nicht aus, denn er will nicht von irgendwelchen Viechern gestochen werden.

Gegenfrage: Worüber lacht man in dieser Situation? Man lacht natürlich nicht über die Rampe, sondern man lacht über die Ignoranz des Vaters. Man lacht über diesen Typen, über seine Sturheit und seinen Eigensinn und seine Unfähigkeit, seiner Tochter einen Gefallen zu tun. Yasmin Reza hat ihren Roman Imre Kertész gewidmet, der den Essay Wem gehört Auschwitz geschrieben hat.  Darin vergleicht er Steven Spielbergs Schindlers Liste und Roberto Begninis Film Das Leben ist schön. Und er als Überlebender sagt, dass Das Leben ist schön eine viel realistischere und wahrhaftere Darstellung des Holocausts ist, denn das Leben im Lager, ja, der Holocaust selber sei ein absurdes und groteskes Phänomen.

Die Gefahr, von der falschen Seite Applaus zu bekommen, fürchten Sie nicht?

Es ist immer die Gefahr von Kunst, dass sie falsch verstanden wird oder jemanden kränken könnte. Aber es geht nicht darum, von allen verstanden zu werden. Sondern Fragen aufzuwerfen. Ich denke, es reicht nicht, sich zu erinnern. Erinnerung verhindert keine Folter, keine Morde, keine Kriege. Was ist das Erinnern? Kann man etwas erinnern, was man nicht erlebt hat? Was ist ein Besuch eines Ortes verglichen mit der Lektüre eines Buches über die Schoa? Oder verglichen mit dem neunstündigen Shoah-Film von Claude Lanzmann? Reza schreibt in ihrem Roman über die Fetischisierung des Erinnerns: „Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos“. Sie kritisiert den Erinnerungskult, dass man durch Auschwitz geht und sich betroffen fühlt. Und wenn man betroffen ist, darf man sich gut fühlen und glauben, dass dies ausreicht. Sich betroffen zu fühlen, ist okay, aber es muss mehr sein. Wir müssen ein Wissen dafür entwickeln, dass das, was passiert ist, etwas mit uns zu tun hat. Kertész schreibt sinngemäß, dass das Wissen der einzige Wert ist, der aus dem Holocaust zu ziehen sei. Wissen wollen heißt, sich nicht nur mit der Opferperspektive zu konfrontieren, sondern auch mit der Täterperspektive. Ich bin in Nord-London aufgewachsen, einer Gegend mit einer großen jüdischen Community. Als ich im Zuge eines Schulaustausch nach Hamburg kam, besuchten wir ein KZ. Es hat mich schon damals genervt, als meine Londoner Schulfreunde sagten: „Ich bin so froh, kein Deutscher zu sein.“ Denn der Holocaust zeigt, wozu wir als Menschen fähig sind – wir alle.

Ist der Plot auch von Yasmina Rezas eigener Biografie beeinflusst? Judentum als Glaubenspraxis und Religion habe auf ihr Schreiben keinen großen Einfluss, sie sei ohne Vergangenheit und Identität aufgewachsen, hat sie in einem „Zeit“-Interview gesagt.

Für viele Juden, die nicht in Israel leben, stellt sich die Frage nach der jüdischen Identität. Oder wie Kertész geschrieben hat, dass die Identität europäischer Juden durch die Schoa geprägt ist. Bei Yasmina Reza geht es auch um eine Generationenfrage: Die Kinder der Überlebenden wollen sich nicht mit der Vergangenheit beschäftigen, die Enkelgeneration sehr wohl.

Haben Sie den Stoff dem Burgtheater vorgeschlagen?

Nein, man hat mir den Stoff angeboten. Ich hatte mich vorher noch nie mit Yasmina Reza auseinandergesetzt. Als ich den Roman las, hat mir Rezas großartiger Sinn für das Groteske, ihr unglaublich schonungsloser, unsentimentaler Blick auf den Menschen unglaublich gefallen. Und im Zuge der Vorbereitungen habe ich übrigens natürlich auch Auschwitz besucht.

Wie ging es Ihnen dort?

Ich habe sehr auf das Benehmen der Menschen rund um mich geachtet. Und mich hat tatsächlich die Art und Weise befremdet, wie sie durch das Stammlager gegangen sind, man hätte auch im Louvre sein können oder im Kunsthistorischen Museum. Birkenau hingegen fand ich extrem beklemmend – weil da nichts ist. Rasen. Ruinen. Es ist ein ganz schlimmer Ort und man findet es schwer, die Gefühle, die man hat, wenn man dort ist, in Worte zu fassen. Unter diesem Aspekt kann ich auch das Benehmen der Familie Popper in Birkenau verstehen.

Ihrem idealen Publikum: Wie soll es ihm bei dem Stück gehen?

Dass es über sich selbst lacht. Dass es sich, seine Familienstrukturen, in vielen Situationen wiederkennt und vielleicht einen kurzen Moment glaubt, etwas verstanden zu haben. Es geht nicht nur um eine jüdische, sondern schlechthin um eine Familie – vom Kind bis zum 99-jährigen Mann. Vielleicht guckt man zu und erkennt irgendetwas in sich.


Pressestimmen:

Nachtkritik.de: Wikinger in Auschwitz

Am dichtesten wird der Abend, wenn die Figuren durch Auschwitz stolpern, jede auf eigene Art vom Unfassbaren aus der Fassung gebracht. Ansonsten fühlt man sich wie zufällig zur Familie von jemand anderem mitgenommen. Die Vertrautheit der Mitglieder untereinander, ihre Konflikte, ihre Scherze, man verfolgt sie, durchaus mit Sympathie, wo man schon mal da ist. Aber man kommt nicht wirklich mit und fragt auch nicht nach. Geht einen ja eigentlich nix an. (Martin Thomas Pesl)

Der Standard: Yasmina Rezas „Serge“ kommt im Akademietheater nicht in Schwung

Die sonst bei Reza so wirkungsvolle Balance zwischen Tragik und Komik vermag diese Inszenierung nicht zu erzeugen, weil man schlichtweg weder das eine noch das andere auf der Bühne vorfindet. Sie verbleiben im erzählerischen Bereich verkapselt, in Telefonaten, in Imaginationen, Erinnerungen. Besonders die als Pointen gedachten Szenen, beispielsweise die ausagierten Kindheitserinnerungen mit Wikingerverkleidung, wirken schal. (Margarete Affenzeller)

Kurier: Respektabler Betroffenheitssonderapplaus

Yasmina Reza, die französische Autorin mit jüdisch-iranisch-ungarischen Wurzeln, weiß, wie man wunderbare Stücke schreibt. […] Es dürfte also einen Grund haben, warum sie die Geschichte von drei Geschwistern, die durch den Tod ihrer Mutter mit der Shoah konfrontiert werden, als Roman konzipierte. […] Trotz zahlreicher Metaphern und bedeutungsvoller Zeichen (sieben Sessel, sieben Türen) erreicht der Abend nur in wenigen Momenten Tiefe. […] Natürlich berührt es, wenn Alexandra Henkel als wunderbar kämpferische Nana zum Schluss die Hand zur Versöhnung ausstreckt. Der respektable Betroffenheitssonderapplaus erstaunt aber dann doch. (Thomas Trenkler)

Redliches Bemühen: Roland Koch, Alexandra Henkel und Michael Maertens. © Matthias Horn
Die mobile Version verlassen