Die israelische Gesellschaft durchlebt zurzeit Reformen, die nicht wenige Israelis als Revolution empfinden. Das Geschehen ist vielschichtig.
Von Johannes Gerloff, Jerusalem (Text und Fotos)
Die „Fronten“ und Interessenlagen sind für Außenstehende verwirrend. Eines der entscheidenden Spannungsfelder ist jedoch das Verhältnis zwischen säkularen und ultraorthodoxen Juden. Beide – Säkulare wie Religiöse – fühlen sich von den Entwicklungen bedroht und reagieren entsprechend. Der Zwist zwischen säkularen Israelis und ihren ultraorthodoxen Mitbürgern hat Wurzeln, die bis in die Anfänge der zionistischen Bewegung zurückreichen. In den vergangenen Jahren hat er sich massiv verschärft und durchzieht praktisch alle Bereiche der Gesellschaft und Politik Israels.
Am zweiten Märztag 2014 erreichte die Spannung einen Höhepunkt, als hunderttausende Ultraorthodoxe in Jerusalem gegen ihre Einziehung zum Wehrdienst demonstrierten. In der zweiten Märzwoche verabschiedete die Knesset, das israelische Parlament, ein ganzes Paket von revolutionären Gesetzen. Demnach soll künftig bei Parlamentswahlen eine Sperrklausel von 3,25 Prozent gelten, Misstrauensanträge werden erschwert und die Zahl der Minister im Kabinett limitiert. Gebietsabgaben sollen nur noch durch Volksentscheid möglich sein und schrittweise auch ultraorthodoxe Talmudschüler zum Wehrdienst verpflichtet werden.
Gemeinsam ist allen diesen Gesetzen das Ringen um eine Balance zwischen politischer Handlungsfähigkeit und Effektivität der israelischen Regierung einerseits und den Rechten und Freiheiten von ethnischen und religiösen Minderheiten andererseits. Der Lastenausgleich – und damit verbunden der Wehrdienst für Ultraorthodoxe – wird am hitzigsten debattiert.
Lieber ins Gefängnis als zur Armee
„Auf keinen Fall“, ist aus ultraorthodoxen Kreisen zu hören, werde man „mit der israelischen Armee kollaborieren“. Die Umgangssprache der „Charedim“, wie die ultraorthodoxen Juden auf Hebräisch heißen, ist bis heute nicht selten Jiddisch. Mit Blick auf den Pflichtwehrdienst schreien sie „Oi, Gewalt!“ und zeichnen drastische Szenarien von religiöser Verfolgung – ausgerechnet durch den Staat, der von aller Welt als „jüdisch“ anerkannt werden will. Öffentlich klagen sie an, das Thorastudium werde kriminalisiert, obwohl noch völlig unklar ist, welche Sanktionen Jeschiwa-Studenten, die sich drücken, tatsächlich drohen. Die Erfahrung lehrt, dass in Israel nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde.
Trotzdem sparen die Thora-Treuen nicht mit drastischen biblischen und historischen Parallelen. Gnadenlos wird die Absicht des jüdischen Staates, Charedim zum Militärdienst zu verpflichten, mit dem Vorgehen des Pharao in Ägypten (Buch Exodus), den Absichten des Judenhassers Haman in Persien (Buch Ester) oder dem Holocaust verglichen. Unermüdlich wird betont, 16 bis 20 Stunden Studium am Tag seien so anstrengend wie ein Militäreinsatz und zudem viel effektiver für die Existenzsicherung des jüdischen Volkes. Vollmundig erklären schwarz behütete Teenager mit schütterem Bartansatz, sie würden lieber ins Gefängnis als zur Armee gehen. Der chassidische Belzer Rebbe droht gar, mit Zigtausenden seiner Anhänger das Land zu verlassen, sollte man zum Wehrdienst gezwungen werden.
Israels Finanzminister Jair Lapid, Hauptzielscheibe der Ultras und politische Gallionsfigur des Lastenausgleichs, begegnet einer halben Million charedischen Wehrdienstverweigerern auf Jerusalems Straßen gelassen. Jetzt wisse wenigstens jeder, um was es gehe, erklärte Lapid, und: „Es ist unvorstellbar, dass sich so eine Masse von Menschen nicht am Dienst für den Staat beteiligt.“
Beitrag zur Sicherheit des jüdischen Staates
Im „Greenhouse“, einem netten Restaurant in Schalit, an der Straße zwischen Tel Aviv und Jerusalem, treffe ich Jaron Mintz. Der 53-Jährige bezeichnet sich selbst als politisch „eher links“, aber entschieden „zionistisch“. Seine beiden Töchter dienen in Kampfeinheiten der israelischen Armee. Jaron verlangt, dass alle jungen Menschen in Israel ihren Beitrag zum Aufbau und zur Sicherheit des jüdischen Staates leisten. Alle seien sich doch schließlich einig, dass die Existenz des Staates Israel der Garant dafür sei, dass so etwas wie in Nazideutschland nie mehr passieren könne. „Wenn das jüdische Volk sich nicht schützen konnte, wurde es verfolgt und vernichtet.“
Mintz sieht die aktuelle Auseinandersetzung als existenziellen Kampf Israels um seine Zukunft. Der ehemalige iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad habe Recht, wenn er das Ende des jüdischen Staates prophezeit habe. Dabei hat Mintz, der selbst seinen Wehrdienst unter anderem in Gaza geleistet hat, nicht die nuklearen Ambitionen Teherans im Blick. „Die Hälfte der Erstklässler heute sind Araber oder Charedim“, beides Gruppen, die bislang vom Militärdienst ausgenommen sind, beschreibt der drahtige Mann die aktuelle Lage seiner Gesellschaft und nippt an seiner Tasse Kaffee. „Hinzu kommt, dass heute schon weniger als 25 Prozent der Mädchen zur Armee gehen und sich mehr und mehr Jungs erfolgreich drücken. Als ich jung war, dienten die meisten in meiner Heimatstadt Kfar Saba in Kampfeinheiten. Von den Klassenkameraden meiner Töchter geht nur noch eine Minderheit zur Armee.“ Der Computeringenieur beobachtet: „Die Freistellung der Charedim hat Auswirkungen auf die Säkularen“.
Bei alledem hat Jaron Mintz sehr viel Verständnis für die Lage seiner frommen Mitbürger. Er weiß um konkrete Geschichten, die ultraorthodoxe Soldaten während ihres Militärdienstes in Gewissenskonflikte brachte. Sei es, dass eine Einheit von Ultraorthodoxen während eines Einsatzes von einem Hubschrauber evakuiert wurde, an dessen Steuer eine Pilotin saß. Der gemeinsame Einsatz von Männern und Frauen in der Armee ist aus ultraorthodoxer Sicht undenkbar. „Oder einmal wurde Charedim-Soldaten nach einem Kommandoeinsatz an Jom Kippur, dem großen Versöhnungs- und Fastentag, befohlen, Wasser zu trinken.“ Mintz beschreibt innere Zwänge der ultraorthodoxen Gesellschaft, in der bis heute Ehen durch einen „Schadchan“, den Heiratsvermittler, zustande kommen: Ein Ultraorthodoxer, der Militärdienst geleistet hat, bekommt keine „gute“ Frau mehr. „Wir müssen diese Probleme ernst nehmen“, plädiert Mintz, „dürfen sie nicht einfach ignorieren, oder gar lächerlich machen.“
In mancher Hinsicht geht die aktuelle Gesetzesvorlage bereits auf Bedenken der Frommen ein. So befürchten Ultraorthodoxe etwa, dass junge Rekruten im Alter von 18 Jahren in ihrer Persönlichkeit und ihrem Glauben zu wenig gefestigt sind, um eine Begegnung mit dem säkularen Israel unbeschadet standhalten zu können. Im Hintergrund schwebt vielleicht auch die Angst, dass nicht wenige jugendliche Charedim nur zu gerne der Enge und Strenge ihrer Umwelt entfliehen und sich der Armee und der Arbeitswelt öffnen könnten. Deshalb ist vorgesehen, Ultraorthodoxe nicht automatisch mit 18 zum Wehrdienst heranzuziehen, wie das sonst Brauch ist, sondern ihnen einen Aufschub bis zum Alter von 26 Jahren zu gewähren.
Streit zwischen Orthodoxen und Säkularen
Auch unter Israelis, die Armeedienst leisten, sind die Pläne der Regierung nicht unumstritten. Manch israelischer Soldat sieht die bereits bestehende ultraorthodoxe Einheit namens „Netzach Jehuda“ – was so viel bedeutet wie „Ewigkeit Judas“ oder „ewiges Judäa“ – mit kritischen Augen. „Die vertrauen doch nur auf Gott und nehmen Disziplin überhaupt nicht ernst“, wird unter der Hand gemunkelt. Dabei gilt die Kritik nicht dem Gottvertrauen der Frommen, sondern der Tatsache, dass Gott als Rechtfertigung für einen Mangel an Disziplin und Motivation herhalten muss.
Doch beim Streit zwischen Orthodoxen und Säkularen in Israel geht es um viel mehr als nur um die Wehrpflicht. Es geht um Geld – das Ultraorthodoxe als Steuern nicht zahlen, dafür aber für ihre Talmudschulen einstecken – und um Einfluss. Es geht um zivilrechtliche Fragen, etwa um Eheschließung und Ehescheidung, und darum, wer in diesen Bereichen das letzte Wort hat. Die Ultraorthodoxen gewinnen nicht zuletzt durch ihre Kinderzahlen immer mehr Einfluss in der Gesellschaft Israels. Zur Zeit der Staatsgründung waren es im ganzen Land vierhundert ultraorthodoxe Talmudstudenten, die der damalige Premierminister, David Ben Gurion, vom Militärdienst befreite. Heute bringt dieselbe Gruppe problemlos Hunderttausende von „Betern“ auf die Straße.
Deshalb formiert sich unter säkularen Israelis Widerstand. Es ist die Mittelschicht des Landes, die in den vergangenen Jahren in viel beachteten Sozialprotesten auf die Straße ging, um einen Lastenausgleich zu fordern. Weniger als fünfzig Prozent der Gesamtbevölkerung tragen momentan die Hauptlast eines Staates, der enorme Sicherheitsanforderungen hat.
Trotzdem boykottierte die gesamte Opposition Mitte März die Debatten und Abstimmungen in der Knesset. Vielleicht nicht ganz unberechtigt verdächtigten Koalitionsmitglieder die säkular-sozialistische Arbeitspartei und die linksgerichtete Meretz- Partei, dass sie auf diese Weise eine Stimmabgabe zugunsten der Wehrpflicht für die Ultraorthodoxen umgehen wollten. Seit Jahren befürworten diese Parteien eine gleichmäßige Belastung aller israelischen Staatsbürger und haben die Bevorzugung der Religiösen wiederholt scharf attackiert. Jetzt erscheint die Präsidentschaftskandidatur des Sozialisten Benjamin Ben Elieser und eine mögliche Unterstützung der Ultras aber offensichtlich wichtiger als die längst überfällige Reform in Politik und Gesellschaft, die ohnehin nicht in Frage steht.
Der Einfluss der Charedim in der israelischen Gesellschaft wächst, auch wenn sie momentan nicht an der Regierung beteiligt sind. Damit muss sich das säkulare Israel abfinden. Deshalb werden die Frommen aber definitiv auch mehr Lasten einer modernen demokratischen Gesellschaft auf ihre Schultern nehmen müssen. Es gibt eine Zeit nach dem parlamentarischen Schicksalsmonat März 2014. Das wissen alle Beteiligten.