„Jeder soll für sich definieren, was Judentum bedeutet“

Bini Guttmann © MICHAEL RAUSCH-SCHOTT / VERLAGSGRUPPE NEWS / PICTUREDESK.COM

Mitte August 2019 wurde Bini Guttmann, Co-Präsident der jüdischen österreichischen HochschülerInnen (JöH), zum Präsidenten der European Union of Jewish Students gewählt. Ein Gespräch über florierendes jüdisches Leben in Europa, zunehmenden Antisemitismus und was es für ihn bedeutet, ein junger Jude in Europa zu sein.

NU: Gratulation zum Wahlerfolg. Lass uns bei den Wurzeln anfangen: Welche Rolle spielt für dich die jüdische Identität?
Bini Guttmann:
Ich war mein Leben lang in jüdischen Institutionen, Sportvereinen und Schulen, also mein gesamtes Wertesystem baut darauf auf. Das Judentum ist ein wesentlicher Teil meiner Identität.

Bist du religiös?
Ich gehe in die Synagoge, allerding weniger oft, als ich gerne würde. Andererseits bin ich aber religiöser als die meisten, die in unserem Vorstand aktiv sind. Ich esse zum Beispiel nur koscheres Fleisch und lege jeden Tag Tefillin an. Es sollte jeder für sich eine Grenze finden und definieren, was das Judentum für ihn bedeutet. Das ist ja auch das Schöne im Judentum. Du kannst gleichzeitig Atheist und jüdisch sein, das macht den Unterschied zu anderen Religionen. Das Judentum ist eben nicht nur eine Religion, sondern viel mehr, ein Volk und eine Kultur.

Du bist Co-Präsident der Jüdischen österreichischen HochschülerInnenschaft. Würdest du sagen, dass ihr alle jungen jüdischen Studenten vertretet?
Ich habe es jedenfalls versucht. Wir haben gemeinsame Veranstaltungen für Aschkenasen und Bucharen gemacht, beispielsweise ein bucharisches Schabbat-Dinner. Wir planen auch für den Herbst eine größere Aktion, in der die Diskriminierung innerhalb der jüdischen Gemeinde thematisiert werden soll. Allerdings muss ich durchaus selbstkritisch sagen, dass der Großteil in der JöH säkulare aschkenasische Juden sind. So gesehen vertreten wir den religiösen Teil weniger als den säkularen, auch, weil weniger Bedarf besteht. Die religiöse Gemeinde hat ihre eigenen Institutionen. Aber natürlich sind wir in allen unseren Events inklusiv und offen. Alle unsere Schabbat-Essen sind koscher, es kommen auch viele religiöse Leute, aber chassidische Jugendliche kommen naturgemäß eher selten zu uns. Im Großen und Ganzen würde ich sagen, dass die JöH ein größeres Spektrum abdeckt, als alle anderen Jugendorganisationen außer vielleicht Maccabi und die Zwi Peres Chajes-Schule. Die JöH sollte beispielhaft sein für die gesamte jüdische Gemeinde. In meiner Generation verändert sich auch einiges zwischen den georgisch-bucharischen und aschkenasischen Gemeinden zum Besseren. Das könnte auch als Vorbild dienen. Aber natürlich gibt es auch bei uns Luft nach oben.

Welche Rolle spielt das Judentum für die JöH?
Besonders der kulturelle und politische Aspekt sind wichtig, wiewohl wir natürlich auch religiöse Aspekte abdecken. Wir veranstalten zu den meisten Feiertagen Events, einmal im Monat gibt es ein gemeinsames Schabbat-Essen, zu dem fast immer über hundert Leute kommen. Wir sind allerdings in erster Linie keine religiöse, sondern eine kulturelle und politische Organisation, die auch für nichtjüdische Menschen offen ist. Man wird an der Tür nicht gefragt, ob man jüdisch ist! (lacht) Es geht auch um Themen wie LGBTQ im Judentum, andererseits hatten wir auch Veranstaltungen mit den Rabbinern der Gemeinde hier bei uns.

Wie stehst du zu Reformbewegungen im Judentum? Sollen Frauen auch Rabbinerinnen werden können?
Das ist eine sehr grundsätzliche Frage in Wien. Hier gibt es eine orthodoxe Gemeinde, die nicht religiös ist, was ein sehr interessanter Fall ist. Es ist aber natürlich so, dass in der traditionellen Ausrichtung des Judentums die Position der Frau keine gute ist. Da besteht sicherlich Reformbedarf. Ich bin aber keine rabbinische Autorität, deswegen kann ich nicht über Halacha reden. Doch in vielen Ländern bekommen Frauen auch in orthodoxen Gemeinden immer mehr Platz eingeräumt. Bei den Wahlen zum Tempelvorstand gab es zum Beispiel fünf Plätze für Männer und drei für Frauen. Dass es nicht fünfzig-fünfzig ist, erachten wir als problematisch.

Wie kam es, dass du dich für die Position des Präsidenten der European Union of Jewish Students (EUJS) beworben hast?
Dafür muss ich erklären, warum ich überhaupt bei der JöH angefangen habe. Vor fast drei Jahren hat die FPÖ zum Gedenken an die Novemberpogrome eine Podiumsdiskussion über den neuen Antisemitismus organisiert und dazu bekannte Islamkritiker eingeladen, da Antisemitismus in ihren Augen nur von der islamischen Seite kommt. Diese Islamkritiker haben dann mit rechtsextremen FPÖ-Politikern, die Verbindungen zur organisierten Neonazi-Szene haben, diskutiert, obwohl die FPÖ eine strukturell antisemitische Partei ist, wie sich auch in den letzten Jahren hinlänglich gezeigt hat. Es ist ein Beispiel dafür, wie rechtsextreme Parteien in ganz Europa versuchen, sich an die jüdischen Gemeinden und vor allem auch an Israel anzubiedern, um ihren Rassismus weißzuwaschen und zu kaschieren. Wir haben damals eine Demonstration organisiert, denn mit diesen Menschen gedenke ich nicht meiner Vorfahren. Kurz darauf haben wir die JöH wieder aktiver gestaltet, um jungen Juden – auch solchen, die für andere Jugendorganisationen bereits zu alt waren – einen Ort zu geben, wo sie sich politisch und kulturell betätigen können. So bin ich auch zum ersten Mal in Kontakt mit der EUJS gekommen und habe gemerkt, dass es ganz viele Themen gibt, die nicht nur in Österreich problematisch sind. Rechtsextremismus ist leider in ganz Europa ein Problem; den muss man, um effektiv zu sein, auf gesamteuropäischer Ebene bekämpfen. Deswegen habe ich kandidiert. Priorität wird eine Kampagne gegen Rechtsextreme und rechte Parteien in Europa sein.

Was willst du in der EUJS verändern?
Ich möchte sie aktionistischer machen, so wie die JöH. Als Studenten können wir uns einfach mehr erlauben, um uns Gehör zu verschaffen. Die EUJS hat dahingehend auch schon viel erreicht. Als der damalige iranische Präsident Mahmoud Achmadinejad vor dem UNHCR über Israel sprach, haben EUJS-Aktivisten die Rede gestört. Sie alle wurden verhaftet und haben dadurch für große internationale Aufmerksamkeit gesorgt. Die EUJS soll auch universalistischer werden und solidarisch sein mit anderen Gruppen, die diskriminiert und unterdrückt werden. Der Antisemitismus steigt zwar, aber Jüdinnen und Juden sind in vielen Ländern nicht das erste Ziel von rassistischem Hass. Außerdem möchte ich eine jährliche Policy-Konferenz einführen, bei der es jedesmal um ein anderes Thema gehen wird. Beginnen würde ich gerne mit Zionismus, um darüber zu diskutieren, was für uns als junge europäische Juden Zionismus im 21. Jahrhundert bedeutet. Ich glaube, die Antwort, auf die wir kommen werden, wird sehr anders sein als das, was 60-jährige Amerikaner, die den Diskurs in der Diaspora beherrschen, darüber denken.

Welche Rolle spielt für dich der Zionismus? Du warst Mitglied des Hashomer Hatzair, der sich ganz klar zum Zionismus bekennt. Wirst du daher auch das Amt des Präsidenten in diesem Sinne ausüben?
Ja, ich bin grundsätzlich Zionist und die Ideologie des Shomers hat mich sehr geprägt. Gleichzeitig finde ich nicht alles gut, was die israelische Regierung macht. Zionismus ist nicht immer gleich Israel Advocacy, das ist nicht dasselbe. Ich finde, dass wir zu Israel stehen müssen, aber es ist auch legitim, die israelische Regierung zu kritisieren – gerade weil wir Zionisten sind! Es ist natürlich immer schwer, hier die Linie zu finden, weil man von anderen Kräften missbraucht werden kann, mit denen man nichts zu tun haben möchte. Ich glaube, dass es ganz wichtig wäre, einen Ort für linke und liberale Zionisten zu schaffen, die üblicherweise in jüdischen Organisationen nur wenig Platz haben. Es ist unsere Verantwortung, auch solchen Positionen einen Platz zu bieten.

Hast du schon Antisemitismus erfahren müssen?
Schön öfter, in allen möglichen Formen. Vor allem bei Maccabi Wien, wo ich Fußball gespielt habe, gab es eine ganze Reihe an Vorfällen. Einmal mussten wir uns einsperren, bis die Polizei kam, nachdem die gegnerischen Fans inklusive der Mannschaft und den Eltern versuchten, unsere Kabine zu stürmen. Die Mannschaft wurde von der Liga ausgeschlossen. Das war ein ziemlich arger Vorfall! Im Stadion habe ich auch schon viel Antisemitismus gehört. Auf der amerikanischen Neonazi-Website Judaswatch ist ein Profil von mir angelegt, mit Fotos und Artikeln, die ich geschrieben habe und mit einem Davidstern daneben, um zu kennzeichnen, dass ich ein Jude bin! Mein Einfluss ist, laut Judaswatch, leider „low“.

Als Präsident aber nicht mehr!
Ich schreibe ihnen und frage, ob sie mich upgraden können. (lacht) Spaß beiseite, solche Sachen sind beängstigend! Ich glaube, dass sich Antisemitismus durch alle Gesellschaftsschichten in Österreich bis hin zur ehemaligen und vielleicht auch zukünftigen Regierung zieht. Er ist allgegenwärtig und nimmt im Moment auch wieder zu. Der Unterschied zwischen Österreich und Deutschland ist die Aufarbeitung, in Österreich muss noch viel Arbeit geleistet werden. Im Großen und Ganzen ist es aber in den letzten dreißig Jahren besser geworden. Es gibt in Europa derzeit Antisemitismus von Rechtsextremen, es gibt islamistischen Antisemitismus, und es gibt auch den Antisemitismus der extremen Linken. Ganz wichtig ist, alle Antisemitismen zu bekämpfen. Jeder, der sich nur eine Seite aussucht, weil es gerade politisch opportun ist, meint es nicht ernst im Kampf dagegen und ist sicher niemand, mit dem wir zusammenarbeiten können.

Fühlst du dich als Jude in Europa sicher?
Ich bin auf der Straße nicht als Jude zu erkennen, daher ist meine Erfahrung sicherlich eine ganz andere als von Leuten, die wirklich als Juden erkennbar sind. Natürlich erfahren sie mehr Antisemitismus im Alltag als ich. Ich fühle mich schon sicher, vor allem gibt es die Bewachung aller jüdischen Einrichtungen. Ich war in der ZPC-Schule, die wahrscheinlich das sicherste Gebäude Österreichs ist und ein bisschen aussieht wie ein Gefängnis. Ich gehe auch in eine Synagoge, vor der sehr viel Polizei steht. Das ist für mich ganz selbstverständlich.

Vor zwei Jahren war ich mit der EUJS in Brüssel und dann in Washington. In Brüssel stehen vor der Synagoge Soldaten mit Maschinengewehren, in Washington niemand. Wobei es sich mittlerweile auch in den USA leider sehr geändert hat. Dennoch war es dort, als würdest du hier in Österreich in eine Kirche gehen. Das hat mich zum Nachdenken gebracht, weil ich die Situation in Washington viel eigenartiger fand als in Brüssel!

Gibt es noch etwas, was du zu Jom Kippur den Lesern und Leserinnen als Präsident mitteilen möchtest?
Dass wir als junge Jüdinnen und Juden uns einsetzen müssen für die Werte, die uns wichtig sind, weil sie in ganz Europa oder eigentlich auf der ganzen Welt immer mehr in Gefahr geraten. Es muss unsere Generation sein, die ihre Meinung ganz klar und deutlich sagt, damit wir etwas verändern können, auch wenn wir eine sehr kleine Gruppe sind. Aber damit es nicht falsch rüberkommt: Ich glaube, dass es Jüdinnen und Juden in Europa nicht schlecht geht, und dass das jüdische Leben ein sehr gutes und vielfältiges ist. Es geht darum, genau dies zu bewahren, weiterzuentwickeln und zu schauen, dass es nicht schlechter wird. Das würde ich mir wünschen von vielen jungen Jüdinnen und Juden! Und natürlich „ois Guade“ im neuen Jahr!

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