Aus Österreich vertriebene NS-Überlebende und deren Nachkommen können seit September die österreichische Staatsbürgerschaft zurückerlangen. Eine freudig angenommene Änderung und wichtiges Signal der Wiedergutmachung.
Von Michael J. Reinprecht
Karen Haidinger-Ramos strahlt. Das spürt man sogar am Telefon. Seit Anfang November hält die 40-jährige Unternehmerin aus London den österreichischen Pass in Händen. Aus beruflichen Gründen ist sie erst vor ein paar Jahren nach England gezogen – aus Rio de Janeiro, wohin es ihren Großvater Kurt und dessen Bruder verschlug, die Österreich bereits 1936 in Richtung Brasilien verlassen hatten. Später gelang es den beiden, ihre Mutter Rosa nachkommen zu lassen.
„Mein Großvater war ein begnadeter Eistänzer, für Engelmann und den Wiener Eislaufverein hatte er einige Preise gewonnen“, so die stolze Neo-Österreicherin im Gespräch. Die Sportlerkarriere dürfte auch entscheidend dazu beigetragen haben, dass Kurt Haidinger die drohenden Gewitterwolken des Nazi-Terrors früh erkannte und beschloss, das Land zu verlassen. Bei der Vorbereitung zur Anzeige nach dem neuen Staatsbürgerschaftsgesetz sei die weitverzweigte Familie zusammengesessen, so Haidinger-Ramos, und zwar persönlich und online, man habe gemeinsam Dokumente gesucht und in Erinnerungen gekramt. Zahlreiche Familienmitglieder in Brasilien und in Peru wollen jetzt den österreichischen Pass nach dem neuen Gesetz. Später plane man eine große „Family Reunion“ in Wien.
Karen Haidinger-Ramos ist nur eine von vielen Nachkommen österreichischer Nazi-Opfer, die seit September die Möglichkeit haben, ihre durch die Flucht der Vorfahren verlorene österreichische Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen – und zwar unbürokratisch, durch eine einfache Anzeige. Im Wiener Außenamt am Minoritenplatz rechnet man mit bis zu 100.000 „neuen“ Österreichern. Vielleicht kommt es auch zu einem Erstarken der österreichischen jüdischen Gemeinden. In den Botschaften in London, Washington und Tel Aviv freuten sich jedenfalls die ersten, die ihre Urkunde erhalten haben.
Gemeinsam an einem Strang
Grundlage dafür ist die im Oktober 2019 vom Nationalrat mit den Stimmen aller (!) Parteien beschlossene Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes, die es NS-Opfern – so sie noch leben – und deren Nachkommen ermöglicht, die österreichische Staatsbürgerschaft (wieder) zu erhalten, ohne den aktuellen Pass abgeben zu müssen.
Der Begriff der „Nachkommen“ wurde jetzt auf Adoptivkinder erweitert, ausgedehnt wurde außerdem die Frist der Ausreise beziehungsweise der Flucht: Die neue Regelung umfasst nun auch Personen, die aufgrund der Verfolgung das Bundesgebiet bis 15. Mai 1955 verlassen mussten. Und die Novelle schließt nun auch Menschen mit ein, deren Vorfahren Staatsangehörige aus Staaten der ehemaligen Donaumonarchie waren, sofern sie ihren Hauptwohnsitz in der Republik Österreich hatten.
In Kraft getreten ist die Novelle am 1. September, seitdem läuft die Aktion. Doch schon in der Vorbereitungszeit haben die Partner – IKG, der Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, Ministerien, die MA 35 der Stadt Wien (die für nicht in Österreich geborene bzw. wohnhafte Personen die Bearbeitung der Anträge übernommen hat) – gemeinsam an einem Strang gezogen. „Wir alle arbeiten mit Herzblut daran“, tönt es aus dem Außenministerium.
Dass bereits im Vorfeld alles für ein Online-Verfahren vorbereitet wurde, macht sich nun in Corona-Zeiten bezahlt: Der Fragebogen zur Vorbereitung der Anzeigelegung ist professionell ausgearbeitet, die Website höchst benutzerfreundlich. Denn die Interessenten sollen sich „abgeholt fühlen“, wie es am Minoritenplatz heißt. „It’s a big deal“, so Sven Wagner, Sonderberater des Generalsekretärs Botschafter Peter Launsky-Tieffenthal (siehe Interview). Mit bis zu hunderttausend Interessenten rechnet man hier, bis Mitte Oktober hatten in den USA bereits viertausend Nachkommen von Opfern des Nazi-Terrors ihre Fragebögen ausgefüllt, in Israel dreitausend.
Lange Verbundenheit
So wie Ben Zion Lapid, geboren in Wien, der „Hansi aus Hernals“, wie er sich selber nennt. Er ist der erste israelische Neo-Österreicher nach dem neuen Gesetz. „Für mich schließt sich ein Kreis“, erzählte der 84-Jährige dem Standard, „und die Enkerln und die Kinder freuen sich.“ Er hätte sich immer interessiert für das, was in Österreich passiere, auch wenn Israel sein Zuhause geworden sei. „Ich spreche ja noch Deutsch. Ich wünschte nur, ich könnte die Staatsbürgerschaft noch meiner Mutter weitergeben oder meinem Vater.“
Auch Elia Barkei spricht gut Deutsch. Das war ihr und ihrer Mutter wichtig. „Meine Mutter war 15 Jahre alt, als sie Wien verlassen musste. Ich selbst bin ja in Israel geboren.“ Mit Österreich sei sie seit Längerem eng verbunden, ein Teil der Familie lebe hier. NU erreicht sie zu einem abendlichen Gespräch telefonisch in Tel Aviv, ihre Enkel laufen durch die Wohnung, lärmen. Es herrscht fröhliche Stimmung. „Ich denke, diese Aktion ist der richtige Schritt“, so Elia Barkei. „Denn meine Mutter Lotte war in erster Linie Österreicherin und dann Jüdin. Wäre die NS-Herrschaft nicht gekommen, wäre meine 1923 geborene Mutter sicherlich in Wien geblieben.“ Aber 1939 wurde Lotte Krug von ihren Eltern nach Palästina geschickt, ihr Vater später in Buchenwald ermordet. „Sie hat ihre Erinnerungen an das Wien vor 1938 gerne mit uns geteilt: die Parks, die Theater, die Donau im Sommer und Skifahren im Winter. Aber der ,Anschluss‘ hat ihr Leben verändert, Freunde kehrten ihr den Rücken zu. Deshalb ist diese österreichische Initiative auch eine Anerkennung für meine Mutter, die einst ihre Heimat gegen ihren Willen verlassen musste – und ihre Familie. Ich hätte ihr gewünscht, sie hätte dies noch erleben können. Sie ist vor drei Jahren 94-jährig gestorben.“
Als Hannah Liko, Österreichs Botschafterin in Israel, Elia Barkei im Vorfeld fragte, ob sie in einem Telefonat ihre Freude über die neu gewonnene Staatsbürgerschaft mit NU teilen wolle, sagte die 65-jährige Israelin sofort zu. „Es ist eine super Aktion“, so die Botschafterin. „Es ist mir ein Herzensanliegen, den Interessenten hilfreich zur Hand zu gehen.“ Die neue Möglichkeit, komplikationslos die österreichische Staatsbürgerschaft zu erhalten, ohne dabei den israelischen Pass abgeben zu müssen, sei auch von den israelischen Medien lobend aufgenommen worden.
Späte Wiedergutmachung
Wie Ben Zion Lapid in Israel war auch Craig Morse der Erste. Freudig hatte der österreichische Botschafter in den USA, Martin Weiss, bereits am 1. September das Foto von der Verleihung der Staatsbürgerschaft an den 51-jährigen Geschäftsmann aus Washington auf Twitter gepostet. Stolz hält Craig die Urkunde in Händen, im Hintergrund sein Sohn. „Wissen Sie, das ist für mich eine Art von Wiedergutmachung. Der österreichische Pass wurde meiner Familie gestohlen und unsere Identität, unsere Existenz ausradiert“, schreibt Craig Morse an NU. Um später am Telefon hinzuzufügen: „Meine Großeltern haben den NS-Terror hautnah erlebt, es ist ihnen in letzter Minute gelungen, das Land zu verlassen, bevor es zu spät war. Ich bin der Republik Österreich sehr dankbar für diese Initiative, die ihnen nun zurückgibt, was ihnen genommen wurde.“
Oder, wie es Karen Haidinger-Ramos formuliert: „Selbst wenn man die Geschichte nicht ungeschehen machen kann, bringt diese wunderbare Initiative gerade in so schwierigen Zeiten wie diesen Hoffnung, dass vergangenes Unrecht nicht vergessen wird. Und es ist ein Beitrag, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.“