Von Martin Engelberg
Es ist eine ziemlich meschuggene Zeit, in der wir leben: Die Russen und Ukrainer streiten sich darüber, wer die größeren Antisemiten bzw. Freunde der Juden sind. Putin wirft den Ukrainern vor, Antisemiten zu sein. Daraufhin ernennt die Kiewer Übergangsregierung einen ukrainischen Juden zum Gouverneur einer östlichen ukrainischen Provinz, um ihre Freundschaft zu den Juden zu unterstreichen.
Die chassidische Chabad-Bewegung, in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion höchst aktiv, wirft sich für Putin in die Schlacht und deren ukrainischer Rabbiner ruft die Juden der Ukraine am Höhepunkt der Krise zum Verlassen des Landes auf. Andererseits treten viele Juden am Maidan auf und unterstützen die ukrainische Revolution. Angeblich waren darunter auch solche, die ihre militärische Ausbildung in Israel erhalten hatten und jetzt die Ukrainer in ihrem Aufstand gegen das Russland-freundliche Regime unterstützen. Zugleich rief sie die israelische Botschaft in Kiew dazu auf, ihre Wohnungen nicht zu verlassen.
Das alles geschieht just in jenem Gebiet, das einst das Kernland des europäischen Judentums war, und in welchem in der Schoah die meisten der dort lebenden Juden ermordet wurden. Niedergemetzelt zwar von den Einsatzgruppen vorwiegend deutscher und österreichischer Soldaten und SSler, aber mit mehr als tatkräftiger Unterstützung von Ukrainern, Weißrussen, Polen usw. Jüdische Überlebende berichteten immer wieder davon, dass deren Judenhass noch viel schlimmer war als jener der Deutschen. Vergessen auch der mörderische Antisemitismus der Sowjetunion unter Stalin?
Dennoch beschimpfen viele Russen die Ukrainer als Faschisten, unterstützt von zahlreichen Kommentaren im Westen, die vor der Übernahme der Regierungsgewalt durch ukrainische Rechtsextreme warnen. Der brillante britische Historiker Timothy Snyder hingegen – Autor des ausgezeichneten Buches Bloodlands, in welchem er die Überlagerung von nationalsozialistischem und stalinistischem Terror untersuchte – sieht die Situation ganz anders: Die Revolution sei von Menschen aus allen Teilen der Ukraine getragen gewesen, darunter auch von vielen Juden. Wohl meint auch er, dass die rechtsextremen Gruppierungen im Auge zu behalten sind, aber deren Zulauf wäre sehr beschränkt.
Verärgert ist Snyder ganz offensichtlich darüber, mit welchem Recht die Russen die Ukrainer als Faschisten bezeichnen und damit im Westen so ernst genommen würden. Es wäre ein Irrglaube, den Russen zugute zu halten, den Zweiten Weltkrieg gewonnen zu haben und daher als Bollwerk gegen die Nazis zu gelten. Daran sei vieles falsch. „Der Zweite Weltkrieg wurde an der Ostfront hauptsächlich auf dem Gebiet der sowjetischen Ukraine und des sowjetischen Weißrusslands ausgetragen. Nur fünf Prozent russisches Gebiet waren von den Deutschen besetzt, doch die ganze Ukraine. Sieht man von den Juden ab, die das schlimmste Martyrium erlitten, waren nicht die Russen, sondern die Ukrainer und Weißrussen die Hauptopfer der Nazipolitik. Es war die sowjetische Rote Armee und nicht die russische Armee, die im Krieg kämpfte. Der Anteil der ukrainischen Soldaten war überproportional groß. Sie halfen auch, Auschwitz zu befreien“, schrieb Snyder in einem vielzitierten Kommentar in der New York Review of Books.
Früher übertrumpften die Völker Europas einander förmlich in ihrem Antisemitismus und ihrer Bereitschaft, Juden zu vertreiben und zu ermorden. Heute ist ein Wettbewerb darüber im Gange, wer die größeren Freunde der Juden sind. Es ist eine echte Ironie der Geschichte.