Um Gerhard Bronner war es nie still, aber doch stiller geworden. Möglicherweise hatte es ihn sogar geschmerzt, dass just sein 80. Geburtstag, den er am 23. Oktober 2002, unterstützt von Freunden und Weggefährten, mit einer fulminanten Gala im Konzerthaus feierte, die Gelegenheit bot, sich wieder einmal mit ihm und seinem Werk auseinanderzusetzen. Ich bat ihn um ein ausführliches Interview für den „Standard“, das er mir gerne gewährte, auch wenn seine Erwartungen gering waren: Nicht nur einmal hatte er die Kulturredaktion der Zeitung seines Sohnes kritisiert. Ich besuchte Gerhard Bronner am 8. Oktober nachmittags in der Böcklinstraße. Er war zwar längst wieder zurückgekehrt aus Florida, aber seine Wohnung, eher lieblos eingerichtet, vermittelte nicht den Eindruck, als würde er tatsächlich in ihr leben. Sie war eher eine Arbeitsstätte. Wir saßen auf zwei Ledercouchs, Bronner rauchte genussvoll bedächtig. Wenige Tage später schickte ich ihm die Abschrift zur Korrektur; er hatte fast nichts zu verbessern. Und er dankte für das Interview. Es schien mir nicht geheuchelt.
Von Thomas Trenkler
NU: Hans Weigel hat einmal über Sie geschrieben: „Er ist nur zufällig wieder in Wien: Er wollte hier die Fahrt unterbrechen – da hörte er im Rundfunk ein Lied von Alexander Steinbrecher und sagte sich: ‚In dieser Stadt könnte man bleiben.‘ So währt die Fahrtunterbrechung bis heute.“ War es so?
Gerhard Bronner: Absolut. Meine Schwiegereltern hatten die Emigration in Schanghai verbracht und waren nach Wien zurückgekehrt. Sie wollten mit Recht ihre Tochter wiedersehen, mich und ihren Enkel (Standard-Herausgeber Oscar Bronner, Anm.) kennenlernen. Und ich hatte ein Engagement in London angeboten bekommen. Meine Frau bestand daher darauf, dass wir über Wien fahren. Ich sagte zu ihr: „Von mir aus, aber ich garantier dir, länger als einen Monat bleib ich in dieser Scheißstadt nicht.“ Wien war im 48er Jahr wenig einladend: lauter verhärmte Menschen, enttäuschte Nazis mit schlechtem Benehmen, es gab nicht viel zum Essen. Eines Abends dreh ich das Radio auf und höre eine Sendung vom Alexander Steinbrecher. Und da hab ich plötzlich eine Art von Wiener Kultur entdeckt, von der ich gar nicht mehr wusste, dass es sie jemals gegeben
hat. Kurze Zeit später lernte ich Steinbrecher und Weigel kennen. Sie bestärkten mich, dazubleiben. Und so habe ich nie mein Engagement in London angetreten.
NU: Dass Sie Musiker, Komponist und Kabarettist werden würden, war Ihnen ja nicht gerade in die Wiege gelegt: Sie sollen eine Lehre als Schaufensterdekorateur begonnen haben.
Gerhard Bronner: Ich war ein schlechter Schüler, sogar ein sehr schlechter. Eines Tags wurde ich in Geometrisch Zeichnen geprüft. Der Lehrer stellte eine Frage und ich antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Das weiß ich nicht.“ Ich habe nicht einmal ein Nachdenken simuliert. Auch auf die zweite und die dritte Frage antwortete ich: „Das weiß ich nicht.“ „Ja hast du das denn nicht gelernt?“ „Nein. Weil es mich nicht interessiert.“ Das war vermutlich die erste ehrliche Antwort, die der Lehrer von einem Schüler gehört hat. Und der Grund, warum ich in der vierten Klasse rausge-
flogen bin. Meine Eltern konnten sich das Gymnasium zudem nicht wirklich leisten: Sie mussten, weil ich eben ein schlechter Schüler war, das volle Schulgeld bezahlen. Da meinte mein Vater, es hat eh keinen Sinn. Zufällig war eine Lehrstelle in einem Warenhaus in Favoriten mit vierzehn Schaufenstern frei. Und so lernte ich bis ins 38er Jahr Schaufenster zu dekorieren. Aber ich habe das nie ausgeübt. Keinen Moment lang. Hin und wieder denke ich mit Schaudern daran zurück: Wäre der Hitler nicht einmarschiert, wäre ich vielleicht Schaufensterdekorateur geworden.
NU: Na ja, Sie haben doch schon damals musiziert.
Gerhard Bronner: Soweit ich musizieren konnte. Denn als ich neun Jahre alt war, wurde das Klavier, auf dem ich gelernt habe, gepfändet, weil mein Vater Schulden hatte. Ich konnte also nur musizieren, wenn ich wo eingeladen war, wo ein Klavier stand. Da ich aber ganz gut nach dem Gehör spielen konnte, was die Leute hören wollten, Schlager und solches Klumpert, war ich ein gesuchter Gast. Später kaufte ich mir eine sehr, sehr gebrauchte Gitarre, auf der ich zu zimbeln lernte. Und wenn ich in einem Jugendclub war, spielte ich auf ihr und sang Stanzln dazu, die ich zum Teil schon selbst komponiert hatte. Einige könnte ich sogar heute noch
zimbeln.
NU: Waren Sie schon in der Zeit des Austrofaschismus ein politisch interessierter Mensch?
Gerhard Bronner: Als Sechsjähriger hat mich mein Bruder Oskar zu den Roten Falken gebracht. Er war zehn Jahre älter, ein Schulfreund vom Kreisky, und gemeinsam haben sie die SAJ, die Sozialistische Arbeiterjugend, im 4., 5. und 10. Bezirk geleitet. Mein Bruder war auch beim Schutzbund. Ich bin daher durchaus sozialdemokratisch aufgewachsen, ohne genau zu wissen, was das eigentlich ist. Ich bin zwar nie einer Partei beigetreten und würde es auch nicht. Aber bis zum heutigen Tag ist meine spontane Reaktion, wenn ich mit einem politisches Problem konfrontiert werde, eine sozialdemokratische. Dann erst denk ich drüber nach. Und hin und wieder ergibt es sich, dass ich mein Urteil revidiere. Denn auch die Sozialisten haben ja nicht immer recht.
NU: Ihr Vater wurde bereits eine Woche nach der Machtergreifung inhaftiert und kam ins KZ Dachau. Warum hat Ihre Familie nicht schon frühzeitig an Flucht gedacht? Man wusste ja, wie Hitler in Deutschland agierte.
Gerhard Bronner: Weil mein Vater ein edler Tor war. Er behauptete: „Ich war Frontsoldat im Ersten Weltkrieg, ich wurde verwundet.“ Er war sogar beim Bund jüdischer Frontkämpfer! „Ich hab mein Lebtag kein Verbrechen begangen, mir kann nichts passieren.“ Dass er schließlich vergast werden könnte, auf die Idee ist er nicht gekommen.
NU: Sie hingegen dachten schon bald nach dem Einmarsch an Emigration.
Gerhard Bronner: Ja. Ich wollte legal auswandern, hatte aber keinen gültigen Pass. Ich musste um einen neuen ansuchen, den berühmten deutschen Pass mit dem „J“. Aber dazu brauchte ich eine Steuerunbedenklichkeitserklärung. Für diese musste ich mich unzählige Stunden bei der Finanzlandesdirektion anstellen. Der Beamte sagte mir schließlich, ich müsse nachweisen, dass ich meine Steuern bezahlt hätte. Ich antwortete: „Ich bin 15-einhalb Jahre alt, habe kein Einkommen. Von was soll ich Steuern zahlen? „Dann muss dein Vater die Erklärung vorlegen.“ „Der kann sie nicht vorlegen, der ist im KZ.“ „Dann musst halt warten, bis er wieder herauskommt.“ „Und wovon soll ich bis dahin leben?“ – „Hat dir ja keiner angschafft, dass du leben sollst.“ Das war’s. Meine einzige Chance war ein illegaler Grenzübertritt in die Tschechoslowakei, der mir auch gelang. So bin ich der einzige Überlebende meiner Familie. Und das verdanke ich einem Gesetzesbruch.
NU: Warum kam eigentlich Ihr Vater, ein kleiner Tapezierer, derart früh ins KZ?
Gerhard Bronner: Wie mein Bruder war auch mein Vater ein sehr aktiver Sozialdemokrat. Er hatte damals am Wiedner Gürtel direkt gegenüber dem Süd- beziehungsweise Ostbahnhof ein Geschäft. Einmal in der Woche kam ein Mann mit dem Zug aus Brünn und hatte in seinem Rucksack die Arbeiter-Zeitung, die dort gedruckt werden musste, weil die SP ja während des Austrofaschismus verboten war. Diese Zeitung war kleinformatig, aus Dünndruckpapier und hatte sechzehn Seiten. Mein Vater übernahm diese Zeitungen und verteilte sie. Das hat sich natürlich herumgesprochen: Er wurde vernadert. Mein Bruder wurde gleich mit verhaftet, kam ebenfalls nach Dachau – und dort um.
NU: Ihr Vater hingegen wurde wieder freigelassen.
Gerhard Bronner: Ja, er kam ein halbes Jahr später aus Dachau heraus. Er schrieb mir nach Brünn, dass es meinen Bruder nicht mehr gibt, erwähnte aber mit keinem Wort, was sich dort abgespielt hatte. Stattdessen schickte mir mein Vater, den ich nur dunkelhaarig kannte, ein Foto von sich:
Er hatte schneeweiße Haare. Was ihm in Dachau alles passiert ist: Ich will es gar nicht wissen.
NU: Und trotz dieser Tortur dachte er nicht an Flucht?
Gerhard Bronner: Ich schrieb ihm: „Komm doch nach Brünn!“ Und er schrieb mir zurück: „Ich habe nichts verbrochen, ich habe keinen Grund zur Flucht.“
NU: Sie schlugen sich als Straßenmusikant durch, konnten aber nicht lange in Brünn bleiben. Hitler marschierte Anfang Oktober im Sudetenland ein …
Gerhard Bronner: Und plötzlich war die deutsch-tschechische Grenze nur vierzehn Kilometer von Brünn entfernt. Die neue tschechische Regierung wies zudem alle Emigranten an, das Land binnen 48 Stunden zu verlassen. Und so bin ich mit einem Freund über Pressburg donauabwärts getrampt, bis ich in Rumänien auf einen illegalen Transport nach Palästina stieß. Im Laderaum des ausrangierten griechischen 600-Tonnen-Frachters, der „Draga“ hieß, befanden sich gut 4.500 Flüchtlinge. Dementsprechend waren die Verhältnisse und die Verpflegung. Jeder konnte pro Tag nur eine Stunde an Deck sein, um Luft zu schnappen.
NU: Sie passierten Istanbul, landeten in Palästina, konnten im Gegensatz zu vielen anderen schon bald von Bord. Wie ging es dann weiter?
Gerhard Bronner: Ich lebte in Netanya, wo das Schiff gelandet war, arbeitete als Deichgräber, pflückte Orangen, zerschnitt die schlechten, die nicht exportiert werden konnten, und verfütterte sie an Kühe.
NU: In einem Interview sagten Sie einmal, Sie hätten als
19-Jähriger, also 1941, ein Streichquartett geschrieben.
Gerhard Bronner: Nein, das war nur ein bescheidener Versuch, mit Streichinstrumenten umzugehen. Er ist nicht der Rede wert.
NU: Aber Sie wollten weiterhin Musiker werden.
Gerhard Bronner: Ja, das hat mich am meisten interessiert. Ich musste mir jedoch alles selbst beibringen: Ich hab mir Bücher besorgt und die Harmonielehre studiert. Aber ich hatte ja nicht einmal ein Klavier, nur ein Akkordeon.
NU: Haben Sie nicht als Musiker für die britische Armee gearbeitet?
Gerhard Bronner: Ja, die englischen Soldaten, die es in dieser Gegend in rauen Mengen gab, mussten unterhalten werden. Dafür gab es eine eigene Organisation, die zuerst ENSA, später CSE, Combined Services Entertainment, hieß. Ich wurde als Begleiter am Klavier engagiert. Die Show war derart erfolgreich, dass sie laufend erweitert wurde. Zuerst spielte ich allein, dann kam ein Bassgeiger dazu, ein Gitarrist, ein Schlagzeuger, drei Bläser … Und zum Schluss leitete ich vom Klavier aus ein 24-Mann-Orchester. Einige waren sehr gute Musiker, der erste Geiger zum Beispiel war der ehemalige Konzertmeister der Bukarester Philharmonie. Der hat mir viel beigebracht. Ich hab also von den Leuten, die ich dirigiert hab, gelernt.
NU: Wussten Sie zu jener Zeit schon, wie es Ihren Eltern ergangen war?
Gerhard Bronner: Nein. Ich habe erst nach dem Krieg erfahren, dass sie 1943 nach Minsk deportiert wurden. Einmal, das war noch vor dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, bekam ich einen Brief. Meine Eltern schrieben an Verwandte in Amerika mit der Bitte, ihn an mich weiterzuleiten. Und ich habe über Amerika zurückgeschrieben – ich weiß aber nicht, ob meine Eltern den Brief noch erhalten haben.
NU: Sie waren seit 1938 auf sich allein gestellt. Haben Sie darunter gelitten?
Gerhard Bronner: Sie müssen das mit anderen Maßstäben messen. Die Flucht war für mich eine Art Karl-May-Abenteuer. Außer, wenn ich Hunger hatte, das war scheußlich. Und später, bei den Engländern, ist es mir eigentlich schon sehr gut gegangen. Es gab genügend zu essen, auch Fleisch, kein Vergleich zu meiner Kindheit.
NU: In Palästina haben Sie dann Ihre Frau kennengelernt?
Gerhard Bronner: Nein, die kannte ich schon aus Wien.
NU: Eine Jugendliebe also?
Gerhard Bronner: Wenn Sie es euphemistisch ausdrücken wollen, dann war es eine Jugendliebe. Wir waren Verlorene, haben nicht gewusst, wie es weitergehen wird. Vor allem aber: Wir konnten miteinander in unserer Muttersprache kommunizieren. Sie stammte aus einem sehr wohlhabenden Haus und wurde in eine Mädchenschule in der Nähe von Jerusalem geschickt, ist also – im Gegensatz zu mir – völlig legal eingewandert. Irgendwie hat sie erfahren, dass ich in Palästina bin. Sie schrieb mir, wir haben uns dann getroffen, und als sie mit der Schule fertig war, ist sie zu mir nach Netanya gekommen. Als sie achtzehn war, haben wir geheiratet.
NU: Das muss 1941 gewesen sein.
Gerhard Bronner: Ja, damit wir uns das Datum merken, wählten wir den 1. Jänner. Wir alle, die wir im Militärdienst standen, mussten damit rechnen, den Krieg nicht zu überleben. Aber die Witwen würden eine Pension bekommen. Und deshalb haben wir geheiratet. Es gab damals ständig Unruhen, es gab Attentate, zum Teil von arabischen, zum Teil von jüdischen Terrororganisationen. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Nach dem Krieg lebte ich, weil die Band aufgelöst worden war, in Haifa und arbeitete dort für einen englischen Soldatensender. Ich hatte das Angebot gerne angenommen, denn es gab ein Archiv mit 16.000 Schallplatten, und ich lernte, Programme zusammenzustellen. Ich konnte mir die Platten anhören, sie miteinander vergleichen, mir meinen Geschmack bilden. Und einmal im Monat kam aus London per Schiff eine neue Ladung mit Schallplatten. Meine Aufgabe war es, mit einem Chauffeur zum Hafen zu fahren und diese Ladung in Empfang zu nehmen. Einmal aber heiratete ein Freund, ich spielte Klavier, sang Stanzln, es wurde sehr spät – und am nächsten Morgen hab ich verschlafen. Es musste also ein anderer statt mir zum Hafen. Und der kam bei einem Attentat einer vermutlich jüdischen Terrororganisation ums Leben. Natürlich hat mir niemand geglaubt, dass ich von diesem Anschlag nichts wusste. Meine englischen Freunde im Soldatensender redeten daraufhin kein Wort mehr mit mir.
NU: War das mit ein Grund, warum Sie Palästina im Frühjahr 1948 verließen?
Gerhard Bronner: Nein, der Sender wurde geschlossen, ich wäre arbeitslos gewesen. Das Engagement nach London kam mir daher sehr recht. Wir setzten nach Italien über und fuhren mit dem Zug über Venedig nach Wien.
NU: Sie arbeiteten dann für die Amerikaner beim Sender Rot-Weiß-Rot.
Gerhard Bronner: Das war auch einer dieser sonderbaren Zufälle! Ich hatte in Haifa einen Mann kennengelernt, der ganz gute englische Texte schrieb, von denen ich einige vertonte. Er hieß Joschi Silberfeld. In Wien ging ich mit dem Fotografen Erich Lessing, den ich in Haifa als Taxifahrer kennengelernt hatte, spazieren – und plötzlich kommt mir der Joschi Silberfeld entgegen. Er war damals Programmchef bei Rot-Weiß-Rot. Wie er das angestellt hatte, weiß ich nicht, aber die Amerikaner haben natürlich Leute gesucht, die perfekt Englisch konnten und keine Nazis oder Kollaborateure waren. Und Silberfeld, der nun Joseph M. Sills hieß, holte mich zum Sender.
NU: 1950 sollen Sie dann Helmut Qualtinger in der Rustenschacher-Sauna kennengelernt haben.
Gerhard Bronner: Ich hatte bereits ein Engagement im Kabarett Simpl hinter mir und an einem sehr guten Programm mitgewirkt, das der Weigel geschrieben hatte. Ich hatte also schon ein bissl Kabaretterfahrung. Das hat der Qualtinger gewusst – und er hat mich angesprochen. Er war mir schon aufgefallen: Denn er ist in der Sauna in der Badehose herumgerannt – mit einer prall gefüllten Aktentasche unterm Arm. In dieser befanden sich seine gesammelten Werke, aus denen er mir sofort vorzulesen begann. Und wir haben uns zusammengeredet. Aber der Stein – oder vielmehr Mann – des Anstoßes war der Michael Kehlmann, der eine zeitversetzte Version vom „Reigen“ machen wollte, den „Reigen 51“, und mich fragte, ob ich die Musik und die Überleitungen machen wolle. Natürlich war ich bereit dazu. Dieses Programm wurde von Kehlmann, Carl Merz und Qualtinger geschrieben. Das war unser erster großer Erfolg. Und wir hatten das Gefühl, wenn wir zusammenbleiben, können wir es vielleicht noch zu etwas bringen. Aber ganz anders, als wir es uns erwartet hatten: Im 53er Jahr bin ich mit dem Kehlmann nach Hamburg, und wir haben zu einer Zeit, als es in ganz Deutschland nur 5.000 Fernsehapparate gab, Sendungen gemacht, alles live natürlich. Der Kehlmann führte Regie, ich schrieb und komponierte. Wir konnten experimentieren, und das war das Wichtigste. Denn die Zuschauer haben eine Sendung nie nach dem Inhalt beurteilt, sondern nur nach der Qualität des Empfangs. Wir konnten daher alles machen. Solange das Bild gut war.
NU: In Wien hatten Sie aber 1950 die Marietta–Bar gepachtet.
Gerhard Bronner: Ja. Der Erste, den ich engagierte, war der Peter Alexander, der als zweite Besetzung im Bürgertheater praktisch nie etwas zu tun hatte. Aber ich wusste, wie gut er ist, und bat ihn, bei mir aufzutreten, was er auch tat – mit dem größten Erfolg. Und er wurde in der Marietta von einem Schallplattenproduzenten entdeckt. Die Liane Augustin ist bei mir aufgetreten, der Ernstl Waldbrunn. Das Geschäft lief gut, aber mir ist fad geworden, und so gab ich die Marietta auf und ging eben nach Hamburg. Dort gab es während der Proben immer wieder Publikumsführungen. Einmal kamen 50 Pastoren in voller Montur ins Studio. Da wusste ich: Jetzt ist es Zeit, das Fernsehen zu verlassen. Und als ob es ausgemacht gewesen wäre, rief mich der Besitzer der Marietta an und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, die Bar zu kaufen. Sie kostete fast auf den Groschen genau das, was ich mir in Hamburg erspart hatte. Und so kam ich 1955 wieder nach Wien zurück.
NU: Bereits 1952 war „Brettl vorm Kopf“ mit dem Lied „Der g’schupfte Ferdl“ herausgekommen. Nun folgten die weiteren mittlerweile legendären Programme, wie „Blattl vorm Mund“, „Brettl vorm Klavier“, „Marx und Moritz“ und „Glasl vorm Aug“. Die Zusammenarbeit mit Carl Merz, Helmut Qualtinger, Georg Kreisler und Peter Wehle soll aber nicht ganz konfliktfrei gewesen sein. Es wurde an jedem Satz gefeilt.
Gerhard Bronner: Ich bin eben als Sozialdemokrat aufgewachsen. Der Merz war ein Kohlrabenschwarzer. Der Kreisler eigentlich ein Kommunist. Der Wehle war ein katholischer Monarchist. Und der Qualtinger ein Nihilist. Eine politische Nummer zu schreiben, war also nicht ganz einfach. Zum Beispiel: Qualtinger und Merz wollten vor Augen führen, dass eine Koexistenz mit den Kommunisten im Ostblock nicht denkbar ist. Der Kreisler hat protestiert und gesagt, er steigt aus. Und zu Saisonende ist er dann auch ausgestiegen.
NU: Sie sollen einmal gesagt haben, das Team sei 1961 aufgrund von „Barackenkoller“ zerfallen.
Gerhard Bronner: Das hat der Qualtinger so bezeichnet. Wenn man so viele Jahre gemeinsam in einer Garderobe sitzt, hat man genug voneinander. Aber das war nicht der eigentliche Grund. Sondern: Nach einer Vorstellung von „Hackl vorm Kreuz“ kam der Regisseur Oscar Fritz Schuh zum Qualtinger und sagte ihm: „Ich übernehme in der nächsten Saison das Schauspielhaus in Köln und möchte, dass Sie bei mir Richard III. spielen.“ Qualtinger war völlig von den Socken – und sagte, er hört mit dem Kabarett auf. Was er auch tat. Richard III. hat er aber bis zu seinem Lebensende nie verkörpert. Stattdessen spielte er den „Herrn Karl“. Ich baute inzwischen ein neues Ensemble auf – mit dem Peter Orthofer, dem Kuno Knöbl, dem Dieter Gogg, dem Gert Steffen. Eines Tages kam der Erich Neuberg, Oberspielleiter des Fernsehens, zu mir und sagte: „Der Quasi möchte wieder mit dir Kabarett machen, und zwar im Fernsehen.“ Schließlich hatten wir 1958 fast jeden Monat ein Fernsehkabarett gemacht, es hieß „Spiegel vorm Gesicht“ und war ungemein erfolgreich. Aber ich sagte ihm, ich könne doch nicht meinem neuen Ensemble im Fernsehen Konkurrenz machen – denn dieses Kabarett würde natürlich viel erfolgreicher sein als das, was ich im Kärntnertortheater produzierte. Das hat der Neuberg eingesehen. Aber der Qualtinger nicht. Und er war viele Jahre bös auf mich.
NU: Eine Nummer aber haben Sie später doch gemeinsam für das Fernsehen gemacht.
Gerhard Bronner: Wir schrieben eine Nummer, die mir noch heute gefällt, darüber, wie ein Gastarbeiter die Österreicher sieht. Also eine Nummer, die der Qualtinger in seiner guten Zeit aus dem linken Westentaschl gespielt hätte. Aber er konnte es nicht mehr. Sein Gehirn war durch die vielen Entwöhnungskuren und Elektroschocks schon so korrodiert. Es war schon immer schwer, ihm eine musikalische Nummer beizubringen, aber es ging. Nun aber brauchte er bei der Aufzeichnung für diese drei Minuten über zwanzig Schnitte. Er hatte diesen Beruf leider verlernt.
NU: Hat es Sie eigentlich gegrämt, dass der Qualtinger mit dem „Herrn Karl“ einen derartigen Erfolg feierte?
Gerhard Bronner: Nein, es hat mich nur gewundert. 95 Prozent des „Herrn Karl“ stammen vom Merz, die Idee hatte der Nikolaus Haenel, und der Qualtinger hat da und dort bloß ein Lichterl aufgesetzt.
NU: Zusammengearbeitet haben Sie dann nur mehr mit Peter Wehle.
Gerhard Bronner: Ja, insgesamt 38 Jahre lang. Bis zu seinem Tod. Wir haben beide komponiert, Texte geschrieben, Klavier gespielt und vorgetragen. Bevor wir einander kannten, wurden wir immer gegeneinander ausgespielt. Wenn ich ein Angebot bekam und die Höhe meines Honorars nannte, hieß es, der Wehle macht das weit billiger. Und ihm ging es genauso. Bis wir uns absprachen. Kurz danach bekamen wir unabhängig voneinander einen Auftrag für eine größere Sache des Senders Rot-Weiß-Rot. Da haben wir uns gesagt: „Schreiben wir das miteinander, das geht gschwinder.“ So sind wir zusammengekommen. Die Firma nannten wir „Die vereinigten Chanson-Werke Bronner und Wehle“.
NU: Sie spielten auch genau definierte Typen.
Gerhard Bronner: Der Wehle war der depperte Schusslige, ich der unangenehme Gscheite. Ich kann Ihnen versichern: Einige der bösesten Sätze, die ich in einer Doppelconférence über den Wehle sagte, stammen eigentlich von ihm. Zum Beispiel der Schüttelreim: „Es tut mir in der Seele weh, wenn ich den Peter Wehle seh.“
NU: Das hat das Publikum natürlich nicht wissen können: Es setzt die Figur mit der Person gleich.
Gerhard Bronner: Natürlich. Wehle, der Jus und Germanistik studiert hatte, saß einmal im Kaffeehaus und las die Zeitung. Da spricht ihn ein Gast an: „Sie sind doch Doktor.“ „Eigentlich doppelter Doktor.“ „Sagen Sie, wie können Sie es ertragen, dass dieser arrogante Bronner Sie im Fernsehen so behandelt?“ Dass wir diese Typen nur gespielt haben, kapiert ein normales Publikum ja nicht.
NU: Mit Georg Kreisler hingegen war eine Zusammenarbeit nicht mehr möglich?
Gerhard Bronner: Ja. Der hat Sachen geschrieben in Deutschland! „Liegt der Staatsanwalt in seinem Blut, dann geht’s mir gut, dann geht’s mir gut.“ Entsetzlich!
NU: Ihre Kritik an den aggressiven Texten der deutschen Liedermacher wie Wolf Biermann und Franz Josef Degenhardt sorgte für eine Erregung: Thomas Rothschild bezeichnete Sie in der „Frankfurter Rundschau“ als „arrogant-konservativen Berufspessimisten“. Sie entgegneten: „Lieder sind nicht nur ein Zeitvertreib, Lieder sind auch ein geistiges Symptom, sie entstehen nicht zufällig.“ Und zitierten eine Zeile aus einem illegalen Nazi-Lied, mit dem Sie 1935 in der Schule konfrontiert worden waren: „Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt“. Seither seien Sie auf politische Lieder dieser Art sehr allergisch.
Gerhard Bronner: Ja. Nach dem Mord an dem Industriellen Hanns Martin Schleyer 1977 machte ich in der Radiosendung „Schlager für Fortgeschrittene“ eine Folge, die nur aus Liedern bestand, die zum Terror aufriefen. Diese Sendung hat in Deutschland ungeheure Furore gemacht. Und hatte zur Folge, dass die großen Schallplattenfirmen sich die Texte anschauten, bevor sie diese auf Platte veröffentlichten.
NU: Sie haben sich auch wiederholt sehr negativ über die Beatles geäußert. Warum eigentlich?
Gerhard Bronner: Ich hasse jede Art von Personenkult, egal, ob das der Stalin ist, der Hitler oder Karajan oder die Rolling Stones. Die Beatles waren Schlagerschreiber und Vortragende – und kein Grund, um einen Kult um sie aufzubauen. Meine Kritik war in erster Linie gegen die Fans gerichtet. Zudem haben sie Rauschgift salonfähig gemacht, was mich wahnsinnig störte. Im Song „Lucy in the Sky with Diamonds“ LSD zu verherrlichen – da spiel ich nicht mit! Deshalb habe ich mehrmals gegen die Beatles polemisiert -und ich nehme nicht ein Wort zurück. Dass sie nebenbei einige sehr gute Lieder geschrieben haben, keine Frage.
NU: Sie waren immer unangenehm – auch in Ihren Kabaretts: Sie prangerten Missstände an, kritisierten die Politiker.
Gerhard Bronner: Ich habe Kabarett als „Kritik an der reinen Unvernunft“ definiert. Und die Unvernunft geht ja bekanntlich durch sämtliche Parteien und sämtliche Bevölkerungsschichten.
NU: Sie haben mitunter auch aktiv Politik betrieben: Aufgrund Ihres Lieds „Der Papa wird’s schon richten“ musste der damalige Nationalratspräsident Felix Hurdes, der einen Autounfall seines Sohnes zu vertuschen versuchte, zurücktreten.
Gerhard Bronner: Ich hätte die Nummer aber auch geschrieben, wenn der Hurdes ein Roter gewesen wäre. Sie war nicht so sehr gegen den Hurdes oder dessen Sohn gerichtet, sondern gegen die Polizei, die sich von einem Bonzen beeinflussen ließ, und die Justiz, die den Fall niederschlug. Eine Anekdote am Rande: Mitte der 60er Jahre erarbeitete ich gemeinsam mit dem Reinhard Federmann im Kärntnertortheater ein Programm mit dem Titel „Compañero olé“, das sich mit dem Fall Franz Olah, der aus der SPÖ ausgeschlossen worden war, beschäftigte. Wir hatten sehr viel Hintergrundmaterial gesammelt, unter anderem auch über die Finanzierung der „Kronen Zeitung“. Damit das Programm nicht verboten werden konnte, haben wir das Ganze in ein Phantasieland nach Südamerika verlegt. In einer Sitzung des SP-Zentralkomitees wurde daraufhin der Antrag gestellt, mich aus der Partei auszuschließen. Und Otto Probst, damals der Zentralsekretär, musste zu seinen Genossen sagen: „Da werdet ihr euch schwertun, meine Herren. Der ist gar kein Mitglied bei uns.“
NU: Sie wussten doch ganz genau, dass Sie sich mit Ihrer Kritik unbeliebt machen. Wie geht man damit um? Man will doch geliebt werden?
Gerhard Bronner: Nein. Man will zur Kenntnis genommen werden. Und vielleicht verstanden werden. Ins Theater kommen von vornherein nur die Leute, die mein Kabarett hören wollen. Ich bin mir daher vorgekommen wie einer, der älteren Damen erklärt, dass Witwenverbrennungen schädlich sind. Im Fernsehen hingegen konnte ich auch Andersdenkende erreichen. Und die Menschen, die geglaubt haben, dass Hitler gut war für Deutschland, haben sich natürlich, wenn sie meine Polemiken gegen die Neonazis gehört haben, auf den Schlips getreten gefühlt. Das Gleiche passierte, wenn wir gegen die Schwarzen oder die Roten polemisierten.
NU: Sie sagten einmal: Der einzige Platz für einen anständigen Menschen ist zwischen den Stühlen. Das bedeutet ziemlich viele Schwierigkeiten.
Gerhard Bronner: Weiß Gott, natürlich.
NU: Sie sind in den 80er Jahren nach Florida übersiedelt. Eigentlich, um in den Ruhestand zu treten. Aber Sie haben ein Buch und Lieder für behinderte Kinder geschrieben, Sie haben eine Messe für eine Synagoge komponiert – und sind dann doch wieder nach Österreich zurückgekehrt.
Gerhard Bronner: Ja. Ich hatte zwar meine Steuerschulden gezahlt, aber die Steuerstrafe empfand ich als ungerechtfertigt: Ein CV-Richter hatte mich auf eine Art und Weise behandelt, dass ich mich weigerte, die Million Schilling zu zahlen, die ich natürlich hätte zahlen können. Deshalb konnte ich nicht zurückkommen. Da haben Freunde – unter anderem Robert Jungbluth – eine Initiative in die Wege geleitet. Die Strafe zahlten schließlich der ORF, die CA, die Bank Austria, die Casino AG und andere staatliche oder staatsnahe Unternehmen. Mit anderen Worten: Der österreichische Staat kassierte die Strafe, indem er das Geld von einer Tasche in die andere steckte. Zurück in Wien habe ich mich sehr gefreut, so viele Freunde wiederzusehen. Denn es gab eigentlich zwei Gründe, warum ich nach Florida gegangen war:
Auf meine Kritik an Waldheim in der Radiosendung „Guglhupf“ kamen antisemitische Leserbriefe und die waren nicht mehr, wie davor, anonym, sondern mit Namen und Adresse. Der andere Grund war, dass viele meiner Wegbegleiter gestorben waren, inklusive meiner Frau. Ich dachte damals, ich wäre völlig allein, ich hätte keine Freunde mehr. Und dann passierte diese Aktion! Da konnte ich gar nicht anders als zurückkehren. Und siehe da, es bestand eine Nachfrage nach meinen Sachen. Keiner hat sich darüber mehr gewundert als ich, der ich geglaubt hatte, längst zum alten Eisen zu gehören.
NU: Was würden Sie als Ihren größten Erfolg bezeichnen?
Gerhard Bronner: Eine Neufassung der „Fledermaus“ für die Covent Garden Opera in London, die vom Fernsehen in die ganze Welt übertragen und mit hymnischen Kritiken bedacht wurde.
NU: Also auf einem ganz anderen Gebiet.
Gerhard Bronner: Ja. Das ist ja das Perverse. In Österreich bin ich nur als Kabarettist bekannt. Im Ausland hingegen überhaupt nicht. Dort hab ich Offenbach-Bearbeitungen gemacht, Filmmusiken, Drehbücher …
NU: Fürs Theater an der Wien haben Sie Musicals übersetzt, „Cabaret“ zum Beispiel und „My Fair Lady“.
Gerhard Bronner: Ja, aber daran denkt kein Mensch. Man denkt nur an den „G’schupften Ferdl“. Und der ist wieder untrennbar mit dem Qualtinger verbunden.
NU: Irgendwie ungerecht: Der Interpret gilt immer mehr als der Schöpfer. Wie zum Beispiel die CD mit dem Titel „Die Qualtinger-Songs“: Die Lieder wurden fast alle von Ihnen geschrieben.
Gerhard Bronner: Sie sagen es. Beim „Trivial Pursuit“ gibt es die Frage: Von wem stammt das Lied „Der Marlon Brando mit seiner Maschin’“? Und 90 Prozent antworten wohl: Helmut Qualtinger.
NU: Vielleicht nur ein schwacher Trost: Diese Lieder sind längst österreichisches Kulturgut.
Gerhard Bronner: Schön, wenn Sie das so betrachten.
NU: Was sind Ihre nächsten Pläne? Sie hatten doch immer den Traum von einem großen Musiktheaterstück.
Gerhard Bronner: Ja, ich habe jetzt auch ein diesbezügliches Angebot. Vor einigen Jahren schrieb ich ein Filmdrehbuch, basierend auf dem „Hotel Savoy“ von Joseph Roth, das nicht realisiert werden kann, weil es zu teuer käme. Aber ein Produzent ist derart begeistert, dass er aus dem Inhalt ein Musical will. Wir werden sehen. Ich habe so viele Träume geträumt in meinem Leben, aus denen nichts geworden ist. Es würde mich nicht wundern, wenn auch aus diesem nichts würde.