Ein agnostischer Jude bemüht sich, ein Jahr lang alle Gebote der Bibel einzuhalten. Das verschafft ihm interessante Einsichten – und einen Buch-Bestseller.
Von Cornelia Mayrbäurl
Während der letzten zwei Monate des Experiments küsste ihn seine Frau nicht mehr. Der Bart von A. J. Jacobs war zu groß und zu dicht geworden. Doch das war bei weitem nicht die gravierendste Folge des Selbstversuchs eines säkularen, agnostischen New Yorker Juden. Jacobs nahm sich vor, ein Jahr lang alle Regeln zu befolgen, die die Bibel Gläubigen auferlegt. Sie nur aufzulisten, war schon ein schönes Stück Arbeit: Jacobs, im Brotberuf ausgerechnet Redakteur des Männermagazins „Esquire“, verglich verschiedene Ausgaben der Bibel, las sie von vorne bis hinten durch und erstellte eine 72 Seiten lange Liste mit 700 Regeln. Er lässt, siehe oben, seinen Bart ungestutzt (Leviticus 19,27) und konsultiert einen ultrareligiösen Textil-Tester (Leviticus 19,19), um das Tragen von Mischgewebe aus Wolle und Leinen zu vermeiden. Er bemüht sich, die zehn Gebote ernst zu nehmen („Du sollst neben mir keine anderen Götter haben“, Exodus 20,3) und hofft: „Wenn ich mich monatelang wie ein gläubiger, gottliebender Mensch verhalte, werde ich vielleicht irgendwann ein gläubiger, gottliebender Mensch. Darum will ich Gott jetzt bitten. Aber ich habe mein Lebtag noch nie gebetet. Verstoße ich gegen das dritte Gebot, den Namen des Herrn nicht zu mißbrauchen, wenn ich die heiligen Worte noch nicht glaube, die ich jetzt spreche?“
Auch wenn Jacobs’ Hoffnung nur bedingt aufgegangen ist, so hat sein Selbstversuch doch ein gutes Ergebnis gebracht, nämlich das Buch „Die Bibel & ich“. Anders als man erwarten könnte, geht der Männermagazin-Redakteur darin nicht auf die Fundamentalisten los oder macht sie lächerlich. Dennoch erlaubt er es sich auch immer wieder einmal, satirisch zu sein. „Die Bibel & ich“ spiegelt Jacobs’ Herangehensweise an dieses anstrengende Experiment wider: neugierig, ohne Arroganz, ernsthaft, aber mit der Fähigkeit, sich zu wundern und zu lachen, auch über sich selbst. Vielleicht auch in dem Moment, als Jacobs mit der Absicht in den Central Park geht, Ehe- und Sabbatbrecher zu steinigen (Leviticus 20, 27). Immerhin kann er sich dazu zwingen, den Sündern ein paar leichte Kieselsteine auf die Schuhe zu werfen – schließlich sagt die Bibel nicht, wie groß die Steine sein sollen.
Alle Regeln gleichzeitig einzuhalten, erweist sich sehr schnell als unmöglich. Denn „sie betreffen sämtliche Aspekte meines Lebens – wie ich sprechen, essen, baden, was ich anziehen und wie ich meine Frau umarmen soll“. So nimmt sich Jacobs – ein Enddreißiger, der einen kleinen Sohn hat und dessen Frau nach einer künstlichen Befruchtung Zwillinge erwartet – vor, an jedem Tag sich auf eine Vorschrift besonders zu konzentrieren. Um die richtigen Prioritäten zu setzen – die genauen Vorschriften des Alten Testaments für Tieropfer stellt er zum Beispiel zurück – zieht Jacobs auch einige religiöse Autoritäten als Berater heran. Zwar sagt Herr Berkowitz, der TextilTester, zunächst, alle Gebote seien gleich wichtig. Aber dann räumt er doch ein, dass es schlimmer ist, einen Mord zu begehen, als eine unkoschere Jacke zu tragen. Auf die naheliegende Frage, warum es Gott wichtig sein soll, dass wir keine Woll-Leinen-Mischung tragen, hat er keine Antwort. Diese Regel ist chukim – ein Gebot der Thora, dessen Sinn wir mit unserer begrenzten menschlichen Auffassungsgabe nicht erkennen können. Für den linksliberalen Großstadtindividualisten A. J. Jacobs ist es ein großer Brocken: Akzeptieren zu müssen, dass das eigene Verhalten nicht unbedingt eine rationale Basis hat bzw. braucht: „Manche sagen gar, es sei wichtiger, den unerklärbaren Regeln zu folgen, denn das zeigt, dass du dich verpflichtet fühlst, dass du tief gläubig bist.“
Am Tag 31 des Experiments, an dem der erste Monat des biblischen Lebens endet, nimmt sich Jacobs zum ersten Mal die Vorschrift „Stoßt in die Posaune am Neumond“ (Psalmen 81,3) vor. Im Shop des jüdischen Gemeindezentrums hat er ein Widderhorn um 30 Dollar gefunden, in das er bläst. Sein Bart ist mitterweile schon beträchtlich. Etwas später wird Jacobs beginnen, ausschließlich weiße Kleidung zu tragen (Kohelet 9,8). Am Tag 95 versteht er, dass ihn manche Leute in der U-Bahn komisch ansehen: „Ich sah mich heute in den Spiegelund stellte offiziell fest: Ich bin zu jemandem geworden, den man vermeiden will und dessentwegen man die Straßenseite wechselt.“
Doch gerade in den USA gibt es ja jede Menge Platz für religiöse Splittergruppen. So lässt Jacobs immer wieder mal Manhattans Upper West Side hinter sich und besucht die Amisch in Kentucky und die evangelikalen Kreationisten, einen konservativen Fernsehprediger in einer Mega-Kirche und die Sekte der Schlangenaufheber in Tennessee. Seine Skepsis diesen Gruppen gegenüber bestätigt sich, aber nicht immer auf der ganzen Linie.
Als besonders schwierige Übung erweist sich die Vermeidung wollüstiger Gedanken, wie sie das Buch der Sprichwörter empfiehlt. Nach 38 Jahren eines konsequent säkularen Lebens will es A. J. Jacobs nicht in den Kopf, dass Sexualität sündhaft sei. Und er sieht sich an allen Ecken und Enden mit Versuchungen konfrontiert. Für „Esquire“ muss er zu einer Modenschau, die furchtbar sexy ist. Da helfen zwei Tipps seiner spirituellen Consultants: „Man redet sich ein, bei der fraglichen Frau ohnehin keine Chancen zu haben“ und zweitens: „Stellen Sie sich die Frau als Ihre Mutter vor.“
Die Versuchung lauert überall. Als er auf der Website Yahoo die aktuellen Börsenkurse checken will, lacht ihm ein blondes Model in einem tief ausgeschnittenen Kleid entgegen, das lustvoll am Bügel ihrer Brille knabbert, „vom jüngsten Aktienindex offenbar erregt“. Jacobs durchsucht auch die eigenen vier Wände und verklebt alles, was seine Libido anregen könnte, mit schwarzem Klebeband: die Geisha auf der Teeschachtel, die fesche Köchin auf dem Rücken eines Kochbuchs, das ansehnliche und breit zur Schau gestellte Dekolleté einer Freundin seiner Frau auf einem Hochzeitsfoto. Um gefahrlos einen Film ansehen zu können, wird er Mitglied beim Online-Verleih Clean Flicks („Saubere Streifen“) aus Utah, der komplett von Sex und Gewalt bereinigte Hollywood-Filme anbietet. Unterm Strich jedoch, stellt Jacobs fest, ist das alles kontraproduktiv: Er dachte erst recht mehr über das nach, was ihm nun verborgen blieb, als hätte er alles unzensuriert über sich ergehen lassen.
Die Familie bleibt von all dem nicht unberührt. Söhnchen Jasper bekommt seine biblische Lektion, als er bei Starbucks mehr als einen Strohhalm nehmen will. Schließlich heißt es in Exodus 20,15: „Du sollst nicht stehlen.“ Aber fällt das überhaupt unter Diebstahl? Oder darf man bei einem multinationalen Konzern, der nicht in Gefahr ist, pleitezugehen, eine Kleinigkeit mitgehen lassen? Nachdem Jasper eine Zeit lang geschrien, getobt und seinen Arm in Richtung der Strohhalme gereckt hat, gibt ihm sein Vater als Beruhigungsmittel eine Serviette, die der Kleine dann zerfetzt.
Zu einem klaren Schluss kommt Jacobs, was seine Einschätzung der unterschiedlichen religiösen Strömungen betrifft. „Das Jahr hat mir jenseits aller Zweifel gezeigt, dass sich alle in der Religion wie im Selbstbedienungsrestaurant bedienen. Nicht nur die Moderaten. Auch die Fundamentalisten. Sie schaffen es nicht, alles auf ihren Teller zu nehmen.“ Denn sonst würden sie ja Frauen aus der Kirche hinauswerfen, weil sie „Hallo“ sagen („… sollen die Frauen in der Versammlung schweigen; es ist ihnen nicht gestattet zu reden. Sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz es fordert“, 1 Korinther 14,34), und Männern einen Stiefeltritt geben, weil sie sich über die „Tennessee Titans“ unterhalten („Auf alles, was ich euch gesagt habe, sollt ihr achten. Den Namen eines anderen Gottes sollt ihr nicht aussprechen, er soll dir nicht über die Lippen kommen“, Exodus 23,13). Für eine gesunde spirituelle Ernährung empfiehlt Jacobs, „die richtigen Gerichte auszuwählen. Du musst die nahrhaften nehmen (Mitgefühl), die gesunden (Liebe deinen Nächsten) und nicht die bitteren. Religiöse Autoritäten wissen nicht alles über jedes Essen, aber die guten können dich vielleicht zum dem hinführen, das frisch ist.“
Sich selbst sieht er schlussendlich als einen reverenten Agnostiker: „Ich glaube nun, dass, ob es einen Gott gibt oder nicht, so etwas wie Heiligkeit existiert. Das Leben ist heilig. Der Sabbat kann ein heiliger Tag sein … Und ich werde weiterhin Dankgebete sprechen. Ich bin nicht sicher, wem ich danke, aber ich bin süchtig nach dem Akt des Dankens geworden“, schreibt er und verweist auf das überlange Kapitel „Danksagungen“ am Ende des Buches.
Seine Frau spricht Jacobs in einem Interview über das Buch übrigens heilig. Zwar habe ihr wohl gefallen, dass er toleranter und nachdenklicher geworden sei. Die Vorschriften im Alten Testament über menstruierende Frauen sind aber streng: Nicht nur darf der Mann die Frau dann nicht berühren, es ist auch verboten, auf einem Stuhl zu sitzen, den sie zuvor benützt hat. „Meine Frau fand das beleidigend und benützte jede Sitzgelegenheit in unserer Wohnung. Die meiste Zeit des Jahres habe ich stehend verbracht.“
Und der Bart? Am Ende fiel er, und A. J. Jacobs verwahrt ihn nun als Souvenir in einem Plastiksack unter dem Waschbecken. Wäre der Verleger nicht dagegen gewesen, hätte er den ersten hundert verkauften Büchern ein Büschel Barthaare beigelegt.
A. J. Jacobs:
Die Bibel & ich
Von einem, der auszog, das Buch der Bücher wörtlich zu nehmen.
Ullstein Verlag, Berlin 2008
418 Seiten, 19,90 Euro