Ich sehne mich nach Dir, Jude!

Der polnische Aktionskünstlers Rafal Betlejewski nimmt mit ungewöhnlichen Methoden den Kampf gegen den Straßen-Antisemitismus in seiner Heimat auf.
Von Herbert Voglmayr

Dort, wo sonst antisemitische Graffiti wie „An den Galgen, Jude!“ oder „Ab ins Gas, Jude!“ zu finden sind, steht plötzlich in unübersehbar großen Lettern „Ich sehne mich nach Dir, Jude!“ (Tesknie za Toba, Zydzie!), und das auf Hunderten von Mauern in ganz Polen. Manche Passanten bleiben stehen, drehen sich irritiert und ratlos um, fragen allenfalls andere Passanten: „Ist das antisemitisch oder nicht?“. Sie können sich nicht erklären, wie dort, wo sonst andere Graffiti die Juden an den Galgen wünschen, plötzlich der seltsame Satz steht: „Ich sehne mich nach Dir, Jude!“.

Um diesen Satz herum inszeniert der polnische Aktionskünstler Rafal Betlejewski eine außergewöhnliche Kunstaktion im öffentlichen Raum, die ein Jahr lang dauern soll. Er sprayt den Satz auf Mauern und Hauswände, um sich damit gegen den grassierenden Antisemitismus zu wenden und die Leere zu thematisieren, die die Vernichtung der Juden in der polnischen Gesellschaft hinterlassen hat. Neben dem Satz auf den Mauern, den er meistens nachts und ohne Erlaubnis dorthin sprayt, stellt Betlejewski an verschiedenen Orten Polens, die eng mit der Geschichte der Juden verbunden sind, einen leeren Stuhl mit Lammfell und Kippa auf, um Leuten die Möglichkeit zu geben, sich daneben fotografieren zu lassen. Witold Weszczak, ein Teilnehmer der Fotoaktion, sagt: „Ich bin hier, weil ich den Verlust der Juden für Polen spürbar empfinde.

Ich interessiere mich seit längerem für ihre Geschichte und sehe, wie nah diese Menschen mir wären, die noch vor 70 Jahren hier gelebt haben. Aber heute gibt es von ihnen keine Spur mehr. Ein Zeichen dafür ist der Friedhof, auf dessen Überresten heute ein Schrottplatz steht.“

Der 41-jährige Betlejewski kann sich nicht erinnern, in seiner Kindheit oder Jugend je von Juden gehört zu haben. Selbst auf dem obligatorischen Schulausflug nach Auschwitz war ihm nur von Polen als Nazi-Opfern erzählt worden. „Wir verbinden das Wort ‚Jude‘ fast ausschließlich mit den antisemitischen Graffiti“, erzählt er, „außerdem mit antisemitischen Witzen und der Überzeugung, dass ‚die Juden‘ zu viel Einfluss in den Medien hätten und ständig über den Holocaust jammerten.“ Mit der Zeit habe das Wort „Jude“ eine so negative Konnotation angenommen, dass sich kaum noch jemand traue, das Wort nur auszusprechen. Man wolle ja nicht als Antisemit gelten. So habe er sich entschlossen, die Angst zu überwinden und als Medium für seine Aktion nicht die Presse, die Leinwand oder die Dichtung zu wählen, sondern einfach eine Mauer, um sein Anliegen für alle wahrnehmbar zu machen und „weil in Polen eine Mauer mit der Sprache des Hasses, des Nationalismus und Chauvinismus, einer Sprache der Aggression in Verbindung gebracht wird. Ich dachte mir, das ist das ideale Medium, um das Gegenteil der Aggression auszudrücken.“

Während viele ratlos vor den Graffiti stehen, melden sich immer mehr Polen bei Betlejewski, um sich neben dem leeren Stuhl fotografieren zu lassen, oft vor Häusern, in denen vor dem Krieg Juden lebten. Auf der Website www.tesknie.com hinterlassen immer mehr Polen ihre Fotos und persönlichen Erinnerungen an Juden aus der Nachbarschaft. Betlejewski sagt, er erhalte vor allem positive Reaktionen. „Viele Menschen aus ganz Europa schrieben Briefe an mich, in denen sie sagten, dass sie auf dieses Bekenntnis gerade eines Polen gewartet haben.“ Es gebe aber auch, gerade in der anonymen Sphäre des Internet, negative und antisemitische Reaktionen. Auf diese Idee müsse man erst einmal kommen, lobt Piotr Kadlcik, der Vorsitzende des Jüdischen Gemeindebundes, und fügt hinzu: „Betlejewski geht ein großes Risiko ein.

Es gehört Mut dazu, den Kampf mit dem Straßen-Antisemitismus aufzunehmen. Diese Aktion spricht auch Leute an, die in kein Museum gehen, die keine Bücher und keine Zeitungen lesen. Und das sind in Polen sehr viele Menschen.“ Bella Szwarcman von der jüdischen Kulturzeitschrift „Midrasz“ hingegen ist skeptisch: „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich selbst würde einen solchen Satz niemals sagen. Mir sind solche Sätze fremd.“ Dennoch hält auch sie dem Künstler zugute, das Wort „Jude“ aus der antisemitischen Schmuddelecke holen zu wollen. „Ob Straßengraffiti der richtige Weg sind, weiß ich nicht. Man muss abwarten, ob sich die Antisemiten einfach so ihre Wände wegnehmen lassen.“

Positiv äußert sich auch der polnisch- jüdische Publizist Konstanty Gebert, der 1978 einer der Hauptorganisatoren der „Fliegenden Universität“ war, die im Untergrund Seminarreihen in Privaträumen abhielt, vor allem auch zu Themen, die im offiziellen Hochschulbetrieb nur in zensierter Form behandelt wurden. Er meint, dass die Polen bis heute nicht das Bewusstsein dafür haben, was der Holocaust war, insbesondere dafür, wie sehr er sich von den tatsächlich großen Leiden des polnischen Volkes unterscheide, und dass die Polen bis heute den Juden nicht verzeihen können, dass sie mehr unter den Nazis gelitten haben als sie selbst. Diese Rivalität der Opfer verdunkle die Möglichkeit einer rationellen Betrachtung. Betlejewskis Spruch an der Mauer irritiere deshalb so sehr, weil es im polnischen Bewusstsein neben dem Gefühl der Schuld und Scham auch ein Gefühl gebe, dass Wesentliches fehlt. „Polen hat tatsächlich vieles verloren. Das sieht man auch an Reaktionen auf die Aktionen von Betlejewski. Neben den antisemitischen Kommentaren zeigen Hunderte von Menschen ihre Sehnsucht. Ja, sie haben wirklich eine Sehnsucht. Es fehlt etwas. In der Medizin gibt es dafür die Bezeichnung des Phantomschmerzes. Man nimmt einem die Hand ab und sie schmerzt weiter. Polen leidet an seinem jüdischen Phantomschmerz.
Und es ist gut so.“

Betlejewski ist nicht der erste Künstler, der an das pulsierende jüdische Leben in Polen zu erinnern versucht, wo heute nur mehr eine verschwindend kleine jüdische Minderheit lebt – nach der Shoa und nachdem die kommunistische Führung 1968 die restlichen Juden in die Emigration zwang, weil sie „die Zionisten“ für das Desaster der Planwirtschaft verantwortlich machte. Bisherige Kunstaktionen dieser Art gingen aber ins Leere. Betlejewskis emotionales Bekenntnis mobilisiert zum ersten Mal eine größere Zahl von Menschen, sich darüber Gedanken zu machen, ob in dem Ort oder in dem Haus, wo man wohnt, Juden gelebt haben könnten. Die Kunstaktion, die am Holocaust-Gedenktag (27. Jänner) begann, soll bis zum Holocaust-Gedenktag 2011 dauern.

www.tesknie.com

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