Airan Berg über seine sechs Jahre als künstlerischer Geschäftsführer des Wiener Schauspielhauses und die Frage, ob es so etwas wie „jüdisches Theater“ überhaupt gibt.
Von Thomas Trenkler (Text) und Nick Mangafas (Fotos)
NU: Auch wenn du als Figurentheatermacher und Festivalleiter ein Begriff warst: Es schien schon ein mutiger Schritt des damaligen Kulturstadtrats Peter Marboe, dir die Leitung des Schauspielhauses zu übertragen – zusammen mit Barrie Kosky, der völlig unbekannt war.
Berg: Absolut! Aber die Besetzung eines Theaters muss ein mutiger Schritt sein. Denn Theater ohne Mut ist langweiliges Theater. Das Gleiche gilt auch für die Politik. Doch so unbekannt war Barrie nicht: Er hatte immerhin das Adelaide Festival geleitet! Ich habe ihn in einer Garage in Melbourne entdeckt, als er mit 24 Jahren den „Dibbuk“ inszenierte. Damals schon dachte ich mir: Diesen Mann muss ich nach Europa bringen!
Und jetzt inszeniert Barrie Kosky allerorts. Susanne Moser, eure kaufmännische Leiterin, ist Geschäftsfüh-rerin der Komischen Oper in Berlin – und du bist für die darstellende Kunst im Kulturhauptstadtjahr 2009 in Linz verantwortlich. Das Schauspielhaus war ein Sprungbrett. Was zeichnet euch eigentlich aus?
Eine Mischung aus Besessenheit, Weitsichtigkeit, Konsequenz. Wir waren von Anfang an überzeugt, dass unser Programm richtig ist – trotz der Kritik. Nur weil es abschätzig hieß, das Schauspielhaus macht „Multikulti“, haben wir nicht klein beigegeben und uns gesagt: „Na dann machen wir lieber wieder österreichisches Theater.“ Die Welt ist eben vielfältig. Ich möchte nicht jeden Tag Wiener Schnitzel essen – abgesehen davon, dass es nicht koscher ist. Ich esse auch gerne Sushi, Curry, Falafel und Borschtsch. In Österreich sieht man in der Vielfalt oft eine Gefahr. Aber Vielfalt ist Reichtum: Sie ist bereichernd. Und das haben wir erfolgreich vermittelt. Ich glaube, dass kein anderes Haus einen derart intensiven Dialog mit dem Publikum geführt hat wie wir. Unsere Werbelinie mit seiner speziellen Ästhetik und der assoziativen Umsetzung der Themen war wohl die auffälligste Kampagne aller Theater in der Stadt. Da wurden Phantasien ausgelöst. Unser Theater hat alle Sinne angesprochen, es hat sich nicht in die Diskussion eingelassen, ob es ein Sprech- oder Musik- oder Installationstheater ist. Es war Theater für den Intellekt wie für die Gefühle.
Obwohl man euch gerne in ein „Kasterl“ gesteckt hätte: Man fragte sich, ob das Schauspielhaus ein interkulturelles Theater ist oder ein jüdisches …
Wobei ich gar keine Ahnung habe, was ein jüdisches Theater sein soll. Ich weiß, was ein jiddisches Theater ist, weil es die jiddische Sprache benutzt. So wie es eben ein deutschsprachiges Theater gibt. Aber ein jüdisches Theater? Ist Shakespeare jüdisches Theater, wenn das Stück von einem Juden inszeniert wird? Und ein Theater, das sich mit jüdischen Themen beschäftigt, ist auch kein jüdisches. Weil auch Menschen, die keine Juden sind, sich mit jüdischen Themen beschäftigen – wie zum Beispiel Peter Turrini in seinem Stück „Jedem das Seine“, das Michael Sturminger vor wenigen Monaten in Klagenfurt zur Uraufführung gebracht hat.
Bei euch multipliziert sich das aber: Barrie Kosky hat sich als Jude mit jüdischen Themen, jüdischem Humor – zum Beispiel in „Dafke!!“ – und mit jüdischen Autoren, darunter Franz Kafka, beschäftigt. Und du hast in „Jerusalem, mon amour“ die Missverständnisse zwischen Juden und Palästinensern aufzuarbeiten versucht.
Das ist kein jüdischer, sondern ein israelisch-arabischer Konflikt. Das ist ein großer Unterschied! Auch Barrie hat kein jüdisches Theater gemacht: Wir eröffneten das Haus im Herbst 2001 mit Euripides! Und die allerletzte Premiere meiner Direktionszeit waren „Die Troerinnen“ – ebenfalls von Euripides. Oder: „Der Familientisch“ von David Maayan geht es um Spurensuche. Auch das ist nichts Jüdisches. Ich habe einmal mit dem wunderbaren Dramaturgen und Theaterhistoriker Shimon Levy darüber diskutiert. Und er sagte: „In einer gewissen Art und Weise haben die, die behaupten, dass ihr jüdisches Theater macht, Recht. Aber anders, als sie denken. Denn das, was ihr macht, entspringt dem Geist des säkularen Judentums, diese nach allen Richtungen hin offene, liberale, interkulturelle, multisprachige Haltung, die versucht, eine andere Sicht auf die Probleme zu geben. Das ist das Jüdische an deinem Theater.“ Und damit kann ich leben. Weil es mit einem Weltbild zu tun hat. Aber ich bin sicher, dass es auch Nichtjuden mit einem solchen Weltbild gibt.
Damit dürftest du dich aber im Widerspruch zu Warren Rosenzweig befinden: Er will im Nestroyhof „jüdisches Theater“ realisieren.
Mazel tov! Ich glaube, dass es nur sinnvoll ist, gutes Theater zu machen. Und als Jude kann ich das sagen: Ich habe eine Ghettoallergie. Ich mag keine – auch frei gewählte – Ghettoisierung. Ich fand es viel besser, dass sich das Schauspielhaus auch mit jüdischen Themen beschäftigt hat. Nicht weil es jüdische, sondern weil es auch Wiener Themen sind. Die Wiener Kultur wurde schließlich stark von Juden geprägt. Oder ein anderer Aspekt: Es war spannend, Barrie nach Wien zu holen, also jemanden, der seine Wurzeln in Europa hat und den die Diaspora auf die andere Seite der Welt verschlagen hat. Die Rückreise nach Europa war für ihn wirklich eine Heimkehr! Und wenn du ein guter Künstler bist, dann arbeitest du natürlich deine Themen auf. Was Barrie gemacht hat, war daher nicht jüdisches Theater, sonder Koskys Theater. Seine „Medea“ war eigentlich ein Stück über seine Ankunft. Er kam als Fremder – und sah Wien von außen. Das war auch der Grund, warum wir mit internationalen Künstlern gearbeitet haben: Weil der Blick von außen manchmal schärfer, analytischer ist. Und bei all den internationalen Koproduktionen haben wir eines nie vergessen: Theater ist etwas Lokales. Es muss auch mit dem Publikum hier zu tun haben.
Das Schauspielhaus wird nun unter Andreas Beck seine Ausrichtung ändern: zurück zum Autoren- und Ensembletheater.
Das ist schon in Ordnung. Es wäre komisch, wenn jemand, der ein ganz anderes Leben geführt hat als ich, versuchen würde, das zu tun, was ich aus Überzeugung gemacht habe. Das kann nur scheitern. Es ist viel besser, wenn Andreas Beck seine Linie verfolgt. Er ist ein hochbegabter Dramaturg, er kennt viele gute Regisseure. Und er pflegt eine wirklich ernsthafte Auseinandersetzung mit jungen Autorinnen und Autoren. Viele meiner Kollegen in Wien scheitern, weil sie seit Jahrzehnten das Gleiche machen – und nicht bemerken, dass sich die Zuschauer, die Lebensge-wohnheiten geändert haben. Theater muss sich auch mitverwandeln: nicht opportunistisch, aber bewusst. Denn wenn wir, die Theatermacher, die Veränderungen in der Gesellschaft nicht widerspiegeln, wer dann? Das war auch der Grund, warum ich die „Entführung aus dem Serail“ gebracht habe – auf Türkisch. Mir war immer wichtig, niemanden auszugrenzen. Alle Menschen sollten das Gefühl haben, es gibt einen Ort für sie. Wir haben daher auch Simultanüberset-zungen in Gebärdensprache angeboten, Projekte für Sehbehinderte ge-macht und die Aktion „Hunger auf Kunst und Kultur“ ins Leben gerufen.
Mit dieser Aktion, die Mittellosen einen über Sponsoren finanzierten Gratisbesuch ermöglicht, hast du österreichweit Nachahmer gefunden.
Obwohl wir nicht missionarisch unterwegs waren! Aber es freut mich, weil es zeigt, dass wir etwas Richtiges gemacht haben. Es ist ein Projekt für alle, die kein Geld haben – aus welchem Grund auch immer. Diese Leute werden nicht stigmatisiert, sie kommen, weil sie Teil unserer gesellschaftlichen Rituale sein wollen. Es heißt immer: „Kultur ist Luxus.“ Aber das stimmt nicht. Kultur ist Teil dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein.
Du projektierst bereits das Programm für das Kulturhauptstadtjahr. Da du auch „Events“ bringen musst: Kann du deine Wiener Erfahrungen einbringen?
Davon bin ich überzeugt. Ich glaube, eine meiner Stärken ist es, Begabungen in anderen Kulturkreisen zu entdecken. Eine der besten Produktionen, die wir gezeigt haben, waren die „Township Stories“ in der Regie von Mpumelelo Paul Grootboom aus Südafrika. Sie haben uns ein Bild von einer Welt vermittelt, die uns fremd ist. Österreich ist ein Bergland: Es gibt eine große Angst vor dem, was hinter dem Berg liegt. Aber ich wurde am Mittelmeer geboren: Mein Horizont war ein viel weiterer. Und den vermisse ich hier. Ich muss mir daher einen künstlichen weiten Horizont schaffen: im Theater. Für Linz kann ich nun eine phantastische theatralische Reise konzipieren, die ein Jahr lang dauert – mit Möglichkeiten, die ich nie zuvor hatte. Es gibt nur ein Problem: Ich darf die erste Spielzeit nicht vergeigen. Denn ich habe nur eine Chance. Die Stimmung in Linz ist extrem positiv: „Wir sind Kulturhauptstadt!“ Das heißt, ich habe die Möglichkeit, Menschen, die noch nie im Theater waren, ins Theater zu locken. Dadurch entsteht hoffentlich Nachhaltigkeit. Ich muss also den Menschen am Anfang des Jahres die richtigen Schlüssel in die Hand geben: Damit sie das Theater dekodieren können. Daher wendet sich mein Programm anfangs bewusst nicht ans Feuilleton. Und am Ende des Jahres kann ich den Linzern vielleicht etwas anderes servieren.
Danke für das Gespräch.
Aber das Beste hab ich doch noch nicht gesagt! Hitler wollte, dass Linz die Kulturhauptstadt des Deutschen Reiches wird. Ich finde es eine gute Entwicklung, wenn ein Jude aus Tel Aviv die Europäische Kulturhauptstadt programmiert.