Sie ist dreißig Jahre jung, stimmgewaltig und selbstbewusst: Die Israelin Shira Patchornik ist auf dem Sprung zur ganz großen Karriere. In Wien war die Sopranistin zuletzt in Händels „Messiah“ zu hören, im Sommer wird sie bei den Bregenzer Festspielen auftreten.
Von René Wachtel (Text) und Ouriel Morgensztern (Fotos)
Was wäre geeigneter, um eine junge Sängerin aus Israel zu treffen, als das Hotel Imperial gleich hinter dem Musikverein, neben dem Konzerthaus und nur ein paar Schritte von der Wiener Staatsoper entfernt? Hier verabrede ich mich also mit Shira Patchornik, die soeben in einem bunten Daunenmantel zur Tür hereinschneit. Mode, wird sich im Laufe unseres Gespräches herausstellen, ist der quirligen Sängerin mit der roten Lockenmähne wichtig, „es drückt auch meine Wertschätzung gegenüber anderen Menschen aus, dem Anlass entsprechend gekleidet zu sein.“ Stylistin hat sie keine, ihre Kleider für ihre Soloabende sucht sie sich selber aus – und zwar bevorzugt in Second-Hand-Läden und Vintage-Stores.
Das Gespräch führen wir auf Wunsch von Shira Ptachornik auf Deutsch. Die 30-jährige Israelin lebt seit einiger Zeit in Deutschland, die Landessprache zu beherrschen, ist ihr wichtig. Eigentlich kam sie nur nach Leipzig, um Gesang zu studieren; doch dann hat sie sich in den sächsische Boomtown der Kreativszene verliebt: „Leipzig ist die perfekte Mischung, eine große Stadt, viel grün, viel Kunst, alternative Menschen und viel Jugend!“ Dass sie aber jetzt wirklich dort sesshaft wäre, will sie freilich nicht behaupten, „als Künstlerin bin ich ständig unterwegs. Ich bin vielleicht fünf Wochen im Jahr in Leipzig. Aber meine Wohnung dort ist mein Ruhepol.“ Wobei es durchaus auch vorstellbar wäre, dass sie später einmal Wien zu ihrem Hauptwohnsitz macht. Denn die Stadt sei nicht nur schön, sondern habe einer Künstlerin wie ihr viel zu bieten.
Patchornik ist in Wien bereits des Öfteren aufgetreten, unter anderem im Künstlerhaus und in der Wiener Kammeroper, wo sie 2017 die Gräfin Bandiera in Salieris La Scuola de‘ Gelosi gab. Nur an der Wiener Staatsoper hat sie – „leider!“ – noch nicht gesungen. Langweilig ist ihr trotzdem nicht, Auftritte bei den Bregenzer Festspielen und zuvor in Italien stehen an. Im April singt sie die Pamina in Mozarts Zauberflöte im Teatro Regio in Turin, weshalb sie gerade Italienisch lernt. Und im Mai wird sie ein Konzert bei den Barocktagen Melk geben.
Eine ganz besondere Erinnerung hat sie an das Festival der Alten Musik in Innsbruck, wo sie 2021 die Barockmusik für sich entdeckte und auch heuer wieder zu Gast sein wird. Vor zwei Jahren gewann sie bei dem nach dem Barockkomponisten Pietro Antonio Cesti benannten Wettberwerb sowohl den ersten als auch den Publikumspreis.
Große Reise
Im gleichen Jahr entschied die Barockmusik-Liebhaberin in Rouen in der Normandie auch den Internationalen Concours Corneille für sich. „Barockmusik ist eine komplett neue Erfahrung für mich, sie macht mir unglaublich viel Spaß. Aber natürlich will ich nicht beim Barock stehenbleiben, sondern ich bin offen für wirklich alles. So war auch meine Ausbildung in Israel. Das ist für eine Künstlerin ein sehr kleines Land, daher muss man da alles singen.“
Bereits mit sieben Jahren begann sie im Chor zu singen. „Meine Mutter ist sehr musikalisch. Sie hat zehn Jahre Klavier studiert, ist aber Wissenschaftlerin geworden. Aber sie hat meine Leidenschaft stets voll unterstützt.“ Mit neun ging die kleine Shira zum ersten Vorsingen und ergatterte auch eine kleine Rolle – ausgerechnet in Sound of Music. Mit 14 hatte sie ihren ersten Soloabend in der Tel Aviver Oper, sang als Jugendliche in vielen Opernproduktionen, unter anderem in Leoš Janáčeks Das schlaue Füchslein. „Sogar während meiner Armeezeit in Israel hatte ich Glück und konnte meine Gesangsausbildung fortsetzen. Ich durfte sogar mehrmals ins Ausland zu Aufführungen reisen.“
Trotzdem habe sie mit dem Gedanken gespielt, einen anderen Beruf zu ergreifen. Als 16-Jährige arbeitete sie freiwillig als Notfallsanitäterin. „Ich habe es geliebt! Vielleicht mache ich es ja einmal später. Aber jetzt bin ich freischaffende Künstlerin, und das bedeutet mir sehr viel. Junge Israelis machen nach der Armee ‚die große Reise‘ – meistens gehen sie nach Asien oder Südamerika. Ich habe das nicht gemacht, ich mache die große Reise immer noch als Künstlerin.“
Neue Facetten
Gute Vorbereitung ist der halbe Erfolg, wenn sie zur ersten Probe kommt, hat sie immer schon ein Bild im Kopf. „Aber ich habe kein Problem, mich mit den Vorstellungen des Regisseurs auseinanderzusetzen. Es ist für mich auch immer aufregend und spannend, eine Partie wie zum Beispiel die Suzanna in Le nozze di Figaro, die ich schon öfters gesungen habe, bei einem anderen Regisseur neu zu entwickeln.“ Dieses Jahr hat sie an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf die Gelegenheit, mit einem neuen Regisseur solche neuen Facetten der Susanna zu entdecken.
In den letzten Jahren standen auch etliche Liederabende auf dem Programm, unter anderem mit Michael Schade, „eine einmalige Erfahrung, mit diesem großartigen Tenor zu singen und zu arbeiten“. Und gerade für sie als Israelin sei es besonders aufwühlend gewesen, beim Holocaust-Gedenktag in Turin Das Tagebuch der Anne Frank interpretieren zu dürfen. Es drängt sich die Frage auf, ob sie jemals Antisemitismus in Europa erlebt hat. Nein, sagt sie entschieden, eher das Gegenteil: „Eine Bekannte ist Journalistin in Deutschland, und die fühlt sich schuldig für das, was die Nazis gemacht haben.“
So gern sie – auch aus beruflichen Gründen – in Deutschland lebt, so gern kehrt sie immer wieder in das Land ihrer Großeltern zurück, die Anfang des 20. Jahrhunderts über Russland und Polen nach Israel kamen und zu den Gründerfamilien der Stadt Nes Ziona in der Nähe von Tel Aviv zählen. „Letzten Oktober hatte mein kleinerer Bruder Bar Mizwa, es war wunderschön, mit der Familie und den Freunden zu feiern. Und obwohl ich nicht religiös bin, ist Jom Kippur in Israel der schönste Feiertag. Das ganze Land ist ruhig, man kann auf der Autobahn mit dem Fahrrad fahren oder skaten. Das ist einzigartig, das gibt es nur in Israel.“
Unser Gespräch neigt sich dem Ende zu, als ihr Freund, ein Cembalospieler, zu uns stößt. „Da er die Barockmusik kennt und liebt, kann er mir bei meinen Vorbereitungen viel Input geben, das ist wunderbar.“ Sagt’s und ist wieder unterwegs. Diesmal mit ihrem Freund zum Mittagessen.