Hannah Lessing leitet seit 1995 den Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Aufgabe, die sie mit 30.000 Leidensgeschichten konfrontiert, ihr aber auch tausende berührende Danksagungen einbringt.
Von Peter Menasse
Das Interview mit Hannah Lessing kann nicht gleich beginnen. In der ersten halben Stunde finde ich keine Aufmerksamkeit. Die gehört ganz allein unserem Fotografen Peter Rigaud und einem Gespräch über seinen berühmten Berufskollegen Erich Lessing. Ob Hannah die Tochter von Erich sei, hatte er mich schon am Telefon gefragt. „Keine Ahnung“, musste ich zugeben, „aber wir werden sie einfach fragen“. Als wir uns an einem sonnigen Oktobermorgen im Dachausbau eines imposanten Wiener Bürgerhauses zum Gespräch tre ffen, wird der berühmte Vater sogleich zum Mittelpunkt einer ausführlichen Reise durch die Welt der Fotografie. Hannah hatte als Kind mehr berühmte Fotokünstler kennen gelernt, als ich auch nur hätte beim Namen nennen können. Also bekomme ich einen Band mit Arbeiten von Erich Lessing in die Hand gedrückt und bin damit deutlich aufgefordert, die Experten nicht weiter zu stören. Hannah erzählt mit leuchtenden Augen von berühmten Fotografen und großen Stars, Peter Rigaud lauscht mit ebenso leuchtenden Augen und schießt Foto über Foto.
Als sie einmal als 14jähriges Mädchen mit Arthur Miller und seiner Begleiterin, der Fotografin Inge Moerath zusammen gestanden war, lautet eine der Geschichten, sei eine auffällige Blondine in einem hautengen, roten Kleid vorbeigegangen. „Jö“, habe sie da gesagt, „die schaut aus wie die Marylin Monroe“, um im nächsten Moment vor Scham zu erröten und betroffen die Frau an Arthur Millers Seite anzuschauen. Die aber sei gelassen geblieben, erzählt Hannah und habe nur gemeint: „Was ist das Problem? Ich habe ja schließlich ihr den Arthur ausgespannt, und nicht umgekehrt“.
Inzwischen ist Hannah Lessing zu einer Frau mit großer Selbstsicherheit geworden, gewachsen an einer Aufgabe, die sie in so tiefe Abgründe blicken lässt, dass sie ohne therapeutische Begleitung nicht zu bewältigen sind, und die ihr andererseits Liebe einbringt, wie sie in dieser Quantität kaum jemandem sonst zu Teil wird.
Seit 1995 leitet sie den „Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus“ und seit kurzem den „Allgemeinen Entschädigungsfonds“. Das Team der ehemaligen Handelsangestellten und Bankbeamtin, die mehrere Sprachen, darunter Englisch, Französisch und Hebräisch beherrscht, umfasst 35 MitarbeiterInnen und 15 WerkstudentInnen. Die Verfolgungsgeschichten von 30.000 Menschen sind in den Archiven des Fonds gespeichert, 30.000 Schicksale von KZÜberlebenden, Spiegelgrund-Opfern, Emigranten, Juden, Roma und Sinti, Homosexuellen, politisch Verfolgten. 30.000 Kapitel der Geschichte der Nazi-Verbrechen auf tausenden und abertausenden Seiten. Und diese Daten mussten erhoben, erfasst, analysiert, bewertet werden.
Hier arbeiten Menschen an der Grenze der psychischen Belastbarkeit. Ständig in Gefahr, vom Grauen verschlungen zu werden, das jede einzelne Lebensgeschichte in sich trägt und das mit der Menge der Geschichten zu einem übermächtigen Ungeheuer wird.
Hannah ist nicht verschlungen worden. „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl gehabt, etwas Sinnvolles zu machen“, erzählt sie über die vergangenen Jahre. Sie habe ein Haus gefunden, einen ihrer Identität zwischen Jüdin und Österreicherin entsprechenden Platz („zwischen Opfer und meiner österreichischen Identitätsschiene“ sagt sie wörtlich dazu).
Nach einer nicht-religiösen Kindheit ist Hannah erst als Zehnjährige gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern der Religionsgemeinschaft des Vaters beigetreten. Von diesem Moment an habe sie sich als Jüdin gefühlt, erinnert sie sich. Und doch ist sie eine Zerrissene zwischen den Identitäten geblieben, die sich in einem Moment „jüdische Österreicherin oder österreichische Jüdin“ nennt, um im nächsten Augenblick diese Zuordnung gleich wieder in Frage zu stellen. Wohl sei beides – Jüdin und Österreicherin – möglich, wenn man religiöse und politische Identität trenne, aber es fielen ihr auch keine starken Argumente ein, wenn Andere von kulturellen Unterschieden zwischen Österreichern und Juden sprächen. Jemand habe ihr als Reaktion auf ein Interview geschrieben, dass ihre Definition Nonsens sein, weil Österreicher immer Österreicher, Juden immer Juden blieben und „Juden nie Österreicher sein werden“, und da wäre plötzlich alle Sicherheit verschwunden gewesen und die scheinbar schon beantwortete Frage: „Wohin gehöre ich?“ sei wieder in ihr gewachsen.
Unser Fotograf hat inzwischen nicht aufgehört, Hannah abzubilden, obwohl die Stunde, die er für die Fotos verwenden wollte, längst überschritten ist. Wie ein Taucher, der endlich zurück an der Wasseroberfläche gierig nach Luft schnappt, beginnt Hannah nach jeder ernsten Sequenz ganz schnell wieder zu lachen. Nachdenken, ein paar ernste Sätze und dann die Befreiung. Hinein ins Wasser der Vergangenheit, und wieder heraus, vergnügt, unbeschädigt.
Der Fotograf wartet bis sie wieder ins Erzählen kommt. Von der lachenden Hannah Lessing muss er inzwischen hunderte Bilder im Kasten haben.
Sie erzählt von einer geplanten Reise nach Los Angeles, die sie abgesagt hat. Zu ihrer Flugangst ist jetzt die Angst vor dem Terror hinzugekommen. Nächste Woche wird sie in Israel sein, in Tel Aviv, in Jerusalem und in Haifa. Nein, vor dieser Reise fürchte sie sich nicht, das sei doch eine leider schon gewohnte Situation. Schließlich habe man einfach eine besondere Loyalität zu dem Land, in dem ein Teil der Familie hat überleben können.
Hannah Lessing ist zu einer Botschafterin Österreichs für emigrierte, ehemals hier gebürtige Juden auf der ganzen Welt geworden. Jeder will ihr seine Geschichte erzählen, jeder will einmal von einer offiziellen Ve rt reterin seiner ehemaligen Heimat hören, dass ihm und seiner Familie Unrecht geschehen ist. Und so kommen bei einer Veranstaltung in einem jüdischen Zentrum in der New Yorker 5th Avenue mehr als 900 Menschen zusammen, die nach dem einstündigen Vortrag zwei weitere Stunden lang in einer Schlange warten, um ihre, eigene, ganz eigene Frage zu stellen. „Frau Lessing, wir hatten zu Hause ein Steinway-Piano, wo meldet man dafür die Entschädigungsforderung an?“. „Frau Lessing, eine andere Frage: Wir hatten zu Hause einen Bechstein-Flügel, wie bekomme ich dafür eine Entschädigung?“ 900 alte Leute, 900 Fragen, 900 eigene Schicksale.
Der Nationalfonds hat in den letzten fünf Jahren tausende Briefe von Menschen aus der ganzen Welt erhalten, darunter viele persönliche Schreiben. Es sind dies Liebesbriefe, auch wenn sie oft mit bürokratischen Floskeln eingeleitet werden: „Ich bestätige hiermit den Betrag erhalten zu haben“, „ich bestätige den Erhalt der Überweisung“, „please accept my sincere appreciation“, „ich danke für die rasche Erledigung meines Antrags“, „für den von Ihnen angewiesenen Betrag danke ich sehr“. Immer aber gibt es dann den zweiten Absatz, der von den tiefen, bleibenden Verwundungen zeugt, aber auch voll Liebe auf das Stück Beachtung und Anerkennung verweist, das den Menschen endlich zu Teil geworden ist.
Hannah Lessing ist das personifizierte Objekt dieser Liebe: „Es gibt doch noch gute Menschen auf der Welt“, „Als Jude ist mir der Begriff von Gerechtigkeit sehr wichtig. Österreich ist wieder an der Seite der Engel“, „I do appreciate, that the suffering of my family has not been forgotten“, „… und Sie können mir glauben, dass dies für mich weit über den Geldwert hinaus große Bedeutung hat“, „…
Ihnen ein schönes Leben zu wünschen bis hundertzwanzig, und wenn Sie einmal an die Himmelstür klopfen, nehmen Sie nur ruhig diesen Brief mit“.
Wenn Hannah über die Zuneigung der alten, jüdischen Menschen erzählt, heißt sie in ihren Berichten nicht „Hannah“, sondern „Channele“. Channele hat einem Mann geholfen, nach sechzig Jahren seine Cousine, die einzige überlebende Verwandte wieder zu finden. Channele hat beigetragen, einem Mann den Ring zu übergeben, den seine Mutter 1942 kurz vor dem Abtransport nach Riga einer Nachbarin für ihn zugesteckt hat. Channele hat geholfen, einer Frau in London ihren Silberschmuck wieder zu finden, der in der Nazizeit gestohlen worden war. Es gibt viele berührende Geschichten mit Channele, dem Engel. Ich frage Hannah Lessing, welchen Job sie später einmal ausüben will, wenn die Tätigkeit für den Nationalfonds sein Ende gefunden haben wird.“Gibt es ein Leben nach dem Engel?“
Hannah weiß ausnahmsweise keine Antwort. Sie hat eine so umfassende Identität angenommen, dass eine andere gar nicht mehr vorstellbar ist. Wo sonst kann man die Fähigkeit brauchen, mit Menschen über ihr Schicksal zu sprechen, ohne in das schwarze Loch der Übertragung zu fallen, wo sonst muss man sich „zuwenden“ und gleichzeitig „abgrenzen“, Nähe zeigen, dabei Distanz halten? Wo sonst kann man stolze Österreicherin und stolze Jüdin gleichzeitig sein? Noch muss sie es nicht wissen. Fast täglich kommen Schreiben aus allen Ländern dieser Welt. „Mahalo nui loa“ heißt es in einem Brief aus Hawai. Danke, Frau Lessing, danke Channele.
Unser Gespräch hat mehr als zwei Stunden gedauert. Als ich mich verabschiede, fragt der Fotograf, ob er noch ein wenig bleiben dürfe. Natürlich darf er. Engelsgeduld ist ja sprichwörtlich.