Geschichtsauffrischung für Hamas-Verstehende

Kommentar von Andrea Schurian

Kaum hatte Mitte Oktober die Bombe auf dem Parkplatz eines Krankenhauses in Gaza eingeschlagen, schon sprach die Hamas von bis zu 800 Toten, die Opfer eines israelischen Luftangriffs geworden wären. Auch unser Herr Bundespräsident (UHBP) ixte damals umgehend seinen tiefsitzenden „Schock über die Meldung eines Raketenbeschusses des al-Ahili-Arab-Krankenhauses in Gaza mit hunderten Toten“. UHBP scheint der Terrororganisation Hamas mehr zu glauben als dem Staat Israel, der innerhalb weniger Stunden anhand von Aufnahmen und abgehörten Telefonaten beweisen konnte, dass die Rakete von Dschihadisten aus dem Gazastreifen selbst abgefeuert worden und die Opferzahl überdies deutlich niedriger war. Den Lügen der Hamas sind auch Journalisten aufgesessen. Check-Recheck-Doublecheck ist in Zeiten sozialmedialer Hysterie offenbar aus der Mode gekommen. Anders als andere Medien ließ das österreichische Leitmedium ORF eine eindeutige Klarstellung der Falschmeldung vermissen. Manchmal dauert Nachdenken offenbar länger.
Sechs Tage hat es gebraucht, bis die Muslimische Jugend Österreichs (mjö) auf das Gemetzel in den Morgenstunden des 7. Oktober reagiert hat. „Wir sind sprachlos und bestürzt über die Bilder und Berichte, die uns in den letzten Tagen aus dem Heiligen Land erreicht haben“, veröffentlichte sie am 13. Oktober auf der mjö-Instagram-Seite, eine recht allgemein gehaltene Stellungnahme: „Für das Töten von ZivlistInnen, Unschuldigen, Alten, Frauen und Kindern darf es niemals eine Rechtfertigung geben – weder politisch noch religiös – nicht in Israel und nicht in Palästina. […] Wir stehen unseren Jugendlichen bei, die Familienmitglieder verloren haben und in Sorge um ihre Familien sind, und fühlen mit unseren jüdischen FreundInnen, die Verwandte und geliebte Menschen in der Region haben.“
Eine klare Distanzierung zur Hamas fehlt zwar, aber immerhin fanden die jungen Musliminnen und Muslime tröstende Worte für Jüdinnen und Juden. Nicht so die Sozialistische Jugend Vorarlbergs, die stramm antiisraelische Umsturzfantasien einer marxistischen Plattform teilte. Nach SP-interner Rüge inklusive Parteiausschlüssen legten die Jungsozis nach: Man lehne Ideologie und Methoden der Hamas ab, stelle sich aber klar „gegen die Unterdrückung der Palästinenser durch den israelischen Staatsapparat“. Ähnlich klangen die jungen Kommunisten (KJÖ), die sich mit den „palästinensischen Kampfverbänden“ und deren „Überraschungsangriff auf israelische Militärposten und zionistische Siedlungen“ solidarisch erklärten, denn Israel sei nicht „das Opfer in dieser Situation“. Auch Klimavorkleberin Greta Thunberg postete unter dem Hashtag „Stand with Gaza“: „Die Welt muss ihre Stimme erheben und einen sofortigen Waffenstillstand, Gerechtigkeit und Freiheit für die Palästinenser und alle betroffenen Zivilisten fordern“, ohne auch nur ein einziges Wort über die israelischen Opfer des Terrorüberfalls zu verlieren.
In der „Fridays for Future“-Bewegung seien Antisemitismus und Antiisraelismus weit verbreitet, analysierte der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg, Michael Blume. Dürfte stimmen, denn allzu großer Protest gegen Thunbergs Pro-Gaza-Revolutionspost regte sich in der klimabewegten Szene nicht. Während der Welt am Sonntag-Journalist Frédéric Schwilden auf seine an deutsche Prominente verschickte Bitte um Solidaritätsbekundungen mit Jüdinnen und Juden fast nur Absagen bekam, verurteilten rund 700 Hollywood-Stars in einer gemeinsamen Aussendung einhellig den Terror der radikalislamischen Hamas.
In Großbritannien wiederum unterstützten etwa 2.000 Kunstschaffende, darunter Filmstar Tilda Swinton, auf artistsforpalestine.org.uk die „globale Bewegung gegen die Zerstörung von Gaza“. Auch Österreichs Intelligenzija, die mit Tadel üblicherweise nicht geizt, hat – mit wenigen Ausnahmen wie etwa Michael Köhlmeier und Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek – in den Schweigemodus gewechselt. Kein Pamphlet gegen Hamas-Fahnen-Schwinger, kein Appell an Rotes Kreuz und UNO, sich Zutritt zu den Geiseln zu verschaffen, kein Protest, dass UNRWA-Mitarbeiter im Gazastreifen nichts mitbekommen haben wollen von – mit Hilfsgeldern der USA und EU finanzierten – Raketen- und Bombenbauarbeiten?Dafür sagte Lukas F., Mitglied des Bezirksvorstandes der Sozialistischen Jugend Wien Alsergrund: „Wenn jemand fragt, warum ist alles so grausam, dann gibt es nur eine Antwort: Die Existenz des israelischen Apartheid- und Terrorstaates. Und wenn derjenige wissen will, wie das beendet werden kann, dann indem dieser israelische Terror-, und Apartheidsstaat weg ist!“ Seit jeher wird linker Antisemitismus mit Israelkritik kaschiert.
Tatsächlich waren in Israel die unter „Allahu akbar“-Rufen ermordeten und geschändeten Menschen nicht einmal beerdigt, schon kamen die Versteher und Verharmloser mit Relativierungsprosa und Whataboutismus daher. Wie der Typ im Kaffeehaus. „Na“, sagte er in die Runde und nickte, ergriffen von der Raffinesse seiner Argumentation, selbstgefällig mit dem Kopf: „Wenn wir schon über Terror reden, den gibt’s dort wie da. Weißt eh, wer Dr. Goldstein war?“ Ja, weiß ich eh, Baruch Goldstein war ein jüdischer Rechtsradikaler, der 1994 am Grab des Patriarchen in Hebron 29 Palästinenser tötete. Abgesehen von rechtsextremen religiösen Spinnern verurteilte die überwiegende Mehrheit der israelischen Bevölkerung die Bluttat. Und mit den Worten, er sei als Israeli zutiefst beschämt, erwies der damalige Ministerpräsident, Jitzchak Rabin, dem palästinensischen Volk und dessen Führer, Jassir Arafat, seine Anteilnahme. Ein Jahr später wurde Rabin selbst Opfer eines Attentats. Der religiöse Fundamentalist Jigal Amir erschoss ihn aus Wut über die Osloer Friedensabkommen. Goldstein und Amir: zwei furchtbare Verbrecher, gewiss. „Aber“, fragte ich den Typen zurück, „kennst du auch alle Namen islamistischer Attentäter, die Busse, Bahnhöfe, U-Bahnen, Flughäfen, Zeitungsredaktionen, Konzerthallen, Kaffeehäuser, Synagogen, Kirchen, Menschen in die Luft gesprengt, mit Flugzeugen die Türme des World Trade Center zum Einsturz gebracht, Städte wie London, Paris, Brüssel, Madrid und Kopenhagen ins Chaos gestürzt, Schrecken und Tod auch in Wien verbreitet und die in Israel Babys geköpft, Familien ausgelöscht, junge und alte Menschen gefoltert und getötet haben?“
Ihnen allen täte ein Geschichtsauffrischungsunterricht gut. Denn natürlich kann man über die Siedlungspolitik der letzten Jahre diskutieren – die israelische Zivilbevölkerung tat dies auch und drückte zu Zehntausenden bei riesigen Demonstrationen ihren Unmut aus. Aber die Palästinenser selbst verspielten in den letzten 75 Jahren mehrmals die Gelegenheit eines eigenen Staates. Das erste Mal 1947, als die UN-Generalversammlung die Teilung in einen jüdischen und einen palästinensischen Staat vorsah, mit Jerusalem als internationaler Zone unter UN-Verwaltung. Der gesamte Westen, die in Palästina lebende jüdische Bevölkerung sowie die Jewish Agency stimmten zu, alle arabischen Staaten und die Palästinenser geschlossen dagegen. Auch danach (1978, 2000, 2008) wurden Hoffnungen der Bevölkerung auf einen eigenen Staat nicht zuletzt durch innerpalästinensische Machtkämpfe und Widerstand arabischer Bruderstaaten zunichte gemacht.
Tatsächlich sind es islamistische Terroristen, die den Gazastreifen in ein Freiluftgefängnis verwandelt haben, seit 2005 ist dort kein einziger israelischer Soldat mehr stationiert. „Free Gaza from Hamas“ wäre folglich der einzig adäquate Kampfruf auf propalästinensischen Kundgebungen – und auch für Postings vom UHBP abwärts.
Der sagte vor fünf Jahren, bald werde man alle Frauen auffordern müssen, aus Solidarität ein Kopftuch zu tragen. Jetzt könnte er analog dazu alle Männer auffordern, aus Solidarität mit der jüdischen Bevölkerung eine Kippa zu tragen.Und vielleicht ringt er sich sogar die Feststellung ab, dass Islamismus – ebenso wie Rechtsradikalismus – mit westlichen Werten ganz gewiss nicht kompatibel ist.

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