Wie geht es der kleinen jüdischen Gemeinde im georgischen Tbilisi nach dem georgisch-russischen Blitzkrieg?
Eine Spurensuche von Regina Strassegger (Text und Fotos)
Das alte Viertel von Tbilisi ist morbid und mondän. Wenn es regnet, strahlt die Architektur der Jahrhunderte in Blassgrau. Verleiht sanfte Schwindelgefühle. Die roten Ziegel der Synagoge, das helle, aus dem Heiligen Land stammende Tuffgestein des Chanukka-Leuchters verschwimmen am Regenfenster des Cafés. Die mächtige Skulptur, das neu renovierte Synagogen-Ensemble aus den 1920er Jahren mutieren in ihrer ramponierten, stellenweise sanierten Nachbarschaft zu Wasserzeichen. Der Davidstern, die Kreuze, Halbmonde vermitteln einen Hauch von „Klein-Jerusalem“, nur: Tbilisi hatte mehr Glück. Obwohl diese kaukasische Kulturen-Schnittstelle auch ein Ort wechselnder Fremdherrscher war, gab es hier kaum Liebe zum Hass. Die Georgier haben das Leben immer gefeiert, auch wenn es ihnen übel mitgespielt hat. Und die Gastfreundschaft ist diesem 5,5 Millionen- Volk immer heilig gewesen. Dass dieses, früh von orientalischen Juden besiedelte Land, in dem es nie Pogrome gegeben hat, tausenden Sepharden aus Europa und Aschkenasen aus Russland zur Zuflucht wurde, ist kein Zufall. Zu Blütezeiten hatte die jüdische Gemeinde in der georgischen Hauptstadt bis zu 120.000 Mitglieder. Heute sind es noch 10.000, von denen weniger als ein Fünftel den jüdischen Glauben praktiziert. Die meisten sind in der Hoffnung auf ein besseres Leben seit 1989 nach Amerika oder Israel ausgewandert.
Eigentlich sollte ich seit 50 Minuten bei Rabbi Abimelech Rosenblatt sein. Doch die SMS-Anweisungen meiner georgischen Kollegin lassen mich warten. Sie wollte vor dem Gespräch mit dem Rabbi noch Aktuelles checken. Meinte doch Präsident Saakashvili in der israelischen Zeitung Haaretz: „Wir haben zwei israelische Mitglieder im Kabinett. Sowohl Krieg als auch Frieden ist in Händen von israelischen Juden.“ Jetzt ist die Stimmung in beiden Ländern gekippt. Israelische Medien kritisieren offen Landsleute als rücksichtslose Geschäftemacher im georgisch-russischen Blitzkrieg, die mit ihren Deals sogar nationale Sicherheitsinteressen gefährden. Angesichts dieser und anderer internationaler Kritik lockert auch die georgische Opposition den nationalen Schulterschluss mit der Regierung Saakashvili. Sie hinterfragt mittlerweile auch die offizielle Diktion zum Militärschlag in Südossetien, die besagt: „Georgien musste auf die russischen Provokationen reagieren. Tbilisi ist nur einer lang geplanten Offensive Moskaus gegen die mit dem Westen verbündete Heimat zuvorgekommen.“ Die Propaganda wirkt nicht mehr, vor allem seit die Hoffnung in Amerika den Namen Barack Obama trägt.
Endlich – da kommt Esther*! (*Name von der Redaktion geändert) Die zierliche, resolute Person mit großer Laptop-Tasche gibt ihr Mobiltelefon kaum aus der Hand. Die knapp 30-jährige Jüdin jobbt am freien Markt, hat sich auf politische Hardcore-Storys in Sachen Demokratie und Antikorruption spezialisiert. „Das Ganze ist heavy. Nur so viel vor unserem Termin“, sagt sie knapp: „Die Minister Jakobshvili und Kerzerashvili hängen in der Sache mit drinnen. Der eine ist für Reintegration, der andere für Verteidigung zuständig. Später mehr. Gehen wir.“ Tough, aber top, die junge Dame. Ich will jedenfalls noch wissen, wer Rabbi Rosenblatt ist, welche Rolle die jüdische Gemeinde spielt. Während Esther am Kaffee nippt, ihr SMS checkt, brieft sie mich: „Abimelech Rosenblatt ist sephardischer Herkunft, spricht Russisch und Hebräisch, leitet die 1991 gegründete private Tifereth Zvi-Schule. Er ist um die fünfzig. Und, ja, Rosenblatt ist ein orthodoxer Rabbi, der keiner Frau die Hand reicht. Über Politik spricht er in Rätseln eines Schriftgelehrten.“
Der Weg zum Rabbi führt an der Synagoge vorbei in eine schmale Gasse hinauf zum Festungshügel. An einer weißen Eisentür klingeln wir. Ein schmächtiger Mann mit Bart und Kipa öffnet. Es ist der Rabbi. Unsere Verspätung ist kein Thema. Nur das Gespräch entwickelt sich mühsam. Der Rabbi schaut mir das erste Mal in die Augen, als er sagt: „Fühlen Sie sich nicht persönlich beleidigt, wenn ich bekenne, dass wir in diesem Haus ohne medialen Unrat auskommen. Wir schöpfen unsere geistige Nahrung aus den heiligen Büchern.“ Auf meine Bemerkung, in diesen Büchern steht, Gott wohnt überall, auch im Alltäglichen, antwortet Rosenblatt: „Ja. Das bedeutet aber nicht, dass wir ein und dieselben Dinge mit den gleichen Augen betrachten.“ Konkreter wird der Gottesmann erst, als es um die 82 Schüler zählende Privatschule geht. Der geistlich-weltliche Unterricht findet in Russisch und Georgisch statt, die Prüfungen sind staatlich anerkannt. Finanziert wird Tifereth Zvi hauptsächlich von amerikanischen Sponsoren. Eine spannende Konstellation. Sie wird verständlicher, als Rosenblatt den Oberrabbiner von Tbilisi erwähnt: Rav Ariel Levine. Er wohnt zwar in Israel, pendelt jedoch häufig von dort nach Georgien und in die USA. Teilt sich dieses Dreieck auch in geistliche und weltliche Sphären? Einmal mehr lächelt der Rabbi, antwortet: „Sie sagten doch, Gott ist überall.“ Fragen führen in diesem Dialog zu guter Stimmung, aber kargen Ergebnissen. Vielleicht hilft bitten. Dürften wir in der Synagoge filmen, womöglich, wenn einer der Minister zum Gebet kommt? „Unsere Synagoge bietet Frauen einen Gebetsraum. Ihr Kameramann ist für 10 Minuten im Tempel willkommen. Shalom!“
Esther ist wie die Mehrheit der jüdischen Georgierinnen eine säkulare Jüdin, die sehr gebildet und couragiert ist. Die emanzipierte Frau hat so ihre Probleme mit den streng orthodoxen Riten. Aber sie schätzt die Ironie, die feine Klinge des Rabbis. Unverzeihlich findet die politisch Progressive, wenn orthodoxe Juden fundamentalistisch agieren. „Nimm den frömmelnden Reintegrationsminister Jakobshvili. Der hat während dieses unsäglichen Krieges Militärsendern haarsträubende Interviews gegeben, und meinte, dass Israel stolz sein könnte, georgische Soldaten so exzellent ausgebildet zu haben, wie viele Russen sie täglich getötet, wie viele Panzer sie zerschossen hätten. Völlig grotesk!“ Wie der Minister wohl heute zum Gesagten steht? Das Ministerium für Reintegration liegt neben dem Parlamentsgebäude am Rustaweli Prospekt. Überraschung! Nach wenigen Minuten empfängt die stellvertretende Ministerin Elene Tevdoradze. Die ältere Dame war während der elfjährigen Schewardnadse-Regentschaft eine oppositionelle Menschenrechtsanwältin. In der Vitrine stehen Awards amerikanischer Universitäten. Sehr schön. Aber wie kommen wir zur Sache: Zu den georgisch-israelischen Beziehungen? Ein Zufall kommt zu Hilfe: Am Schreibtisch liegt ein großer Zeitungsartikel mit dem Foto des Verteidigungsministers Kerzerashvili. Der erst 29-Jährige, dessen Vater in Israel lebt, soll gemeinsam mit dem Minister Jakobshvili die Connection zu israelischen Sicherheits- und Söldner-Firmen sowie zur Rüstungsindustrie gelegt haben. Eine zentrale Figur ist der in Israel umstrittene Brigadegeneral Gal Hirsch. Der im Libanonkrieg gescheiterte Falke betreibt seither lukrative Privatgeschäfte im Kriegsbusiness. Die israelische Tageszeitung Maariv spricht von schamlosen Kriegsgewinnlern, beziffert den israelischen Militärexport nach Georgien der vergangenen Jahre auf 300 Millionen Dollar. Der moralischen Empörung wohnt auch Faktisches inne: Die staatliche Israeli Aerospace bangt ob des „georgischen Abenteuers“ um ihre russischen Aufträge.
Ministerin Tevdoradze, deren jüdische Familie mütterlicherseits in Smolensk von einer SS-Einheit ermordet wurde, verfällt in einen strikten Ton: „Die jüngste Geschichte hat gezeigt, dass Georgien und Israel ein gemeinsames Schicksal verbindet. Beide Länder haben es mit gefährlichen Nachbarn zu tun, beide Völker sind Kulturnationen, die für Demokratie, Freiheit und Toleranz stehen. Was soll daran verwerflich sein, wenn sich beide Staaten gegenseitig helfen?!“ Klare Worte aus dem Ministerium für Reintegration – auch ohne den im befreundeten Ausland weilenden Chef.
Es regnet nach wie vor in Strömen. Die Wasserzeichen haben ihren elegischen Zauber verloren. Der Scheibenwischer auf der gesprungenen Windschutzscheibe des Taxis rattert monoton hin und her. Esther sagt leise: „Hast du eigentlich gewusst, dass der Waffenstillstand mit Russland im August angeblich nach einem Anruf eines israelischen Oberrabbiners in Moskau zustande gekommen sein soll?“ Nein! Aber offenbar geschehen Zeichen und Wunder.