Die Juden Marokkos, Tunesiens und Algeriens haben einen bedeutenden Beitrag zum kulturellen Erbe dieses nordafrikanischen Raums geleistet. Die Bewertung der Geschichte sowie des heutigen jüdischen Lebens im Maghreb fällt allerdings differenziert aus.
Mit ihren Songs hat die 37-jährige Neta Elkayam die Herzen vieler Israelis erobert. Netas Songs sind hip in Tel Aviv, ihre Konzerte ausverkauft. Sie ist im südisraelischen Netivot geboren und aufgewachsen. Und sie singt in marokkanischem Dialekt. Neta geht es um die Pflege einer alten Kultur: die Tradition der marokkanischen Juden. Ihre Großeltern sind vor fünfzig Jahren aus Casablanca nach Israel ausgewandert.
Zu dieser Zeit lebten zirka 250.000 marokkanische Juden im Königreich, heute sind es nur noch 2500, vor allem in Casablanca, Fes, Essaouira und Marrakesch. In Tunesien sind es etwa 1500, vor allem in der Hauptstadt Tunis und auf der Insel Djerba gibt es noch sehr aktive und lebendige Gemeinden. Die in maurischem Stil erbaute Ghriba–Synagoge ist ein Touristenmagnet. Im April 2002 verübte Al-Kaida hier einen blutigen Anschlag, ein mit Flüssiggas beladener Tankwagen raste in die Synagoge, tötete 19 Touristen und verletzte 30 Menschen zum Teil schwer. Auch in Algerien bietet sich ein ähnliches Bild: Nahezu alle Jüdinnen und Juden haben das Land verlassen. Nach dem Ende des Algerienkrieges 1962 entzog die Regierung ihnen das Aufenthaltsrecht, da nur moslemische Algerier die Staatsbürgerschaft erhielten; fast alle gingen nach Frankreich, kaum einer nach Israel. In Libyen gab es in den 1940er Jahren noch knapp 40.000 Juden, heute lebt in dem von Bürger- und Bandenkriegen gebeutelten Mittelmeerland kein einziger Jude mehr.
Trotzdem ist die Geschichte der maghrebinischen Juden von einem harmonischen Zusammenleben mit der moslemischen Mehrheitsbevölkerung geprägt, gibt es nur wenige negative Erinnerungen. Die Geschichte der marokkanischen Juden ist dabei so alt wie die jüdische Diaspora selbst: Archäologische Funde weisen auf jüdische Präsenz in der römischen Kolonie Africa hin. Mit der Ausbreitung des Islam im 7. Jahrhundert wird auch im Maghreb das Statut der Dhimmieingeführt, ein Vertrag, der die Juden unter den Schutz des Sultans stellt – allerdings nur unter der Bedingung, dass sie Sondersteuern zahlen. Dieses Institut regelt die Beziehungen der jüdischen Minderheit mit der muslimischen Mehrheitsbevölkerung. Mit Zahlung dieser „Unterwerfungssteuer“ erhielten Juden volle Gemeindeautonomie im Mellah, dem traditionellen jüdischen Viertel in marokkanischen Städten. Man war damit zwar geschützt, jedoch Bürger zweiter Klasse, musste auf Eseln oder Maultieren reiten und außerhalb der Mellahs zu Fuß gehen. In den 1910er Jahren verschwand das Institut der Dhimma, auch die Verpflichtung, in den Mellahs wohnen zu müssen, endete 1912 mit Beginn des französischen Protektorats.
Welt im Wandel
Die kollektive Erinnerung der jüdischen Gemeinden in diesem Raum ist – trotz mancher Entgleisung und sporadischer Gewalt – also positiv konnotiert. Maghrebinische Juden sprachen und schrieben Arabisch. Ihre Poesie, Musik, Literatur, philosophischen und wissenschaftlichen Schriften sind integraler Bestandteil des kulturellen Erbes Nordafrikas. Dies galt auch für die jüdischen Bewohner Andalusiens. Herausragendes Beispiel ist wohl der bedeutendste jüdische Gelehrte des Mittelalters, der Philosoph Rabbi Moshe Ben Maimon aus Córdoba. Die Zeit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gilt vielen maghrebinischen Juden als das „Goldene Zeitalter“ der jüdisch-muslimischen Kohabitation in Nordafrika.
Ab da aber brach für die maghrebinischen Juden eine neue Zeit an. Und die verhieß nichts Gutes. Die orientalische Welt hatte sich geändert, Nordafrika wurde vom aufkeimenden arabischen Nationalismus erfasst, die Ideologie der Umma, des moslemischen Arabiens als nationaler Einheit, drängte die bislang florierenden jüdischen Gemeinden zurück. Doch mit der Gründung Israels 1948 entstand eine neue, sichere Heimat aller Juden. Zeitgleich führte der arabische Angriff auf den jungen Staat zu Spannungen. Die muslimische Mehrheitsbevölkerung sah die marokkanischen Juden als verlängerten Arm der verhassten Zionisten. Am 17./18. Juni 1948 kam es zu Mord und Brandschatzung im Norden des Landes, den Pogromen von Oujda und Jerada. 42 Juden wurden ermordet, 150 schwer verletzt.
Im Laufe der 1950er Jahre begann die jüdische Bevölkerung der Maghreb-Staaten, ihre Länder zu verlassen. Sie kehrten ihrer Heimat den Rücken, „weil sie Angst hatten“, wie es der aus Marokko stammende französische Historiker Georges Bensoussanauf den Punkt bringt. Tausende verließen das Land, emigrierten auf eigene Faust, oft auf abenteuerliche Weise. Ende Jänner 1961 kenterte das Schiff Egoz mit 44 jüdischen Flüchtlingen an Bord an der Nordküste Marokkos und sank. Israel reagierte rasch und rief die vom Mossad organisierte „Operation Jachin“ins Leben, bei der von November 1961 bis ins Frühjahr 1964 insgesamt 97.000 marokkanische Juden von Casablanca aus per Schiff oder Flugzeug über Spanien, Frankreich und Italien nach Israel gebracht wurden. Dieser Massen-Alija lag ein Geheimdeal mit König Hassan II. zugrunde, der dem Königreich Millionen Dollar Einnahmen brachte, um den „Verlust der jüdischen Mitbürger zu verschmerzen“. Weitere Flüchtlingswellen folgten, im Gefolge des Jom-Kippur-Krieges und auch noch später.
Tropfen auf heißem Stein
Die im Gefolge des Arabischen Frühlings neu ausgearbeitete marokkanische Verfassung von 2011 unterstreicht das kulturelle Erbe Marokkos und erwähnt dabei die Juden Marokkos ausdrücklich. „Marokko ist das einzige Land der Welt, in dessen Verfassung das ‚jüdische Erbe‘ verankert ist“, so André Azoulay, einflussreicher Wirtschaftsberater des Königs. Der „arabische Marokkaner jüdischen Glaubens“, wie Azoulay, Vater der UNESCO-Generaldirektorin Audrey Azoulay, sich selbst bezeichnet, entstammt einer alten jüdischen Familie aus Essaouira.
Heute sind die Gemeinden in Marokko lebendig und aktiv. König Mohammad VI. hat die kleinen jüdischen Gemeinden unter seinen Schutz genommen. Nach dem Terroranschlag vom April 2011 in Marrakesch auf ein Café am Djama’a el-Fna, dem berühmten Touristenmagnet „Platz der Gaukler“ mit 17 Toten, bat der König das marokkanische Volk um Unterstützung im Kampf gegen der Terror: „Muslime, Christen und Juden müssen eine gemeinsame Front bilden.“ Es bleibt zu hoffen, dass das Engagement für einen konstruktiven Dialog mehr ist als ein Tropfen auf den heißen Stein. Die israelische Sängerin Neta Elkayamweiß davon ein Lied zu singen.