Das geschriebene Wort in Zeiten virtueller Überforderung
Von Andrea Schurian
Ich gehöre einer vermutlich aussterbenden Spezies Mensch an: Ich habe keinen Facebook- oder Instagram-Account. Das Daumen-rauf-Daumen-runter-Bewertungssystem finde ich albern, Snapchats und Tiktok – so ich deren Sinn richtig verstanden habe – ebenso und Twittern nicht erst seit Donald Trump einen die Psychohygiene gefährdenden Sprechdurchfall. Ich lese Literatur in Buchform. E-Books? Um es mit Melvilles Bartleby zu sagen: „Ich möchte lieber nicht.“
Einerseits.
Andererseits: Während des Schreibens immer wieder (und nicht nur zu Recherchezwecken) im Internet gesurft, in Online-Zeitungen zwischengestoppt, Nachdenkpausen mit weiterführenden Links sowie dem Checken von Emails und Whatsapp-Nachrichten gefüllt. Nur keine digitale Stille aufkommen lassen. Nennt sich euphemistisch digitales Stimulans; besser trifft es „digital distraction“, digitale Ablenkung, genauer: digitale Zerfahrenheit. „Nirgendwo ist der, der überall ist“, schrieb der römische Dichter und Philosoph Seneca in seinen Epistolae morales.
Als eine amerikanische Highschool vor etwa 15 Jahren ihre Bibliothek auflöste und stattdessen Computer für die Schüler installierte, schien dies maximal extravagant: Lehrer als Surflehrer für angehende fachgerechte, zielorientierte User? Kein Zukunftsmodell. Werch ein Illtum! (Wüssten die Kinder, von wem dies stammt? Natürlich nicht, weil: Ernst-Jandl-Gedichte? Kein Stoff für die Schule.) Angeblich sind Emojis die am schnellsten wachsende Sprache weltweit, weshalb ein Londoner Übersetzungsbüro zwecks richtiger Deutung der Zeichen bereits einen „Emoji-Übersetzer“ sucht.
Also, wenn schon nicht Seneca, wie wäre es mit der etwas holprigen, aber nicht weniger zutreffenden Volksweisheit, man könne nicht mit einem Hintern auf zwei Kirtagen tanzen? Offenbar widerlegt. Heute ist Multitasking angesagt. Ich beobachte meine Kinder und ihre Freunde, junge Erwachsene also, „digital natives“, die schauen Netflix, treffen gleichzeitig via Facebook Verabredungen für später, folgen Links zu Youtube-Clips, googeln, surfen gechillt auf dem Datahighway dahin und, wunderbar, entdecken dabei junge Schriftsteller, die nur im Netz publizieren. Vielleicht liegt sogar ein Buch aufgeschlagen daneben. Anfang – oder Ende – vom Lesen?
Goethe, fasziniert und erschreckt gleichermaßen von den Möglichkeiten des damals neuen Mediums Zeitung, verschnürte mitunter die Ausgaben ungeöffnet, um der Versuchung zu widerstehen, sie auch zu lesen. Die täglich neuen Welt-Wirklichkeiten sollten ihn nicht vom Nachdenken und Schreiben ablenken. „Seit ich die Zeitungen nicht mehr lese, bin ich viel freieren Geistes“, notierte er. Faust statt Facebook. Fack ju, Göhte!
Nutzen ist das neue Lesen. Klug ist nicht der Mensch, smart ist sein handliches Gerät, das die virtuelle Welt allzeit auf Abruf bereithält. Demokratisierung von und freier Zugang zu Wissen: keine Frage, gute Sache. (Journalistische) Recherche ohne Internet? Kaum, nein: gar nicht mehr vorstellbar. Doch der Informatiker Jaron Lanier, Pionier in der Erforschung der virtuellen Realität, dessen VPL Research beispielsweise den ersten kommerziellen Datenhandschuh entwickelte, spricht mittlerweile von „digitalem Mob“, den freien Wissenszugang nennt er eine „halluzinatorische Freiheit“ und die sogenannte „Schwarmintelligenz“ bezeichnet er als „digitalen Maoismus“, als Ausbeutung der Kreativen: „Ich bin unter anderem zu dem ziemlich verstörenden Schluss gekommen, dass das Fantasiebild von den Musikern, Journalisten, Geistesarbeitern, die zwar durch Filesharing und soziale Netzwerke ökonomisch in Bedrängnis gerieten, aber so auch neue Geldquellen aufspürten, falsch ist“, sagte er in einem FAZ-Interview (das ich, ja, im Internet gefunden habe). Wenn alle Texte, Musiken, alle Möglichkeiten der Kulturproduktion gratis im Netz abrufbar sind: wie, ganz banal gefragt, wie schaut es mit der sowieso schon prekären Lage der Kunst- und Kulturschaffenden in Zukunft aus?
„Masochismus“ statt „Maoismus“ träfe es daher auch ganz gut: Mit Anlauf schaffen wir sogenannten Geistesarbeiter uns in der durchmedialisierten, postfaktischen, von „alternative facts“ geprägten schönen, gar nicht mehr so neuen Medienwelt selber ab. Vom Geistes- zum Geisterarbeiter, sozusagen.
Längst sind nicht (nur) Qualität, Expertise, Seriosität, individuelle Autorenschaft Maßeinheiten für die inhaltliche und finanzielle Ausrichtung von Zeitungen und Medienhäusern, sondern möglichst viele Zugriffe auf die online gratis angebotenen Inhalte, Visits, Verweildauer, unter Pseudonymen abgegebene Postings von mitunter haarsträubender Boshaftigkeit der Nutzer. Je mehr, umso besser. Statt Inhalt zählt Content. Am besten ein von Usern generierter Gratis-Content, denn der sorgt in einer nach Informationsschnitzelwerk gierenden Community für mehr „traffic“ als ein sorgsam recherchierter, einordnender Artikel eines mit der Materie befassten Journalisten.
Das globale Dorf ist von Doxosophen bevölkert, Meinungsträgern also, die Platon einst als wohl kenntnisreich, nicht aber als einsichtsreich bezeichnete: „Der Text-Leser glaubt nur zu wissen, das heißt, er meint.“ In der im Phaidros geäußerten Schriftkritik fürchtete er, das geschriebene Wort würde nicht Wissen vermehren, „… da die Leute im Vertrauen auf das Schriftstück von außen sich werden erinnern lassen durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch Selbstbesinnen. Also nicht ein Mittel zur Kräftigung, sondern zur Stützung des Gedächtnisses hast du gefunden. Und von Weisheit gibst du deinen Lehrlingen einen Schein, nicht die Wahrheit: Wenn sie vieles gehört haben ohne Belehrung, werden sie auch viel zu verstehen sich einbilden, da sie doch größtenteils nichts verstehen und schwer zu ertragen sind im Umgang, zu Dünkelweisen geworden und nicht zu Weisen.“
Pierre Bourdieu nahm Platons Begriff wieder auf und nannte Doxosophen „die Scheingelehrten der Meinungen, oder der Scheinbarkeiten“. Hauptsache mitreden können, unbekümmert von Blog zu Blog hüpfend wohlfeiles Meinungsreservoir anlegen: Ja, klingt furchtbar kulturpessimistisch. Und empörend konservativ.
Dabei ist der Begriff „Laborratten“ noch gar nicht gefallen, den der Technologiekritiker Nicholas Carr für Menschen geprägt hat, die sich im Netz der immer weiterführenden Links verheddern.
Lesen? Verinnerlichen? Zusammenhänge reflektieren? Verweilen? Konzentrieren?
„Wenn wir ständig durch Computer und Mobiltelefone abgelenkt und unterbrochen werden, strömen Informationen durch unser Kurzzeitgedächtnis, ohne je in unserem Langzeitgedächtnis verfestigt zu werden. Unser Gehirn ist nicht in der Lage, die starken neuronalen Verbindungen herzustellen, die unserem Denken erst Tiefe und Klarheit verschaffen. Unsere Gedanken werden zusammenhangslos, unser Erinnern flach“, beschrieb Carr in seinem Buch Wer bin ich, wenn ich online bin – und was macht mein Hirn solange? ein verändertes, sprunghafter gewordenes Leseverhalten, das er auch an sich selbst festgestellt habe. Das Gehirn passe sich daran an und verändere sogar seine zelluläre Struktur: „Aktuelle Studienergebnisse deuten darauf hin, dass Menschen, die mit Links gespickte Texte lesen, weniger verstehen als diejenigen, die gedruckte Wörter auf einer Papierseite lesen. Menschen, die ständig von E-Mails, Terminhinweisen oder anderen Nachrichten abgelenkt werden, verstehen weniger als die, die sich ohne Unterbrechung konzentrieren können.“
Nicht erst seit dem tragischen Suizid der oberösterreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr sollten alle Alarmglocken schrillen angesichts der gehässigen, gemeingefährlichen, antisemitischen Hasspostings, die von dummen, unbelesenen, vorurteilsbeladenen, anonymen Trollen auf den sozialen Netzwerken verbreitet werden. Nicht zuletzt deshalb hat die Online-Ausgabe von NU keine Kommentarfunktion. Der deutsche Schriftsteller Thomas Hettche, der für seinen Roman Die Pfaueninsel mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, handelte sich in Online-Foren schnell das Prädikat „reaktionär“ ein, weil er in einem Essay für die FAZ nachdachte, was passiert, „Wenn Literatur sich im Netz verfängt“. Dass er 1999 mit NULL eine der ersten, vielleicht die erste Internet-Literaturzeitung ins Leben rief und damit, wie die Zeitschrift Focus schrieb, ein „Mammutprojekt der Netzliteratur“ initiierte: vergessen! Was hatte er in der FAZ geschrieben?
„Literatur hat mit der Schönheit zu tun, die Sprache nur dann entfaltet, wenn man sorgfältig oder leidenschaftlich oder wütend oder begeistert, auf jeden Fall aber gänzlich sich ihr anheimgibt, als Autor wie als Leser. Dem aber ist die Zerstreuung der Aufmerksamkeit auf viele Kanäle nicht dienlich. …. Unsere literarische Kultur droht zu verschwinden. Die Auseinandersetzung mit dem Werk zwischen zwei Buchdeckeln wird ersetzt durch eine Literaturteilhabe, die von Event und Dauergeplauder geprägt ist.“
Erschienen ist dieser Artikel im April 2010. Die Debatte hat sich, scheint’s, nicht maßgeblich verändert – abgesehen davon, dass noch mehr Kanäle und Ablenkungen und Möglichkeiten dazu gekommen sind. Use it! Zwitschere, Autor! Suche den Kontakt zu deinen Lesern, setze dich aus, kommuniziere, interagiere!
Offenbar bin ich hoffnungslos von vorgestern. Aber apropos vorgestern: Weder ist das Theater durch das Kino verdrängt worden, noch das Kino durch das Fernsehen. Und natürlich kann Internet unendlich vieles, auch Literatur (wenngleich mitunter nur in Form langer, ungestalter Wortwürste statt schön gestalteter Seiten). Wie schreibt Hettche noch: „Die aktuelle Debatte reduziert nicht nur das Buch auf ein begrenztes Behältnis, das verzichtbar geworden ist, sie ist auch blind gegenüber der Komplexität des ‚Gesamtsystems Literatur‘. … Wenn die Debatte nicht länger ideologisch geführt werden soll, gehört zur Begeisterung für das, was wir an Möglichkeiten im Netz gewinnen, die Anerkennung dessen, was wir verlieren, wenn mit dem Geschäftsmodell Buch auch die Literatur als Ort verschwindet, an dem ein Schriftsteller und ein Leser sich nicht bloggend und twitternd treffen, sondern tatsächlich und unüberwachbar in der Imagination. Und allzu viele utopische Räume hat diese Welt nicht zu bieten.“