Seit drei Jahren lebt Susanne Scholl, langjährige Russland-Korrespondentin des ORF, wieder in Wien. Bei einem Museumsbesuch hat sie mit NU über ihre Vorliebe für russische Kunst, ihre Familiengeschichte und den Tunnelblick der Österreicher gesprochen.
Von Ruth Eisenreich (Interview) und Verena Melgarejo (Fotos)
Der Schreck kommt in der Straßenbahn. Um elf Uhr sind wir vor der Albertina mit Susanne Scholl verabredet, um 10.12 Uhr hat sie eine Mail geschrieben: „Wo sind Sie?“ Ein Anruf bringt Erleichterung: Scholl war eine Stunde zu früh dran, hat es schon selbst bemerkt und wartet mit ihrem Buch im Café. Es ist, als ob sie beweisen hätte wollen, was sie in Interviews und Büchern immer wieder behauptet: Dass sie chaotisch und verplant sei.
So ganz will man ihr das nicht glauben. Wer 15 Jahre lang in einem semiautoritären Staat wie Russland als Journalistin arbeitet, wer sich ins umkämpfte Tschetschenien vorwagt, der muss doch ein organisierter Mensch sein? Ja, räumt Scholl ein, als wir sie im Café abholen: Bei wichtigen Dingen sei sie durchaus strukturiert, nur bei Unwichtigem sei sie vergesslich. War das jetzt eine kleine Spitze?
Wir haben Susanne Scholl gebeten, für dieses Gespräch einen Ort vorzuschlagen, der nichts mit den Themen zu tun hat, für die sie bekannt ist – nicht mit Russland, nicht mit ihrem Einsatz für Flüchtlinge. Sie hat sich für die Max-Ernst-Ausstellung in der Albertina entschieden, die habe sie sowieso sehen wollen.
Von Kunst verstehe sie wenig, sagt Scholl, 63, als wir die Ausstellung betreten. Es wird sich zeigen, dass das genauso Understatement ist wie ihre Unorganisiertheit: Scholl sammelt selbst, vor eineinhalb Jahren wurde ihre Sammlung im Kunstverein Horn ausgestellt. Selber gemalt hat sie früher auch, Aquarelle, „aber nur ganz dilettantisch“.
Wir überspringen den ersten Raum der Ausstellung, da ist gerade eine Führung im Gange, das nervt Scholl. Vor einem Gemälde, das den Hinterkopf einer Frau zeigt, bleibt sie stehen. Der Titel gefällt ihr: Eva, die einzige, die uns bleibt. Mit den verschnörkelten unter Ernsts Werken kann Scholl wenig anfangen, die geradlinigeren Bilder und die Skulpturen haben es ihr angetan. Die Skulptur Vogel Janus etwa: Sie hat auf der Vorderseite Muscheln als Brüste und eine Schildkröte als Penis, auf der Rückseite stellt ein Frosch eine Vulva dar.
Susanne Scholl mag die Kunst der 20er- und 30er-Jahre, aber ihr Lieblingskünstler lebt noch, sie kennt ihn persönlich. Er ist Russe – natürlich! –, heißt Konstantin Batynkov, und Scholl besitzt mehrere Bilder von ihm. „Er malt nur schwarz-weiß, winzige Menschlein, die ein bisschen wie Heuschrecken ausschauen“, erzählt sie. „Ein Bild, das ich heiß liebe, das ist eine große weiße Leinwand und lauter kleine Männlein, die auf Skiern einen Berg herunterpurzeln. Das ist irrsinnig lustig.“
„Lustig“ ist überhaupt das höchste Lob, das Susanne Scholl einem Kunstwerk aussprechen kann. Eine russische Künstlergruppe hat als Parodie auf die Kunstwelt eine Auktion mit Alltagsgegenständen veranstaltet, vom Fenstergitter bis zur Glasscherbe, „wahnsinnig lustig“; von einem anderen russischen Künstler besitzt sie eine kleine Metallskulptur, die ein Strichmännchen darstellt, „die sieht witzig aus, und außerdem ist sie rot“.
Da ist es, das Stichwort Rot. Susanne Scholl und Rot, das gehört zusammen wie Elton John und schrille Brillen, wie Steve Jobs und schwarze Rollkragenpullover, wie Amy Winehouse und die Bienenkorb-Frisur. Auch heute: Rotes Shirt, roter Schal, rote Handtasche, rote Uhr, rote Brille, roter Lippenstift. Was hat es mit dieser Farbe auf sich? Man muss die Frage gar nicht zu Ende formulieren, Scholl hat sie schon erwartet: Die Farbe sei ein persönlicher Mythos, erklärt sie, entstanden nach dem Ausschließungsprinzip: „Man hat etwas Grünes an und hat ein unangenehmes Erlebnis, dann trägt man nachher nichts Grünes mehr.“
Unangenehme Erlebnisse hatten junge Journalistinnen in den 70er- und 80er-Jahren, als Scholls Karriere begann, immer wieder. Scholl arbeitet nach einem Slawistikstudium in Rom und einem Auslandssemester in Leningrad zunächst für die Auslandsredaktion der Austria Presse Agentur. Der Journalismus war da noch eine Männerdomäne. „Ich hab was gegen Frauen in diesem Beruf“, habe einer ihrer ersten Chefs gleich zur Begrüßung gesagt, erzählt sie; jahrelang habe sie sich am Telefon mit „Dr. Scholl“ gemeldet, um nicht für die Redaktionsassistentin gehalten zu werden. Die verletzenden Bemerkungen sind hängengeblieben, sie ärgert sich bis heute darüber. Hat sich die Situation inzwischen gebessert? „Nein“, sagt Scholl sofort. „Es kommt subtiler daher, aber wir haben viel weniger erreicht, als wir glauben.“
1986 wechselt Scholl von der APA in die Europaredaktion des ORF, 1989 geht sie, ihre kleinen Zwillinge im Gepäck, als ORF-Korrespondentin nach Bonn. Kurz darauf bricht die DDR zusammen – eine aufregende Zeit, auch für Journalisten. „Wir sind wie die Blöden hin- und hergeflogen“, erzählt Scholl, „manchmal in der Früh nach Berlin, wo sich die Geschichten abgespielt haben, und am selben Abend zurück nach Bonn, wo noch immer der Regierungssitz war. Und dazwischen immer wieder nach Wien.“
Nach zwei Jahren wechselt Scholl nach Moskau; mit einer kurzen Unterbrechung bleibt sie bis 2009 dort. Sie berichtet für den ORF über das Russland Gorbatschows, Jelzins und Putins, über Demonstrationen, Aufstände, Putsche und Kriege. Seit knapp drei Jahren ist sie nun wieder in Wien; als erstes seien ihr bei ihrer Rückkehr die Enge, der Tunnelblick der Österreicher aufgefallen, erzählt sie. Haben die Russen etwa keinen Tunnelblick? „Na sicher, aber der Tunnel ist größer. Dort geht es um Leben und Tod; hier darum, dass wir bei der Ski-WM in Schladming nichts reißen.“
Wir sind zum Ende der Ausstellung gelangt und beenden das Gespräch, ganz gegen die Regeln dieser NUReihe, im Café der Albertina, über uns ein großformatiges Schiele-Bild. Die Rückkehr nach Wien sei ihr nicht leicht gefallen, erzählt Scholl, denn es war eine doppelte Umstellung: von Moskau nach Wien und von der Anstellung in die Pension. Wobei Pension das falsche Wort ist – Scholl hat nicht aufgehört zu arbeiten, sie hat eine wöchentliche Kolumne für die Salzburger Nachrichten und schreibt an einem Roman über die Begegnung einer ausländerfeindlichen Österreicherin mit einer jungen tschetschenischen Flüchtlingsfrau.
Beim Thema Flüchtlinge kann sich Scholl in Rage reden. Das hat nicht zuletzt mit ihrer eigenen Familiengeschichte zu tun: Auch ihre Eltern – die Mutter eine Eisenbahnertochter aus dem zweiten Bezirk, der Vater ein Arzt aus dem Villenviertel Pötzleinsdorf, beide jüdisch und überzeugte Kommunisten – waren Flüchtlinge, sie lernten sich im englischen Exil kennen und kehrten 1947 nach Wien zurück. Dass von ihren Großeltern niemand die Nazis überlebt hat, hat Scholl geprägt; die Geschichte der Familie hat sie in ihren Büchern verarbeitet. In ihrem Roman Elsas Großväter liest eine Frau die immer panischer werdenden Briefe, die ihr Vater und ihr Großvater einander zwischen Mai 1939 und September 1940 geschrieben haben. Die Protagonistin Elsa sei nicht sie selbst, beteuert Susanne Scholl, aber die Briefe sind die ihres eigenen Vaters und Großvaters; die Mutter hat sie nach dem Tod des Vaters in dessen Schreibtisch gefunden.
Ihr Einsatz für jene Menschen, deren heutiges Schicksal sie an das ihrer eigenen Eltern erinnert, ist derzeit Susanne Scholls Hauptbeschäftigung. Sie hat die hungerstreikenden Asylwerber in der Votivkirche besucht, auf ihrer Facebookseite postet sie regelmäßig offene Briefe an den Bundeskanzler, den Vizekanzler, die Innenministerin und den Integrationsstaatssekretär. Über 70 sind es mittlerweile, ihr Inhalt ist im Wesentlichen immer der gleiche: „Stoppen Sie die unmenschlichen Abschiebungen nach Tschetschenien – und in alle anderen Krisenregionen – sofort!“, so enden alle Briefe.
Antworten hat Scholl bisher kaum bekommen, und sie macht sich keine Illusionen, dass die Briefe viel bewirken: „Aber ich habe das Gefühl, ich muss irgendwas tun, und die Briefe sind besser als nichts.“ Immerhin werde ihr letztes Buch Allein zu Hause, in dem es ebenfalls um Flüchtlinge geht, bei Lesereisen oft als Geschenk gekauft – mit der Begründung „Das schenke ich dem Freund vom Stammtisch, der ständig gegen Ausländer hetzt.“
Auch in Scholls Kolumne in den Salzburger Nachrichten geht es oft um das Thema Flüchtlinge, häufig auch um die politische Situation in Russland oder Ungarn. Immer wieder bekomme sie deshalb Hassmails, erzählt Scholl noch, bevor wir uns verabschieden; mittlerweile habe sie aber gelernt, sie nicht an sich herankommen zu lassen. „Wenn man sich in die Öffentlichkeit begibt, muss man darauf gefasst sein, dass einen nicht jeder liebt“, sagt Scholl: „Everybody’s Darling zu sein, ist auch keine Lebensaufgabe.“