VON MARTIN ENGELBERG
Die jüngste Eskalation der Gewalt in Jerusalem und Gesetzes-Initiativen, die an den Grundfesten des ursprünglichen Selbstverständnisses Israels rütteln, zeigen, wie sehr dieses Land auf tragische Weise immer mehr in den Sumpf der brutalen, irrationalen und menschenverachtenden Konflikte im Nahen Osten hineingezogen wird.
Das zionistische Projekt eines Staates für Juden – noch mehr als eines jüdischen Staates –, welcher in Frieden und als ein Musterland der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialen Gerechtigkeit existieren kann, wird zunehmend zerstört beziehungsweise aufgegeben – von innen und von außen.
Die laizistische, weitgehend unpolitische und einfach auf das persönliche Fortkommen konzentrierte Mitte der israelischen Gesellschaft hatte noch vor 15 Jahren den damaligen Premierminister Ehud Barak mit einer großen Mehrheit ausgestattet, um den „Oslo-Friedensprozess“ zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Heute dominiert in weiten Teilen der israelischen Gesellschaft tiefsitzende Angst und Misstrauen gegenüber den Arabern in und außerhalb Israels, und diese Stimmung wird zunehmend von den nationalen und religiösen Eiferern zur Durchsetzung ihrer Ziele ausgenützt.
Vor kurzem schrieb Naftali Bennett, der derzeitige Wirtschaftsminister Israels, in einem Gastkommentar in der New York Times: „Wir zogen uns in den 1990er-Jahren aus den palästinensischen Städten des Westjordanlandes zurück und bekamen dafür den Intifada-Aufstand, im Zuge dessen mehr als tausend Israelis getötet wurden. Im Jahr 2000 zogen wir uns aus dem Südlibanon zurück, und einige Jahre später schossen die Hisbollah-Milizen mehr als 4.000 Raketen auf Israel. Im Jahr 2005 übergaben wir den Palästinensern den Gazastreifen, und man sagte uns, sie würden daraus das Singapur des Nahen Ostens machen. Seither hat die Hamas daraus eine Terror-Festung gemacht, Tunnel nach Israel gegraben, um Anschläge zu verüben, und tausende Raketen auf ganz Israel geschossen.“ Mit dieser Beschreibung gibt Bennett die überwiegende Stimmung in Israel trefflich wieder.
„Warum fällt es Netanyahu so schwer, das Siedlungsprojekt aufzugeben?“, fragte mich neulich eine Bekannte hier in Wien. Tatsächlich würde auch heute noch eine überwältigende Mehrheit der Israelis der Räumung des Westjordanlandes samt Aufgabe der dortigen Siedlungen sofort zustimmen, ja sie auch gegen eine nationalistische Regierung erzwingen, wenn es eine Garantie gäbe, dass damit tatsächlich ein dauerhafter Friede und Sicherheit für die Bevölkerung Israels zu erreichen wären. In Ermangelung einer solchen Vision übernehmen die nationalen und religiösen Gruppierungen mit ihren Interessen das Handeln. Minister Bennett erklärt die Zwei-Staaten-Lösung für tot, weil das Westjordanland aus strategischen Gründen nicht zurückgegeben werden könne. Die Siedler verfolgen immer weiter ihr Projekt der (Wieder-)Eroberung des biblischen Kernlandes Israels, das sich im Westjordanland befindet, und in jüngster Zeit bekommen sogar religiöse Fanatiker Oberwasser, die den Tempelberg für die Juden zurückerobern wollen.
Geht es einmal in diese Richtung, dann werden die demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen Israels zunehmend ausgehöhlt, wie diverse jüngste Gesetzesinitiativen und das Vorgehen gegenüber den Arabern in Jerusalem zeigen.
Da ist dann auch das moralisierende Agieren vieler europäischer Länder gegenüber Israel, das Anlegen doppelter Standards, sehr wenig hilfreich. Israel als Teil des westlichen Wertesystems anzusehen und daran zu messen, ist schön und gut. Dann müsste aber auch der Ehrlichkeit halber eingestanden werden, dass sich kein Land Europas an der Stelle Israels anders verhalten würde und man schon bei der Bewältigung viel kleinerer Konflikte kläglich scheiterte.
Versetzt man sich in die Lage der Israelis, die noch dazu von menschenverachtenden, grausam mordenden und religionsfanatischen Milizen sowie undemokratischen und rückständigen Regimes umgeben sind, dann kann einem derzeit nur angst und bange werden.