„Es machte mir Spaß, mit meinem Großvater anzugeben“

Anne Feder Lee im Gespräch mit dem Rechtshistoriker und Kelsen-Biograf Thomas Olechowski. © Ouriel Morgensztern

Vor mehr als einem Jahr hätten große Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag der österreichischen Bundesverfassung stattfinden sollen. Zur Eröffnung der Ausstellung des Jüdischen Museums über den Architekten der Bundesverfassung Hans Kelsen sollte auch seine Enkelin Anne Feder Lee nach Wien reisen. Dieser Besuch wurde nun nachgeholt.

Von Danielle Spera

Den 100. Geburtstag der österreichischen Bundesverfassung beging das Jüdische Museum Wien mit der vielbeachteten Ausstellung Hans Kelsen und die Eleganz der österreichischen Bundesverfassung, die derzeit im Juridicum der Universität Wien zu sehen ist. Gemeinsam mit dem Parlament hatte das Jüdische Museum Anne Feder Lee, die Enkelin von Hans Kelsen, nach Wien eingeladen. Mit einjähriger Verspätung konnte sie nun mit ihrem Sohn Geoffrey nach Wien kommen. Die beiden Gäste aus Hawaii hätten sich kaum einen spannenderen Moment in der jüngeren österreichischen Geschichte aussuchen können, denn sie erlebten die aktuelle Regierungskrise hautnah mit. Die folgenschweren Umwälzungen waren auch Thema bei jedem der Treffen, die Anne Feder Lee und ihr Sohn Geoffrey Lee in Wien absolvierten.

Exakt zum 140. Geburtstag Hans Kelsens am 11. Oktober 2021 lud das Parlament zur Präsentation eines neuen Medienkoffers zu den Themen Demokratie und Diktatur. Hier hatte Anne Feder Lee Gelegenheit, gemeinsam mit Peter Dusek, dem Initiator des Medienkoffers, Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka und einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern über die Verfassung zu diskutieren. Bei ihrer Teilnahme an jener Nationalratssitzung, in der das Budget debattiert wurde, erlebten die Gäste aus Hawaii eine heftige Kontroverse, die Anne Feder Lee mit den Worten quittierte: „So aufregend ist eben gelebte Demokratie!“

Fast den Kaiser versäumt

Zu Kelsens Geburtstag veranstaltete das Jüdische Museum Wien ein Galadinner, bei dem Cornelius Obonya vor den zahlreichen Gästen aus dem In- und Ausland aus der Graphic Novel Gezeichnet Hans Kelsen vorlas und Kelsen-Biograf Thomas Olechowski ein Gespräch mit Anne Feder Lee führte.

Ein Blick in die Familiengeschichte: Hans Kelsen und seine Frau Grete (geb. Bondi) hatten zwei Töchter: Anna, die zum Judentum zurückkehrte und sich ab diesem Zeitpunkt Hannah nannte (Hans Kelsen war zum katholischen Glauben konvertiert, dann gemeinsam mit seiner Frau evangelisch geworden), und Maria. Hannah ging zunächst nach Haifa und heiratete dort, später zog auch sie in die USA. Maria lernte bereits in der Schweiz den Juristen Ernst Feder kennen. Nach der Emigration heirateten die beiden in den USA und wurden in der Landwirtschaft tätig. 1944 wurde ihre Tochter Anne geboren, die später an der Universität Berkeley, an der ihr Großvater Hans Kelsen lehrte, Politikwissenschaft studierte. Sie heiratete den Ökonomen Chung Hoon Lee und reiste mit ihm an die Orte seines Wirkens, letztendlich siedelten sie sich in Hawaii an. Maria Feder kümmerte sich bis zu deren Tod im Jahr 1973 um ihre Eltern.

Anne Feder Lee wusste schon sehr früh um die Bedeutung ihres Großvaters nicht nur für die österreichische Geschichte. „Ich erzählte jedem, der es nur hören wollte, wer mein Großvater war. Da gab es viele erstaunliche Momente. In Nebraska saß ich in einem Bus zufällig neben einem Herrn, der aus Korea stammte. Es stellte sich heraus, dass er Jurist war. Als ich ihm erzählte, wer mein Großvater war, konnte er es nicht fassen: Er hätte nie gedacht, dass er mitten in den USA Hans Kelsens Enkelin treffen würde, sagte er und hörte nicht mehr auf zu schwärmen. In Berkeley traf ich einen jungen Engländer, einen Stipendiaten an der juridischen Fakultät, er ist vor Ehrfurcht fast in Ohnmacht gefallen. Ich hatte immer Spaß daran, wenn ich mit meinem Großvater angeben konnte“, erzählt Anne Feder Lee.

Bei ihrem Besuch bei Bundespräsident Van der Bellen wurde ausführlich über die gerade wieder aktuelle „Eleganz der Verfassung“ (© Alexander Van der Bellen) diskutiert. Angeregt vom imperialen Rahmen, gab sie einige Familienanekdoten preis. So hätte ihr Großvater fast einen Termin beim Kaiser versäumt, weil er sich erst in seine Stiefel zwängen habe müssen.

Wien im Kopf und im Herzen

An Hans Kelsen hat sie viele schöne Erinnerungen. Er sei ein wunderbarer Großvater gewesen, vielleicht für amerikanische Verhältnisse etwas förmlich. Seine Bibliothek quoll über vor Büchern, viele davon waren aus der Universitätsbibliothek von Berkeley, weil er vergessen hatte, sie zurückzubringen. In seinem Arbeitszimmer in Kalifornien hatte er immer frische Rosen mit großen, schweren Blütenköpfen, die Hans und Grete Kelsen im Garten züchteten. Auf seinem Schreibtisch stand auch ein Foto, das seinen Vater, den Leuchterproduzenten Abraham Littman Kelsen, zeigt, der sich später Adolf Kelsen nannte. Aus seiner Produktion stammte u.a. die Beleuchtung für die Neudegger Synagoge. Auch eine Erinnerung an Wien.

Hinsichtlich der Verfassungsgerichtsbarkeit kann Hans Kelsen durchaus als deren Schöpfer bezeichnet werden. Der Verfassungsgerichtshof sieht sich diesem Erbe und der Erforschung seiner eigenen Geschichte verpflichtet. Mit großer Freude wurde daher Anne Feder Lee zu einem Austausch über Kelsens Tätigkeit als Richter am VfGH in den Jahren 1919 bis 1930 und einem Empfang von Vizepräsidentin Verena Madner eingeladen.

In den vielen Gesprächen, die ich mit Anne Feder Lee während ihres Besuchs in Wien führen durfte, erzählte sie mir auch viele private Familiengeschichten. „Mein Großvater liebte es, seine Semmel oder ein anderes Gebäck in seinen Kaffee einzutunken, das habe ich mit Freude übernommen. Er hat mir auch viele Kinderspiele beigebracht, die er aus Wien kannte. Und er hat mich verwöhnt. Obwohl nicht viel Geld da war, durfte ich mir im Spielzeuggeschäft immer etwas aussuchen. Meine Großeltern lebten sehr einfach, es gab keinen Luxus. Es war meiner Großmutter sehr wichtig, gesundes Essen für ihn zuzubereiten. Für mich hat sie immer mein Lieblingsessen gekocht: Huhn mit Risipisi. Ich habe es genossen, mit den Großeltern Zeit zu verbringen. Ich glaube, mein Großvater war den USA sehr dankbar, dass man ihn aufgenommen und ihm eine neue Heimat gegeben hat. Er war glücklich, in Berkeley lehren zu können und freute sich auch über die vielen Besucher aus Europa, die mit ihm diskutieren wollten. Unsere Familie hatte das Glück, dass – bis auf meine Tante – fast niemand das Jahr 1938 hier erlebt hat. Für meinen Großvater und meine Mutter ist Wien allerdings immer im Kopf und im Herzen geblieben.“

Schöne Erinnerungen

Wie hat sich das Erbe Hans Kelsens auf seine Enkelin ausgewirkt? „Ich war immer an Politik interessiert, deshalb habe ich auch Politikwissenschaft studiert. Ein Jusstudium war durch meine Hochzeit und die Reisen mit meinem Mann nicht möglich.“

Hans Kelsen starb, als Anne Anfang 20 war. Anne Feder Lee erinnert sich, dass für ihre Großmutter Grete, die nur wenige Wochen vor ihrem Mann starb, eine Abschiedsjause organisiert worden war, was vielleicht an das jüdische „Schiwesitzen“ erinnern mag. Hans und Grete Kelsen hatten verfügt, dass ihre Asche im Pazifik verstreut werden sollte. Für Anne Feder Lee war es vielleicht auch aus diesem Grund essenziell, dem (jüdischen) Währinger Friedhof einen Besuch abzustatten. Hier nahm sie sich viel Zeit, um die Gräber ihrer Vorfahren aufzusuchen. Die Teilnahme am Schabbat-Gottesdienst im Wiener Stadttempel bleibt Geoffrey Lee vermutlich lange in Erinnerung. Es war sein erster Besuch in einer Synagoge. Die Bilanz, die Anne Feder Lee am Ende ihres Aufenthalts in Wien zog, könnte besser nicht sein: „Die Aufnahme hier in Wien war wunderbar, ich wünschte, ich könnte mehr Zeit hier verbringen. Mein Großvater wäre sehr stolz gewesen. Immer, wenn ich Deutsch höre, fühlt es sich an wie zu Hause zu sein.“

Friedhof
Anne Feder Lee und Geoffrey Lee bei ihrem Besuch des Jüdischen Friedhofs Währing. Viel zeit, um die Gräber ihrer Vorfahren aufzusuchen.
(c) Spera
Thomas Olechowski, Anne Feder Lee, Danielle Spera und Geofrfrey Lee (v.l.n.r.) beim Galadinner im Jüdischen Museum Wien. © Ouriel Morgensztern
Präsentation eines neuen Medienkoffers zu den Themen Demokratie und Diktatur. Hier hatte Anne Feder Lee Gelegenheit, mit einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern über die Verfassung zu diskutieren.
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