Vor über fünf Jahren ist der große Autor, Regisseur und Theatermacher George Tabori in Berlin gestorben. Eine Wiederbegegnung mit dem lustvollen Blasphemiker anlässlich der Aufführungsserie seiner Goldberg-Variationen am Wiener Volkstheater.
Von Jürgen Bauer
Was heute am meisten fehlt, ist sein Humor. Als George Tabori vor beinahe fünfzehn Jahren Wien in Richtung Berlin verließ, blieb eine Lücke im Theaterleben dieser Stadt zurück, die niemand füllen konnte. Ein Humor, der so viel mehr war als bloßes Lachen, der im Witz immer auch den Schmerz und die Katastrophe erkannte. Wenn nun sein vielleicht wichtigstes Werk – die Goldberg- Variationen – im Volkstheater wieder auf dem Spielplan steht, kehrt Abend für Abend die schelmische Weisheit des großen Theatermachers endlich zurück in diese Stadt. Tabori selbst meinte einmal: „Es gibt diesen alten judaischen Gedanken: Keiner ist tot, solange man über ihn spricht.“ Vielleicht startet ja nun durch seine Texte wieder ein Gespräch über den Tod hinweg. Es würde sich lohnen.
Kriegsjahre
Dass Tabori ausgerechnet in Wien seine herausragende Stellung im Theaterleben errang, zeigt, dass das Leben seine Vorliebe für schmerzhaften Humor teilt. Zur Welt kommt er 1914 in Budapest, nur einen Monat nach seiner Geburt wird der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajewo ermordet und eine ganze Epoche durch ein völlig neues Zeitalter abgelöst – ein Zeitalter, dessen Geschichte, Umbrüche und Katastrophen sich von da an im verschlungenen Lebensweg Taboris fast exemplarisch spiegeln. Während des Krieges verschlägt es ihn als Journalist nach Sofia und Istanbul und als Nachrichtenoffizier der britischen Armee nach Jerusalem und Kairo. Von Istanbul aus versucht er noch, die Eltern zur Emigration zu bewegen, doch vergebens: Der Vater wird 1944 in Auschwitz ermordet, seine Mutter entkommt der Deportation nur durch einen glücklichen Zufall. Beiden wird er später in seinen Werken berührende literarische Denkmale setzen. Dass er sie nicht stärker zur Flucht gedrängt hat, wird er sich nie verzeihen. Noch 1994 spricht er in einem Interview mit der Zeit von seinen Schuldgefühlen den Toten gegenüber und meint: „Ich hatte ein verhältnismäßig leichtes Leben im Krieg.“ Auch nach dem Krieg nimmt sein Leben abenteuerliche Wege: Einer Einladung aus Hollywood folgend gelangt er in die USA, wo er die Werke Brechts übersetzt und – wenn auch mit wenig Fortune – Drehbücher für Alfred Hitchcock und Joseph Losey schreibt. Die ganz Großen seiner Zeit treten hier in sein Leben: Thomas Mann etwa, die Garbo und Charlie Chaplin. Schließlich wird sein eigenes Stück von Elia Kazan am Broadway inszeniert. Ein Flop, wenn man Tabori glauben darf, aber immerhin ein Anfang am Theater, dem er sich von nun an zuwendet. Doch nach fast einem Vierteljahrhundert in den Staaten kommt schließlich die große Lebenswende, „plötzlich und ungeplant“, wie es in der Rückschau der Neuen Zürcher Zeitung heißt: „Mit nichts als einem Koffer und 150 Dollar im Sack kommt Tabori 1969 in Berlin an, im Land der Täter, die den größten Teil seiner Familie umgebracht hatten.“
„Irritieren, stören, schockieren“
Mit Unterstützung der Verlegerin Maria Sommer kann er auf der Werkstattbühne des Schillertheaters sein Stück Die Kannibalen inszenieren: Verhungernde Häftlinge fressen im Konzentrationslager einen toten Mitgefangenen in einem grausigen Abendmahl auf. Er will „irritieren, stören, schockieren“ und ist selbst erstaunt, dass ein deutsches Theater sich traut, dieses alle Geschmacksgrenzen überschreitende, dem Vater gewidmete Stück zu zeigen. Aber seine Neugierde siegt: Er will wissen, wie ein deutsches Publikum auf seinen Text reagiert. Vor dem Theater wartet dennoch sicherheitshalber ein eigens bereitgestellter Wagen, doch was folgt, ist nicht die erneute Flucht, sondern das, was Tabori selbst die „beste Zeit seines Lebens“ nannte. Dass seine Werke gerade in Deutschland ihre besondere Wirkung entfalteten, war für Tabori aber nicht völlig unverständlich: „Die Wunde versteht das Messer.“ Der heftig diskutierten Aufführung folgen Arbeiten in Bremen, München und Bochum; im Jahr 1987 schließlich der Umzug nach Wien, wo er seine eigene Gruppe „Der Kreis“ im heutigen Schauspielhaus gründet. An Peymanns Burgtheater wird Tabori dann zur bestimmenden inszenatorischen Stütze. Über 30 eigene Stücke und mehr als 60 Inszenierungen liefert der selbsternannte „dienstälteste Theatermacher der Welt“ ab, bevor er 2007 in Berlin stirbt, wohin er Peymann noch kurz zuvor gefolgt war. Dreiundneunzig Jahre alt ist er geworden, „älter als Sophokles“, wie er selbst nicht ohne Stolz betonte. Über alle Umwege, Brüche und Umzüge hinweg war nur das Theater immer so etwas wie eine Heimat geblieben.
Taboris enorme Bedeutung entfaltete sich dabei vor der Folie der komplizierten deutsch-österreichischjüdischen Beziehungen. Peter von Becker nannte ihn den „letzten Kosmopoliten“ des Theaters, den letzten Zeugen der „Generation von Emigranten zwischen 1933 und 1945“. Als ihm 1992 der Büchner-Preis verliehen wurde, hieß es in der Begründung: „Wir bewundern seinen Mut, dem deutschen Publikum mit Witz und Ironie und doch mit der Leidenschaft des Opfers und der Distanz des Weisen die unheilvolle gemeinsame Geschichte der Deutschen und Juden vor Augen zu führen.“ Dabei wurde öffentlich vor allem Taboris Auseinandersetzung mit der Shoa bedacht. Hatte Adorno es noch für barbarisch gehalten, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, so meinte Tabori, nicht das Gedicht sei unmöglich geworden, sondern Sentimentalität oder auch Pietät. Diesen Anspruch kann man in seiner Theaterarbeit erkennen, mit der er lange Zeit herber Kritik ausgesetzt war. Seine makabren Totenreigen, sein oft schockierender Witz, sein Mischen von tief Tragischem und oft banal Geblödeltem stießen häufig auf Unverständnis und Ablehnung. Rückendeckung fand er bei einer Aussage seines Vorbilds Brecht: Manchmal müsse man sich eben entscheiden, ein Mensch zu sein, oder aber guten Geschmack zu haben. Dabei war in seinen Witzen immer der Schmerz spürbar. Er war der Überzeugung, dass die Angleichung von Heiligkeit und Humor der „größte jüdische Beitrag zur Zivilisation“ sei. Außerdem sei „jeder wirkliche Humor schwarz“.
Die Goldberg-Variationen
Dieser schwarze Humor zeigt sich exemplarisch in Taboris Stück Die Goldberg-Variationen, uraufgeführt vor über zwanzig Jahren in seiner eigenen Regie am Akademietheater. Im Stadttheater von Jerusalem will der gottähnliche Regisseur Mr. Jay dem Publikum ausgewählte Szenen aus der Bibel präsentieren. „Eine leere Bühne ist eine Stätte der Schönheit, besonders am ersten Probentag, wenn noch nichts schiefgegangen ist“, meint der jüdische Regieassistent und Holocaust-Überlebende Goldberg. Doch natürlich geht alles schief, was nur irgendwie schiefgehen kann: Kain trifft Abel mit der Keule am Schädel, Isaaks Opferung endet im blutigen Tod, und der Baum der Erkenntnis ist ein Bananenbaum. Am Ende wird ein Stofflamm ans Kreuz genagelt und der leidgeprüfte Jude Goldberg muss mal wieder dafür sorgen, dass die Vorstellung stattfinden kann. Wenn Tabori einmal meinte, dass in einer profanen Welt die Annäherung an den Glauben nur über die Blasphemie zu haben sei, so hat er mit den Goldberg-Variationen eindrucksvoll gezeigt, wie das zu verstehen ist. Zwischen Bibelklamotte, jüdisch-christlicher Polemik und Backstage-Comedy spielen Mr. Jay und Goldberg alle nur möglichen Machtverhältnisse durch: Regisseur und Assistent, Herr und Knecht, Vater und Sohn und schließlich Gott und auserwähltes Volks. Das Theater ist hier immer die Welt und umgekehrt.
Auch wenn in der aktuellen Volkstheater- Inszenierung von Stephan Bruckmeier der brutale, schmerzhafte und hintergründige Witz des Stücks zurücktreten muss und oft ein etwas oberflächlicherer Klamauk geboten wird, ist sie doch eine schöne Möglichkeit, Tabori neu zu begegnen. Seit der Premiere steht die Aufführung regelmäßig auf dem Spielplan des Hauses. Taboris selbst hat in einem Interview zu den Goldberg-Variationen einmal gesagt: „Der Mensch ist heilig. Es gibt nichts Größeres als den Menschen.“ Vielleicht fehlt doch nicht nur sein Humor, sondern auch sein Humanismus!