Helene Maimann im Gespräch mit Robert Schindel und Robert Menasse
Von Helene Maimann
Maimann: Ihr beschäftigt euch beide mit den schweren Schädigungen, die die Überlebenden der Shoah und ihre Kinder auszuhalten haben. In beiden Büchern, sowohl in „Gebirtig“ wie in der „Vertreibung aus der Hölle“, tauchen Juden auf, die fast bis zur Karikatur durch die erlittene Verfolgung und Vertreibung neurotisiert wurden. Wie lange, glaubt ihr, wird es dauern, bis die Juden diese schweren Verwundungen überwunden haben?
Schindel: Ich bin ja gedoppelt. Ich bin sowohl ein Überlebender, weil ich wurde, kaum daß ich auf der Welt war, versteckt. Da ich mich daran, zumindest bewußt, nicht erinnere, bin ich sozusagen auch meine eigene zweite Generation. Als Überlebender habe ich diese Urangst geerbt, die Angst des Verstecktwerdens, in einen Raum geschoben Werdens, ich habe lange Zeit Symptome gehabt wie Angst vor Dämmerung und vor geschlossenen Räumen. Aber der größere Anteil ist bei mir, daß ich der zweiten Generation nach der Shoah angehöre. Und es ist für mich unverzichtbar, es zu bearbeiten, und zwar so lange, bis sich daraus eine Zukunft jenseits einer politischen Überzeugung ergibt. Solange ich politische Überzeugungen ideologischer Art hatte, Kommunismus, Marximus-Leninismus, war das nicht notwendig. Da hat man gesagt, die Zukunft ist der Sozialismus, für das kämpfe ich, und war überzeugt, „die Ve rgangenheit mag sich jeden Tag ändern, die Zukunft ist uns gewiß.“ In dem Augenblick, wo das wegbricht und es um eine persönliche Ansiedelung in der Gegenwart geht, mit einem eigenen Schlagschatten in die Zukunft, muß das, woher man kommt, bearbeitet werden. Und es ist kein Zufall, daß das erst seit anfang der achtziger Jahre bei mir literarisch stärker in dern Vordergrund getreten ist und ich begonnen habe, sukkzessive diese Schoah zu bearbeiten. Und es wird, glaube ich, sieben Generationen brauchen, bis sie überwunden ist.
Frage: Wieso sieben Generationen?
Schindel: Das ist eine biblische Zahl, die keine zufällige ist. Ich glaube, daß sich die Shoah nach sieben Generationen historisiert oder abgeschwächt haben wird.
Menasse: Diese Zeitspanne ist auch menschlich angemessen. Das Judentum brauchte nach allen entsetzlichen Erfahrungen immer rund sieben Generationen, um sich wieder halbwegs ins Gleichgewicht zu bringen.
Im Unterschied zum Christentum, das sich schon nach einer Generation wieder „normalisiert“ hat. Es gab Kreuzzüge, Massenmorde, und in der nächsten Generation hieß es: War nicht ganz OK, aber die Grundidee war gut und wir bleiben eine moralische Instanz. Zum Beispiel die Inquisition: Massenmord, Shoah in ganz Europa, sechs Millionen vernichtete Juden im Europa des 15., 16. und 17. Jahrhundert, und dann: Das war jetzt sehr aufwendig und hat sehr viel Infrastruktur zerstört, keine ärztliche Versorgung mehr, keine Apotheker, Handels- und Kulturbeziehungen vernichtet – aber die Grundidee ist schon sehr gut: Liebe deinen Nächsten. Die katholische Kirche hat die Waffen der Nazis gesegnet, mitgeholfen, die Juden ins KZ zu bringen und nach Kriegsende die Nazis nach Lateinamerika zu transportieren. Und hernach: Das war jetzt ein bissl unüberlegt, aber die Grundidee ist nach wie vor gut – eine Frohbotschaft für die Welt.
Was in einem katholischen Land wie Österreich nicht laut gesagt werden darf, sag ich trotzdem und bin dafür auch schon geohrfeigt worden, auch von meiner Frau: Ich bin der Meinung, daß heute jeder Katholik, der diese Religion öffentlich ausüben will, wegen NS-Wiederbetätigung vor Gericht gezerrt werden müßte. Das ist natürlich nicht der Fall, weil das wird schon in der nächsten Generation entschuldet. Man braucht dazu nur einen Beichttag.
Ich kann nachvollziehen, wenn ein heutiger Spanier sagt, er habe mit dieser Inquisition nichts mehr zu tun. Bis heute findet man in Spanien und Portugal massenhaft Häuser und Palacios, die christianisiert wurden. Achthundert Jahre lang, 42 Generationen wohnten da Juden. Dann gab es einen brutalen Schnitt, und seither sind Christen drin. Ich verstehe, dass das jetzt für die Spanier abgeschlossen ist. Das kann ich akzeptieren.
Aber wenn ein katholischer Kanzler, der von antisemitischen Professoren an der Wiener Uni ausgebildet wurde, sagt: Ich zahl jedem Opfer 105.000 Schilling und jetzt muaß a Ruah sein, dann versteh ich das nicht mehr. Das ist eben diese Kluft im Bewußtsein.
Das sagt er zu Menschen, die das Wissen verinnerlicht haben, daß das mehrere Generationen dauert. Und ich bin überzeugt, dass die Shoah uns nie verziehen werden wird.
Maimann: Was mich an dem Manasseh-Buch am meisten interessiert hat, ist die Idee, die beiden Shoahs zusammenzuhängen. Es ist verblüffend, wie sehr sie sich in ihren Abläufen ähneln, angefangen von der Aufhetzung der Bevölkerung, den zunächst „bloß“ diskriminierenden Bestimmungen, den bürokratisch penibel überwachten Auswanderungsmodalitäten inenrhalb einer bestimmten Frist, den verzweifelten Fluchtversuchen bis hin zum systematischen Aufspüren derjenigen, die kein „rein spanisches Blut“ in den Adern hatten und denen man, obwohl seit Generationen getauft, ihre jüdischen Vorfahren zum Strick machte. Die Inquisition ist ja fast völlig aus dem europäischen Bewußtsein herausgefallen.
Menasse: Dabei war sie der Beginn der Moderne. Durch die Inquisition entstanden die Ideen einer modernen, rationalen Staatsgewalt, eines zentralen Rechtsstaats. Die Opfer wie die Täter riefen nach dem Rechtsstaat. Die Opfer, weil sie sich nach einem verbindlichen Rechtszustand sehnten. Und die Täter auch, denn sie wollten ja keine Tiere sein. Bevor es ans Morden ging, brauchte man das entsprechende Gesetz dazu. Und jene Juden, denen es gelungen war, zu flüchten, entwickelten liberale Ideen, die philosophisch, geistesgeschichtlich in den Aufnahmeländern wirksam geworden sind: Wirtschaftsliberalismus. Freiheit des Denkens, Toleranz. Baruch Spinoza, der Sohn geflüchteter iberischer Juden, ist das bekannteste Beispiel.
Die europäische Moderne begann und endete mit einer Shoah. Wobei die Inquisition schon damals von den Rabbinern als Shoah, als Große Katastrophe, bezeichnet wurde.
Schindel: Zwischen diesen beiden Shoahs steht die Französische Revolution, von der es, wie ich glaube, einen direkten Weg zu Auschwitz gibt. Die Entwicklung der liberalen Ideen nach der Austreibung der iberischen Juden hatte natürlich auch Einfluß auf die Französische Revolution. In dem Moment, in dem die Menschenrechte verkündet wurden, nach denen jeder gleich geboren wird, egal, welcher Religion, mußte etwas anderes gefunden werden, um die Juden auszugrenzen. Der moderne Antisemitismus ist die Rückseite der Aufklärung.
Maimann: Jene Gesellschaften, die während der Inquisition die Flüchtlinge aufgenommen und ihnen dieselben Rechte zugestanden haben wie den eigenen Leuten, sind ungeheuer aufgeblüht: Die Niederlande, das Ottomanische Reich. Während das Spanien der drei Kulturen tot war. Vierhundert Jahre nach dem Beginn der Austreibung der Juden und Mauren blieb vom ungeheuren spanischen Imperium der klägliche, rückständige Hinterhof Europas.
Menasse: Spanien hat sich von der Inquisition bis heute nicht erholt.
Maimann: Die Inquisition hat also die Entstehung liberaler politischer Ideen entstehen lassen, die in den bürgerlichen Revolutionen und in der Emanzipation mündeten. Und dennoch war Auschwitz möglich. Es gibt die Auffassung, daß es erst nach Auschwitz möglich wurde, die Menschenrechte weltweit durchzusetzen.
Menasse: Ich lehne diese negative Sinnstiftung der Shoah strikt ab. Man muß sich von der Auffassung verabschieden, daß Katastrophen bleibende Erkenntnisse im öffentlichen Bewußtsein hervorrufen können. Der Grund liegt in der Generationenabfolge: Auschwitz und der daraus folgende Konses – wir bauen jetzt eine Welt, in der ein Auschwitz nicht mehr möglich sein wird – war die Erfahrung einer Generation. Und die wird von Generation zur nächsten dünner werden. So wie auch die Erfahrung Inquisition, die horribel war, unvorstellbar grausam. Als Bewußtseins-Katalysator funktionieren Katastrophen nicht.
Schindel: Ich würde einschränken: Sie funktionieren weniger, als man denkt. Es gibt schon einen jahrhundertelangen Prozeß der Zivilisation, der Zivilisierung des Umgangs der Menschen miteinander, der allerdings von der Shoah unterbrochen wurde. Und es gibt Völker, die aus Katastrophen identisch werden miteinander, dazu gehören auch die Juden. Ich glaube, ein Volk wie das Diaspora-Judentum, das alles aufschreibt und nichts vergißt und das als Überlebensstrategie braucht, kann aus Katastrophen auch lernen – solange es nicht ein Staatsvolk wird.
Maimann: Beide Shoahs haben auch der Illusion ein Ende bereitet, daß Assimilation auf Dauer eine sichere Lebensbasis für Juden nach ziehen könnte. Die Assimilation der Juden hatte bis in die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts riesige Fortschritte gemacht, gerade in West-und Mitteleuropa, bis hin zur Auflösung, zum bewußten Schritt weg von der Religion der Väter. Dieser Prozeß wurde durch Auschwitz brutal abgebrochen.
Schindel: Meine Mutter bezeichnet sich bis heute als „Hitlerjüdin“, als jemand, den der Hitler wieder zur Jüdin gemacht hat. Sie war von ihrem eigenen Selbstbild „nur“ jüdischer Herkunft oder Jüdin gegenüber einem Antisemiten, aber sonst nicht. Ich halte übrigens die Debatte, daß man sein Judentum nicht nach etwas Negativem wie der Shoah bestimmen kann, für ziemlich bescheuert. Ich finde, es ist vollkommen gleichgültig, woher man seine Identität hat. Von der Familiengeschichte her, da bin ich mir ganz sicher, wäre ich keine Jude mehr ohne Shoah.
Maimann: Ihre habt beide eine Mesusah an eurer Haustür angebracht. Ich habe auch eine zu Hause. Wir sind nicht religiös – warum eine Mesusah an der Tür?
Schindel: Ganz einfach. Ich will inmitten dieser österreichischen Bevölkerung kennzeichnen: Das ist ein jüdisches Haus. Obwohl ich nicht religiös bin. Weder küsse noch berühre ich die Mesusah bei Hinein-oder Hinausgehen. Sie ist einfach da, als Zeichen, auch an meiner Wohnungstür in Wien. Dort hat sie übrigens noch einen Nebeneffekt: Seit ich sie habe, lassen mich die Missionare der Mormonen und der Zeugen Jehovas in Ruh.
Menasse: Sozusagen eine Knoblauchfunktion (lacht). Auch meine Mesusah sagt: Das ist – auch – ein jüdisches Haus. Ich habe ja jüdische und nichtjüdische Großeltern. Die Auseinandersetzung mit meinen Wurzeln und den Katastrophen meines jüdischen Familienanteils führte dazu, daß sie zum Bestandteil dessen wurden, was man Identität nennt. Man kann sich nicht jahrelang damit beschäftigen, woher hab ich diesen Tonfall, diese Sprache, diese Interessen, wo sind da meine Großeltern, mein Vater, ohne daß das Auswirkungen hat. Auf die Frage, was ist jüdisch oder wann ist man jüdisch, gibt es unendlich komplizierte Antworten. Die Gesetze zu befolgen ist mir einfach zu anstrengend und war auch nicht Teil meiner Kindheit. Eines der wenigen simplen Dinge ist eben die Mesusah an der Tür. Und beim Schreiben setz ich eine Kippah auf. Aber nur beim Schreiben.
Maimann: Was du nicht sagst. Seit wann machst du das?
Menasse: Seitdem ich begonnen hab, das Buch über den Rabbi Manasseh zu schreiben. Ich hab sie als Kind von meiner Tante Lia aus Tel Aviv bekommen. Sie hat sich Sorgen gemacht, ob der kleine Robbi auch brav jüdisch erzogen wird. Diese Kippah ist ein Unikum. Rot und rundherum verziert mit Enzian und Edelweiß. Es gab damals einen österreichischen Schneider in Tel Aviv, der hat solche nostalgisches Kippahs hergestellt. Und mit der auf dem Kopf hab ich die Geschichte über den Rabbi geschrieben. Das hat zu dem Roman genau gepaßt.