VON MARTIN ENGELBERG
1. Noch nie waren soziale Medien in einem solchen Ausmaß Teil einer kriegerischen Auseinandersetzung. Es waren sicherlich hunderte, wenn nicht tausende Meldungen, Links, Fotos und Videos, die im vergangenen Sommer, allein in unserem Umkreis, täglich auf Facebook und Twitter gepostet wurden. Die oft gleichen Mitteilungen wurden dann auch noch über die diversen hyperaktiven Newsletter-Verteiler ausgesendet. Dazu führten viele zum Teil heftige Diskussionen im Netz. Es war manchmal schon augenermüdend und ohrenbetäubend.
2. Die Berichterstattung der Medien und die Stellungnahmen der Politiker in Europa waren deutlich verständnisvoller gegenüber dem Vorgehen Israels und kritischer gegenüber der Hamas als z. B. beim Gaza- Krieg 2008/2009 oder im Libanon- Krieg 2006. Zum Teil verdankt sich diese Tatsache sicherlich auch den tapferen Kämpfern an der Internetfront. Das Vorgehen der Hamas hat aber auch kaum Spielraum für Sympathien zugelassen.
3. Die Passivität und das Schweigen der meisten arabischen Staaten während des Gaza-Kriegs war ebenso auffallend wie bemerkenswert. Hier zeichneten sich noch deutlicher die fundamentalen Spaltungen zwischen den arabischen Ländern und deren diversen Organisationen und Allianzen ab. Die lustigeren Meldungen in dieser traurigen Zeit waren die Aufstellungen darüber, wer jetzt gerade mit wem verfeindet ist und welche teilweise grotesken Zweckbündnisse geschlossen wurden.
4. Diese Tatsache lässt eine der wenigen hoffnungsvollen Perspektiven nach dem Gaza-Krieg zu: dass die gemeinsame Interessenslage Ägypten und Israel zu engen Verbündeten macht und es auch mit Saudi-Arabien und den Golfstaaten vorerst noch diskrete, aber offensichtlich intensive Gespräche über die zukünftige Gestaltung des Nahen Ostens gibt. Noch ist diese Vision zu schön, um wahr zu sein, aber hier gilt der alte und noch immer ausgezeichnete Spruch: „Wer im Nahen Osten nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist!“
5. Zu einem globalen Thema wurde auch die Zunahme antisemitischer Vorfälle in Europa. Die US-amerikanische Zeitschrift Newsweek betitelte eine Ausgabe im Sommer mit der Feststellung: „Warum Europas Juden wieder fliehen“ – ohne Fragezeichen oder Konjunktiv. Bei einer wissenschaftlichen Tagung in Wien saß ich neben einer israelischen Kollegin, die ich auf hebräisch ansprach. Erschrocken beugte sie sich daraufhin ganz nahe zu mir und flüsterte: „Haben Sie hier nicht Angst, hebräisch zu sprechen?“
Das Fazit vieler Gespräche im In- und Ausland: Eine differenzierte Diskussion der Problematik ist schier unmöglich. Da wird der traditionelle Antisemitismus in Europa, der stark zurückgeht, mit dem Antisemitismus der muslimischen Zuwanderer vermengt, der sich – nicht zuletzt aufgehetzt durch den türkischen Premier Erdogan – zuletzt sehr viel deutlicher zeigte. Zu oft wird nicht unterschieden zwischen antisemitischen Vorfällen in Rechtsstaaten, wie sie jetzt geschehen, und der Zeit, als es in Europa judenfeindliche und faschistische Staaten gab.
Ebenso praktisch unmöglich ist es, die „Neue Rechte“ in Europa nicht als monolithischen Block und deren Zugewinne bei den letzten EU-Wahlen nicht als Wiederauferstehung der Nazis wahrzunehmen.
Bei all diesem Getöse gerät die wahre Bedrohung in den Hintergrund: Das ist jene, die von den hunderten, wenn nicht sogar tausenden fanatischen Jihadisten ausgeht, die sich in Europa befinden bzw. in den nächsten Monaten und Jahren von den Kriegsschauplätzen im Nahen Osten zurückkehren werden. Diese sind zumeist Staatsbürger europäischer Länder, deren Einreise nicht verhindert werden kann und haben bereits bewiesen, dass sie zu Anschlägen, besonders auch auf jüdische Einrichtungen, bereit und entschlossen sind.
Auf genau diese Gefahr müssten wir fokussieren und sicherstellen, dass diese nicht nur als Bedrohung der jüdischen Gemeinschaften in Europa, sondern als Gefährdung Europas insgesamt und seiner freiheitlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Werte wahrgenommen werden.