Nur wenige Wiener kennen den einst prominenten Namen der Familie Ephrussi. 70 Jahre nach ihrer Enteignung und Ausweisung ist ein Nachfahre zurückgekehrt. Nicht, um etwas zurückzufordern – im Gegenteil: Er machte Wien ein großes Geschenk.
Von Cornelia Mayrbäurl
„Ich stehe davor. Es ist der letzte Augenblick, wo ich mich noch umwenden … und dieses dynastische Haus und seine Geschichte lassen könnte. Ich atme tief durch, drücke auf die linke Tür … und stehe in einem langen, hohen, dunklen Gang.“ So beschreibt der Brite Edmund de Waal den Moment, in dem er das erste Mal das Haus Dr.-Karl-Lueger-Ring 14 betritt. Die Rede ist von jenem Palais, das gegenüber der Universität Wien die Ecke der Ringstraße mit der Schottengasse bildet, das im Erdgeschoß mit einem McDonald’s und der Filiale einer Großbäckerei Beliebigkeit simuliert, im Inneren jedoch verschwenderischen Prunk birgt: „Die Kamine massive Schaustücke in Marmor. Die Böden aufwendig gemustertes Parkett. Die Decken … kassettiert, schnörkelumschlungen, klassizistische Gischt.“ De Waal hat ein paar Jahre Zeit, sich von seinem ersten Eindruck zu erholen, bevor er im Oktober 2011 nach Wien zurückkehrt. Diesmal kommt er nicht allein, sondern bringt seine Frau, seine Kinder und seinen 82 Jahre alten Vater Victor mit zu einer Veranstaltung, die heikel ist und durchaus in die Hose gehen könnte. Die Anwaltskanzlei Benn-Ibler, die sich im Palais eingemietet hat, bittet Klienten und Freunde, ein soigniertes Publikum, zu einem Empfang mit der Familie de Waal. Denn in einem der Anwaltsbüros hat Victor de Waal in den 1930er-Jahren aus seinem Kinderzimmer noch die Feuerwehr zum Brandeinsatz vorbeirasen gesehen. Und das kaum jemandem als „Palais Ephrussi“ bekannte Gebäude gehörte Edmunds Großmutter Elisabeth aus der gleichnamigen jüdischen Bankiersfamilie, die oft in einem Atemzug mit den Rothschilds genannt wurde. Victors Kindheit wurde durch die allzu bekannte, schreckliche Geschichte unterbrochen: 1938 „Arisierung“ des Palais und endgültige Übersiedlung der Familie nach London, 1950 Restitution und kurz danach notgedrungener Verkauf des Baus von Theophil Hansen um ein Butterbrot.
Wie der Professor für Keramikkunst Edmund de Waal dazukam, die Familiengeschichte zu erforschen und was er alles dabei herausfand, beschreibt er in dem Buch „Der Hase mit den Bernsteinaugen“, das die Literaturbeilage der „Times“ glatt zum Buch des Jahrzehnts erklärte und das auch im deutschsprachigen Feuilleton ausnahmslos gepriesen wurde. 1994 erbt Edmund nämlich von seinem Großonkel Ignaz Ephrussi 264 Netsuke, ganz kleine japanische Schnitzereien aus Holz, Elfenbein oder Knochen, von denen eine einen Hasen darstellt, mit Augen aus Bernstein. Die Sammlung ist das Einzige, was von den im Palais angesammelten Kunstschätzen der Ephrussis in der Familie blieb. Während Nazi-Schergen im April 1938 das Palais plündern, lässt die Zofe Anna nach und nach die Miniaturen unter ihrer Bettmatratze verschwinden. Anna, deren Nachname Edmund de Waal bis heute nicht herausfinden konnte, gibt sie nach Kriegsende zurück. Der Keramikkünstler de Waal sagt über sich: „Ich stelle Objekte her. Was Objekte bedeuten und wo sie waren, ist sehr wichtig für mich.“ Deshalb forscht Edmund die früheren Aufenthaltsorte der Netsuke aus und begibt sich auf Reisen – nach Paris, nach Odessa, nach Wien.
Bevor der Empfang im fünf Stöcke hohen Innenhof des Palais beginnt, führt Edmund de Waal eine Handvoll Journalisten durch die Anwaltsbüros und die noch erhaltenen Prunkräume, die seine Großmutter und sein Vater als Kinder bewohnten. De Waal weist auf die opulent mit Früchten und Fischen bemalte Kassettendecke des Esszimmers hin, auf den Kamin, auf dem die Fabergé-Eier standen. Das ehemalige Billiardzimmer ist heute das Büro von Ivo Deskovic, einem Partner der Kanzlei. Einen Stock höher liegt das ehemalige Ankleidezimmer von Edmunds eleganter, adeliger Urgroßmutter Emmy, heute ein Büro, in dessen Regalen das Emissionszertifikategesetz und andere juristische Bücher stehen. Einst war es mit einem übermannshohen dreiteiligen Spiegel möbliert, mit einer Frisierkommode und mit einer schwarz lackierten Vitrine, in der auf grünen Samtborden die 264 Netsuke wohnten. Emmys Kinder, darunter Elisabeth, durften mit dem geschnitzten Hasen, dem Mönch, dem Tiger, dem Affen spielen, während sie ihrer Mutter vor dem Opernbesuch oder der Abendgesellschaft bei der Toilette zusahen. An diesem Ort zieht Edmund de Waal zwei der Netsuke aus der Hosentasche, und er klingt nicht bitter, sondern erfreut, als er sagt, wie wichtig es ihm sei, dass er diese Objekte an ihren früheren Ort zurückbringen habe können.
Während des Rundgangs im Palais sind die Gäste eingetroffen. Ivo Deskovic, der auch schon einmal, in Böhmen, den früheren Besitz der Familie und vielleicht auch deswegen den Kontakt zu Edmund de Waal gesucht hat, begrüßt das Publikum, das zum Teil von der Balustrade im ersten Stock auf die am Podium sitzende Familie de Waal hinunterblickt. Ein Vertreter des Hauseigentümers, einer Privatstiftung, spricht vom „schmerzhaften Schicksal“ 1938 und dass das Heim der Familie Ephrussi „eben konfisziert“ wurde. Man beginnt, sich unwohl zu fühlen. Was soll das hier? Edmund de Waal, seine Frau Susan, seine zwei Kinder und vor allem sein Vater Victor haben am Vormittag beim ganz privaten Rundgang die Tragik ihrer Familiengeschichte vor Augen geführt bekommen. Bescheiden und dankbar, erzählt Deskovic, seien sie gewesen. Jetzt wird diese Familie einer Wiener Gesellschaft vorgeführt, die nicht so aussieht, als wolle sie Unbequemes hören.
„Hätte ich vor acht Jahren erkannt, was ich mit dem Geschenk der Netsuke tatsächlich erhalten habe, wäre ich davongelaufen“, sagt Edmund de Waal am Beginn seiner Rede. Er sei völlig naiv gewesen und habe geglaubt, in sechs Monaten werde er zwischen Paris, Wien und Odessa die Geschichte dieser Objekte herausfinden können. Tatsächlich hat diese Spurensuche sein Leben auf den Kopf gestellt. De Waal hat nach dem phänomenalen Erfolg seines Buches die Professur aufgegeben und wird sich weiter als Literat betätigen.
Im persönlichen Gespräch stellt er fest, früher genau gewusst zu haben, wer er sei: ein in Privatschulen und Cambridge gebildeter Brite. Auch am Glauben war wenig zu rütteln – Vater Victor de Waal ist anglikanischer Pastor, denn Edmunds Großmutter Elisabeth konvertierte. „Mittlerweile weiß ich nicht mehr so richtig, wo ich hingehöre“, sagt der schlaksige Edmund, der ab und zu auch nicht weiß, wo er seine langen Arme und Beine hintun soll. Bei seinen Buchpräsentationen in den USA haben jüdische Leser, so heißt es, Edmund de Waal aufgefordert, zum Judentum überzutreten. Dennoch wirkt er angesichts dieser quasi selbstverschuldeten Unruhe in seinem Leben nicht unzufrieden. „Alles was ich wusste, war, dass Großmutter Jüdin war und reich. Mehr hat mein Vater nicht erzählt – traumatisierte Leute reden nicht. So gesehen hat das Schreiben des Buches funktioniert“, denn aufgrund der Recherchen dafür habe sein Vater begonnen, die Erinnerungen und sein Wissen über die Familie auszupacken. Nur einmal im Laufe eines für ihn sehr emotionalen Nachmittages weicht Edmund de Waal von seinem höflichen, aufmerksamen Auftreten ab, nämlich, wenn es um die Adresse des Palais Ephrussi geht: „Natürlich bin ich für eine Umbenennung. Den Namen Karl-Lueger-Ring halte ich einfach nicht aus. Die Worte, die meine Meinung dazu ausdrücken, die können Sie nicht abdrucken.“ Vor dem Publikum hingegen spricht er besonnen und kontrolliert darüber, wie schmerzvoll manche Teile der Familiengeschichte bleiben: Emmy von Ephrussi wurde bei der Erstürmung des Palais verprügelt und wird nach der Ausweisung aus Österreich im Oktober 1938 an einer wohl absichtlichen Überdosis Tabletten sterben, ihr 78 Jahre alter Mann wurde tagelang von der Gestapo verschleppt.
Es sei aber nicht die Ephrussi-Dynastie, die Bank oder der Raub, worum es gehe, sagt de Waal in seiner Rede. Mit dem, was de Waal dann sagt, mit Tränen in den Augen, rettet er die Veranstaltung, gibt ihr Würde und Sinn, indem er nicht als der Beschenkte auftritt, der im einstigen Haus seiner Familie herumgehen und sprechen darf, sondern der Gebende ist. „Jede Familie“, sagt de Waal, „hat eine Geschichte, und ich habe meine bekommen, als ich die Netsuke geerbt habe.“ Restitution bedeute, etwas zurückzubekommen, was einem gestohlen worden sei. „Es gibt aber noch eine andere Art der Rückerstattung, und diese nehme ich heute vor: Mit meiner Familie gebe ich unsere Geschichte diesem Ort zurück.“ Solche Restitutionen seien entscheidend dafür, wie eine Stadt sich selbst verstünde und wie sie ihre Verantwortung jenen Menschen gegenüber wahrnehme, die in ihr leben. Tatsächlich: Edmund De Waal hat Wien ein wunderbares Geschenk gemacht.
Edmund de Waal
Der Hase mit den Bernsteinaugen.
Zsolnay, Wien 2011
352 Seiten, 20,50 €