Fünf Thesen und eine Empfehlung für unsere Gemeinde nach der Bundespräsidentenwahl.
Erstens: Es gibt in Österreich keine antisemitische Partei und mit Antisemitismus lassen sich heute keine Wahlen mehr gewinnen. Und noch viel mehr: Beide Kandidaten haben Sympathien für Juden und Israel gezeigt und damit nicht automatisch die Wahl verloren. Wer in den vergangenen Jahrzehnten hier in Österreich gelebt hat, kann ermessen, welche Entwicklung dies bedeutet.
Zweitens: Wir müssen unseren Blick auf die FPÖ kalibrieren: Sind uns die deutschtümelnden FPÖler sympathisch oder werden sie gar unsere Freunde werden? Nein. Sind sie eine Gefährdung für Demokratie und Rechtstaat in Österreich? Nein. Soll man ein aufmerksames Auge auf sie haben? Ja. Sollen oder wollen wir uns ausschließlich oder auch nur überwiegend damit beschäftigen, oder die Beschäftigung mit der FPÖ in das Zentrum unseres politischen Handelns stellen? Nein. Hat die FPÖ in den letzten 30 Jahren eine Entwicklung weg von Antisemitismus und mangelnder Abgrenzung zur Nazi- Zeit gemacht? Ja. Wird die FPÖ in der Zukunft den Weg eines Gianfranco Fini gehen, der die italienischen Neofaschisten in eine respektable demokratische Regierungspartei verwandelte? Hoffentlich ja.
Drittens: Die Konfrontation mit der FPÖ und deren rechtspopulistischer Politik ist eine Aufgabe gesamtösterreichischer Gesellschaftspolitik. Wir Juden sollten uns als Teil dieser Gesellschaft begreifen, die diese Auseinandersetzung zu führen hat, und nicht versuchen, uns in einer Opferrolle in den Mittelpunkt zu drängen. Weiters sollten wir erkennen, dass es hier oft auch nur um einfache Parteipolitik geht. Manche von uns werden wohl noch gut in Erinnerung haben, wie die heutigen großen antifaschistischen Kämpfer so gar nichts daran fanden, als der SSler Friedrich Peter Nationalratspräsident werden sollte und der Neonazi-Verteidiger Harald Ofner Justizminister wurde. Es war halt in einer Koalition mit der SPÖ.
Viertens: Es ist in mehrfacher Hinsicht falsch und völlig kontraproduktiv, wenn die jüdische Gemeinde in Österreich alle paar Monate Alarm schlägt und haltlos und undifferenziert von einem dramatischen Anstieg des Antisemitismus spricht. Der letzte entsprechende Bericht wurde – leider erst nach der Veröffentlichung – in einer Sitzung des Kultusvorstandes diskutiert und hielt einer sachlichen Überprüfung in keiner Weise stand. Der einzig zuverlässige Parameter, nämlich jener über die Zahl tätlicher Übergriffe, ging vielmehr stark zurück, von neun im Jahr 2014 auf zwei im Jahr 2015. Gibt es Antisemiten in Österreich? Ja. Steigt der klassische Antisemitismus? Eindeutig nein. Gibt es einen Antisemitismus unter Moslems? Ja – und er ist signifikant höher als im Rest der Bevölkerung. Genau für dieses Problem sollten wir mithelfen, Antworten zu finden, und dabei sind undifferenzierter Alarmismus und Hysterisierung die gänzlich falschen Zugänge.
Fünftens und zu guter Letzt: Nicht nur in Österreich müssen sich die jüdischen Gemeinschaften im 21. Jahrhundert neu definieren. Die Erinnerung an die Schoa, der Kampf gegen den Antisemitismus und der Kampf für Israel haben als die wesentlichen Identifikationsmerkmale des assimilierten Judentums der letzten 70 Jahre zunehmend ausgedient. Nicht dass die schmerzliche Erinnerung an die Schoa nicht noch in uns wäre, auch in den jüdischen Menschen der zweiten, dritten und teilweise schon vierten Generation. Es ist jedoch immer wieder beeindruckend zu sehen, wie schnell sich gerade religiöse jüdische Menschen, die oft sehr stark vom Holocaust betroffen waren, wieder nach vorn gewandt haben, eine neue Existenz und neue große Familien aufgebaut haben. Es wird wohl den Religiösen deswegen so gut gelungen sein, weil sie ihre jüdische Identität rein über das religiöse Leben definieren. Der Verdacht liegt daher nahe, dass sich die nichtreligiösen Juden eben über die Schoa, Kampf gegen Antisemitismus und Israel identifizieren mussten.
An dieser Stelle steht eine große Aufgabe vor uns: Wir sollten uns eine aktive, kreative, zukunftsorientierte jüdische Identität aufbauen. Basierend auf unseren wunderbaren Werten und Traditionen, der jüdischen Lehre und auch der Praxis eines bewusst jüdischen Lebens. Zu einem solchen zählt auch die Arbeit an der Gemeinschaft, das respektvolle Austragen von Meinungsverschiedenheiten, die Wertschätzung gegenüber dem Anderen, das Arbeiten an der Einheit und nicht zuletzt der Beistand für jene, die Hilfe oder Zuwendung benötigen. Eine solche und nur eine solche Entwicklung wird uns helfen, unser Judentum zu erhalten.