Von Martin Engelberg
Über mehrere Wochen entstand der Eindruck, dass sich alles auf eine entscheidende Sitzung im Juni 2003 zuspitzen würde, in welcher der Kultusvorstand weitreichende und einschneidende Kürzungen und Kündigungen beraten und beschließen sollte. Ein kursorischer Überblick über eine Sitzung von erwarteter historischer Tragweite.
Ein Gedächtnisprotokoll:
1. Tagesordnungspunkt: Bau einer Synagoge in Baden.
Es herrscht einigermaßen Verwunderung darüber, dass in Zeiten, wo dramatische Kürzungen beschlossen und langjährige Mitarbeiter gekündigt werden sollen, der Neubau einer Synagoge in Baden diskutiert wird, für eine sehr, sehr kleine Gemeinde mit einem Kostenaufwand für die IKG von 500.000 Euro.
Ausführliche Diskussion, wobei bemerkenswerterweise gerade aus den Reihen der Präsidentenpartei Atid“ Kritik kommt. Nach ca. 45 Minuten wird der Antrag zur Abstimmung gebracht. Ergebnis: 11 Stimmen dafür, bei 23 Anwesenden.
Muzicant (Präsident): „Moment, wie ist das jetzt genau?“
Hodik (Amtsdirektor): „Na ja, 11 Stimmen dafür, bei 23 Anwesenden, das heißt der Antrag ist nicht angenommen.“
Muzicant: „Haben wir jetzt richtig gezählt? Bochor? (Bochor Alaew, Bucharische Liste) Hast du aufgezeigt?“
Bochor schaut verwirrt.
Muzicant: „Also so geht das nicht, wir müssen nochmals abstimmen.“
Teichner (Liste „Atid“): „Ari, willst du jetzt wieder abstimmen, so lange bis du eine Mehrheit hast?“
Muzicant: „Gib a Ruh‘! So, jetzt stehen einmal alle auf, die dafür sind.“
Ziemliches Durcheinander.
Muzicant: „Also gut, dann machen wir die Abstimmung nochmals und ich rufe alle namentlich auf.“
Muzicant beginnt aufzurufen. Einige Kultusvorsteher geben nur undeutliche oder zögerliche Antworten.
Aufgerufen wird Renate Erbst (Liste „Bund“), sie gibt keine Antwort.
Muzicant: „Was ist, Renate?“
Erbst: „Frag mich später.“
Muzicant ruft weiter auf. Die Antworten der Kultusvorsteher sind zumeist undeutlich oder gar nicht wahrnehmbar.
Am Ende rechnet Muzicant nach: „Ich zähle jetzt 13 Ja-Stimmen bei 23 Anwesenden. Der Antrag ist angenommen!“
2. Tagesordnungspunkt: Die Causa Michel Friedman.
Muzicant plädiert vehement dafür, dass sich die IKG mit Friedman solidarisch erklärt, bemängelt, dass sich die anderen jüdischen Gemeinden in Europa sehr zurückhaltend verhalten. Kultusvorstand Alexander Friedmann (Alternative) sieht deutliche Anzeichen einer Verschwörung gegen die jüdische Gemeinde und Friedman in Deutschland. Muzicant möchte Friedmanns Wortmeldung gleich als Stellungnahme der IKG verwenden. In einem wilden Durcheinander beginnen die 23 Kultusvorsteher an dem Text zu arbeiten, bis Friedmann vorschlägt, den Text draußen fertig zu stellen, worauf er mit einigen anderen Kultusvorstehern die Sitzung verlässt und in einen anderen Raum geht.
3. Tagesordnungspunkt: Technische Angelegenheiten.
Dabei werden ausführlich anstehende Arbeiten in den Häusern der IKG diskutiert. Ein Unterpunkt, der Verkauf eines 1/8 Anteils der Kultusgemeinde an einer Liegenschaft, wird besonders diskutiert. Bisher sind bereits ca. 2 Stunden der Sitzung vergangen.
4. Tagesordnungspunkt: Präsidialbericht. Der Präsident berichtet über die laufenden Verhandlungen mit der Bundesregierung und über den großen Erfolg der Solidaritätsaktion, im Zuge derer mehrere hundert Unterschriften prominenter Österreicher eingegangen sind. Die Kronen Zeitung habe sich bereit erklärt, sie zu veröffentlichen (anerkennendes Raunen im Kultusvorstand). Künstler und Intellektuelle haben eine eigene Unterstützungsaktion gestartet.
Frage Kultusvorsteher Roth (Liste „Atid“): „Und hat das in den Verhandlungen mit der Regierung etwas bewegt?“
Muzicant: „Nein.“
Mittendrin kommt Kultusvorsteher Friedmann mit den anderen Kultusvorstehern mit dem Entwurf für die Resolution in Sachen Michel Friedman wieder zurück, die Diskussion über die Verhandlungen mit der Regierung wird unterbrochen. Friedmann liest den Text vor, einige Kultusvorsteher äußern Bedenken, dass der Text zu sehr an Verschwörungstheorien hängt, darauf wird der Text von den 23 Kultusvorstehern diskutiert, korrigiert, umgeschrieben usw. Die Situation wird unüberschaubar, irgendwann wird die Diskussion abgebrochen, Friedmann damit beauftragt, den Text allein fertig zu stellen.
Nunmehr soll über künftige Kürzungen und Kündigungen gesprochen werden, worauf das Publikum, mit Ausnahme früherer Kultusvorsteher, die berechtigt sind, auch geschlossenen Sitzungen beizuwohnen, den Festsaal verlassen muss. Muzicant weist darauf hin, dass hinsichtlich der Kündigungen keine Namen und keine Details genannt werden dürfen, so dass auch in der geschlossenen Sitzung vollkommen unklar bleibt, ob und wie viele oder welche Mitarbeiter der IKG gekündigt werden sollen.
Bei den Budgetpunkten Tempel und Zeitung „Die Gemeinde“ wird jeweils der Beschluss gefasst, die Kürzungen nicht vorzunehmen, sofern es dem Tempelvorstand bzw. der Redaktion der „Gemeinde“ gelingen sollte, ihr jeweiliges Defizit durch Fundraising abzudecken. Im Zuschauerraum befindet sich die Fundraiserin der IKG, Hanni Haber, sie runzelt die Stirn und ist skeptisch, ob die von ihr angesprochenen Gemeindemitglieder auch noch von anderen Institutionen der IKG angezapft werden können.
In Sachen Tempel wird ein offener Brief an den Kultusvorstand verlesen, der von etwa 80 Gemeindemitgliedern unterzeichnet ist, die sich dafür aussprechen, den Oberkantor des Stadttempels, Barzilai, nicht zu kündigen. Der Präsident zeigt sich sehr verärgert darüber, dass in der Gemeinde bekannt wurde, dass der Oberkantor gekündigt werden soll. In der Sache selbst äußert er seine Meinung dahingehend, dass in allen Bereichen gekürzt werden müsse und daher im Stadttempel keine Ausnahme gemacht werden könne. Darüber hinaus würden die Besucher des Stadttempels jährlich nur 20.000 Euro an Spenden aufbringen, was geradezu lächerlich im Verhältnis zu den dort anfallenden Kosten wäre. Er ärgere sich darüber, dass diese Leute die IKG seit Jahrzehnten nur als Melkkuh ansähen und keinen eigenen Beitrag leisten wollten. Dann werden die Namen der Unterzeichner verlesen. Dabei erfolgen immer wieder Zwischenrufe
wie „Der geht doch eh nie in den Tempel“ oder „Die sind doch gar keine Mitglieder in der IKG“ oder „Die haben mir gesagt, dass sie gar nicht wissen, dass sie auf dieser Liste stehen“. Zwei Kultusvorsteher geben zu bedenken, dass die Kultusgemeinde mit der Kündigung des Oberkantors eine sehr alte Tradition bricht, die immer ein besonderes Merkmal des Stadttempels war. Eine weitere Diskussion erfolgt nicht.
Nächster Punkt: Chabad. Es klingt, als ob ein Krieg ausgebrochen wäre. Im Zusammenhang mit Rabbiner Biderman wird nur noch von Austricksen, Hintergehen, von jemandem, der der IKG großen Schaden zufüge, gesprochen und davon, wie die IKG „zurückschlagen“ werde. Nachdem Chabad ein zusätzliches Haus angemietet hat und nachdem berichtet wurde, dass es ein Treffen zwischen Biderman, Ronald Lauder und Bundeskanzler Schüssel gegeben habe, geht man davon aus, dass sich die Chabad-Gemeinde immer mehr selbständig machen möchte. Die IKG beschließt, Chabad alle Subventionen zu streichen und in keiner Weise mehr zusammenzuarbeiten. Zwei nachdenkliche Wortmeldungen von religiösen Mandataren des Kultusvorstandes verhallen ungehört. Inzwischen ist es Mitternacht, der Zuschauerraum hat