Eine Geschichte und tausend Quellen

Der Qasr al-Farid ist eine der berühmtesten Ruinen in Mada'in Salih. Hier, vor dem „Einsamen Palast“, erforscht Daniel Gerlach das rätselhafte Schicksal der Thamud. ©SAMMY SIX/CC BY 2.0

Der Orientalist Daniel Gerlach hat eine persönliche Entdeckungsreise durch den Nahen Osten unternommen. Eine spannende Suche nach dem gemeinsamen Erbe der Religionen und Kulturen.

Von Michael Pekler

Als der Reisende nach der langen Fahrt mithilfe von Google Maps endlich Chaibar erreicht, ist er enttäuscht. Unzählige Geschichten sind über die legendäre, überwiegend von Jüdinnen und Juden besiedelte Oasenstadt in Saudi-Arabien überliefert. Heute führt, durch die steinige Wüste und vorbei an verfallenen Lehmhäusern, nur noch eine schlechte Straße in jene historische Ortschaft, „deren berühmter Name in keinem wirklichen Verhältnis zu ihrer heutigen Bedeutung steht“.

In der Zeit Mohammeds war Chaibar hingegen eine prächtige Stadt, reich geworden durch den Karawanenhandel mit Früchten, vor allem den berühmten Datteln. Die Festungen gehörten zum Teil den jüdischen Banu Nadir von Medina, die der Prophet im Jahr 625 von dort vertrieben hatte. Als er im Frühjahr 628 vor Chaibar aufmarschierte, ließ er gleich einmal die Dattelpalmen fällen.

„Chaibar war nicht die erste Konfrontation Mohammeds und seiner Gefolgschaft mit den Juden der Arabischen Halbinsel“, schreibt Daniel Gerlach, der den symbolträchtigen Ort für Die letzten Geheimnisse des Orients besucht hat. „Es war vielmehr das Ende eines tragischen Kapitels, welches in der Rückschau auf 1400 Jahre europäischer und nahöstlicher Geschichte besonders kontrovers betrachtet wird.“

Nun ist jede Rückschau bekanntlich eine Frage der Perspektive. Unter welchem Aspekt betrachtet man die Verbindungen zwischen den großen monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam? Will man auf die Unterschiede hinweisen oder die Gemeinsamkeiten erkennen? Und welche Rolle spielen, möchte man bei der historischen Wahrheit bleiben, die unzähligen Mythen und Legenden, die von dieser möglicherweise nicht mehr zu unterscheiden sind?

Daniel Gerlach hat zur Beantwortung dieser Fragen das literarische Genre des Reiseromans gewählt. Der Historiker, Orientalist und Nahost-Experte hat sich auf die Spurensuche rund um das östliche Mittelmeer begeben, mit Abstechern nach Saudi-Arabien und in den Irak. Schlägt man das Buch auf, kann man sofort auf einer Karte die Route anhand einer rot gepunkteten Linie verfolgen, die achtzehn klingende Namen miteinander verbindet, darunter Tataouine, Philae, Chaibar, Petra, Babylon und Ephesus. Und dazwischen natürlich Kairo, Jerusalem und Istanbul. Und an jedem Ort, über den Daniel Gerlach schreibt und in dessen Geschichte er eintaucht, möchte man sofort gewesen sein.

Das liegt vor allem an der Kunst des Erzählens, mit der Gerlach diese kulturhistorisch bedeutenden Städte und Stätten beschreibt, von denen – wie etwa im Fall von Babylon – in der Gegenwart oft nicht mehr übrig ist als Legenden. Und deren Geschichten mit jedem weiteren Schauplatz zu einer einzigen großen, gemeinsamen Erzählung werden: Würde man auf einer Landkarte jeden Ort mit einer Stecknadel versehen und mit einem Faden verbinden, man hätte ein dichtes Netz aus Legenden und Mythen über Gläubige und Götter geknüpft.

Und so tun sich im Laufe der Lektüre auch Verbindungslinien zwischen den Menschen auf, denen Gerlach auf seiner Reise begegnet: Vom Steuerfachgehilfen, der ihm in Tunesien die Grabmäler der Siebenschläfer-Moschee zeigt, führt der Weg zur Ägyptologin, die ihn in das Heiligtum von Philae begleitet und die als Wissenschaftlerin dennoch Touristensouvenirs kauft, weil „in Ägypten fast jeder ums Überleben kämpft“. In Sulaimaniyya, der kurdischen Millionenstadt und Hauptstadt der gleichnamigen irakischen Provinz, versucht der reisende Autor mit einer Mischung aus Türkisch, Arabisch, Kurdisch und Persisch mit einem Mann ins Gespräch zu kommen, um von ihm schließlich zu erfahren, dass der zoroastrische Glaube „der beste und älteste“ sei. Während die Kinderschar im arabischsprachigen Harran an der türkischen Grenze zu Syrien wiederum stolz ihr Kulturerbe präsentiert: Hier stand der Tempel des Mondgottes Sin und soll sich die Familie des Terach niedergelassen haben. Von hier soll dessen Sohn Abraham nach Kanaan aufgebrochen sein. 

Tatsächlich liest sich jedes Kapitel wie ein Abenteuerbericht, in dem sich Geschichte und Gegenwart, Land und Leute langsam zu einem Gesamtbild formen. Denn die Fundamentalisten und Pragmatiker, die Monarchen und Propheten, die Dogmatiker und Häretiker – überall haben sie ihre bis heute sichtbaren Spuren hinterlassen, die nicht nur den religiösen Alltag der Menschen bestimmen. Doch Die letzten Geheimnisse des Orients ist, wie Daniel Gerlach im letzten Kapitel schreibt, weder ein Buch, das „die orientalischen Ursprünge der europäischen Kulturgeschichte enzyklopädisch abbilden“ soll, noch ein „Ranking der bedeutendsten Schauplätze“.

Der Islamwissenschaftler und Herausgeber des unabhängigen Nahost-Magazins zenith hat für seine Reise persönliche „Sehnsuchtsorte“ ausgewählt – ausgenommen Damaskus, Palmyra und Aleppa, die aufgrund des Syrien-Krieges unerreichbar waren. Ein Auswahlverfahren, das sich bei der Lektüre als großer Vorzug erweist, denn bei allem historisch-wissenschaftlichen Kenntnisreichtum sind es immer wieder die persönlichen Beobachtungen und leicht ironischen, aber nie selbstgefälligen Formulierungen, die diesem Buch eine Leichtigkeit verleihen.

„Christliche und jüdische Autoren in der Welt des Mittelmeers waren sich nicht in vielem einig“, heißt es etwa im Kapitel über eine der bedeutendsten Städte des Altertums, „ihr Ekel gegen Babylon scheint jedoch einhellig gewesen zu sein.“ Im Zweistromland stellt sich für Gerlach sogar die Frage, ob sich das Judentum – nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem und der Verschleppung durch Nebukadnezar – nicht im babylonischen Exil neu erfunden und jene Gestalt angenommen habe, die es bis heute prägt: „Der obdachlose Jahwe hatte folglich keine andere Wahl, als seinen Anhängern zu folgen und in den Himmel aufzusteigen. Denn einem Gott ohne Menschen, die an ihn glauben, dürfte es psychisch noch schlechter gehen als einem Künstler ohne Publikum.“ Und dass es seit der Vertreibung der Juden aus Palästina bis zu Gründung Israels im Jahr 1948 nie wieder einen jüdischen Staat gegeben habe, wird zwar oft, aber fälschlicherweise behauptet: Auch über das jüdische Königreich Himyar auf der Arabischen Halbinsel weiß Gerlach einiges zu erzählen.

Die letzten Geheimnisse des Orients endet mit einem Besuch in der Philoxenos-Zisterne in Istanbul. „Ich kenne kein besseres Bild als dieses, um auch das Verhältnis der Religionen zu beschreiben“, so Gerlach, der an Freuds Bild von der Stadt als Spiegelbild der menschlichen Psyche denken muss. Und es ist tatsächlich ein schönes Ende für ein Buch, das davon erzählt, wie das Alte im Untergrund bestehen bleibt, nicht verschwindet, sondern sich in etwas Neuem fortsetzt. Wie es die Gemeinsamkeiten und Konflikte der Religionen bestimmt, die auf dieselben Geschichten aus tausenden Quellen zurückgreifen.


Daniel Gerlach
Die letzten Geheimnisse des Orients
Meine Entdeckungsreise zu den Wurzeln unserer Kultur
C. Bertelsmann
368 S., EUR 24,70

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