Die Bezeichnungen Palästinenser und Palästina gehen uns heute selbstverständlich über die Lippen. Doch Palästina als Beschreibung erlebte über die Jahrhunderte eine interessante und umstrittene Entwicklung.
Von Johannes Gerloff (Jerusalem)
Im 5. Jahrhundert v. d. Z. schrieb der griechische Reisende Herodot von Halikarnassos vom „palästinischen Syrien“: Er betrachtete den Küstenstreifen „bis nach Ägypten“ als Teil Syriens. Bis ins 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung verwendeten politische Autoren für das Gebiet ausschließlich den Provinznamen Ιουδαία/Judäa. Die Küstenebene am Ostrand des Mittelmeers betrachteten sie als Teil Phöniziens.
Gemeinhin wird angenommen, der Name Palästina sei eine Ableitung von „Land der Philister“, das auf Hebräisch פְּלֶשֶׁת/Peleschet heißt.
Als Hadrian im Jahr 135 nach dem zweiten jüdischen Aufstand unter Schimon Bar Kochba die Provinz Judäa in „Syria Palaestina“ umbenannte, habe der römische Kaiser – der Theorie des britischen Archäologen David Michael Jacobson zufolge – lediglich eine „Rationalisierung des Namens“ vorgenommen. Allerdings führte Roms Kaiser nicht nur den Namen Palästina als politischen Begriff ein – er gab auch dem biblischen Sichem den Namen Neapolis. Da das Arabische B und P jedoch nicht unterscheidet, heißt die Stadt bis heute Nablus. Jerusalem wurde von Hadrian in eine Militärkolonie mit Namen Aelia Capitolina umfunktioniert. Infolgedessen wurde die Stadt nach der Eroberung durch die Araber im 7. Jahrhundert Ilia genannt. Auf dem Tempelberg errichtete Hadrian einen Jupitertempel, an der Stelle der heutigen Grabeskirche einen Venustempel. Juden war der Zugang zur Heiligen Stadt bei Todesstrafe untersagt.
Das gibt der Annahme Nahrung, dass der römische Kaiser nach dem Bar-Kochba-Aufstand den Widerstand des jüdischen Volkes und seine Verbindung zum Land Israel brechen wollte. Jedenfalls trägt seit dieser Zeit der Begriff Palästina das Stigma, jeden jüdischen Anspruch auf Eretz Jisrael auslöschen zu wollen.
Reiseführer aus der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nannten das Gebiet zwischen Ägypten und dem Zweistromland Palästina. Damals war das allerdings ein geografischer Begriff, vergleichbar den Begriffen Schwarzwald, Alpen oder Salzkammergut. Der Begriff Palästinenser in seiner heutigen Bedeutung für eine ethnische Gemeinschaft taucht in der damaligen Reiseliteratur nicht auf. Die Araber – so Jesaias Press in seinem Neuen Palästina-Handbuch von 1934 – „machen ungefähr drei Viertel der Bevölkerung aus und teilen sich in Madain (Städter), Fallachin (Fellachen, Bauern) und Beduinen (Wüstenbewohner, Nomaden).“
Gewiss waren die „nomadisierenden Beduinen“ für die Palästinaforscher des frühen 20. Jahrhunderts am interessantesten, haben sie doch die arabische Eigenart am reinsten bewahrt. „Die arabischen Dorfbewohner werden Fellachen genannt (von dem semitischen Worte falach = Boden bearbeiten)“, heißt es im jüdischen Reiseführer von Sev Vilnay: Sie seien „keine reinen Araber, denn sie haben sich seit Generationen mit den Resten verschiedener Volksgruppen, die in Palästina ansässig waren, darunter mit jüdischen Elementen, vermischt.“
Über die dritte Gruppe der arabischen Bewohner Palästinas schreibt Vilnay: „Die städtischen Araber (Madanije) sind ebenfalls keine reinen Araber. In den großen Städten wohnen einige angesehene Familiengeschlechter, die sich für die Nachkommen jener Araber halten, die das Land erobert haben.“
Mandat des Völkerbunds
Am 24. Juli 1922 erklärte der Völkerbund das „Gebiet von Palästina, das vordem zum türkischen Kaiserreich gehörte“ zum britischen Mandatsgebiet. Mit Bezug auf die Balfour-Erklärung vom 2. November 1917 war das Ziel die „Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“.
Ursprünglich umfasste dieses Völkerbundmandat nicht nur das Territorium des heutigen Staates Israel und die Palästinensische Autonomie, sondern auch das gesamte Staatsgebiet Jordaniens: Die Mandatserklärung vom 24. Juli 1922 sprach vom Gebiet „zwischen dem Jordan und der Ostgrenze Palästinas“. Wenn die PLO also Palästina später als das Gebiet beschrieb, das der Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg den Briten als Mandat anvertraut hatte, betraf das auch Transjordanien, das heutige Jordanien.
Während der Debatte der UN-Vollversammlung über den Teilungsplan 1947 verwies der syrische Delegierte darauf, dass Palästina eine syrische Provinz sei. Es gebe geografische, historische, ethnische und religiöse Verbindungen. Ohne Balfour-Erklärung und Palästina-Mandat gebe es keinen Unterschied zwischen Palästinensern und Syrern. Das ist eine Denkweise, die einem bis heute unter alteingesessenen Einwohnern der Levante begegnet.
In der Zeit des britischen Mandats bis 1948 wurde jede Person mit palästinensischer Staatsbürgerschaft als Palästinenser bezeichnet, unabhängig von ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit. Erst die Identifikation der Juden in Palästina als Israelis ließ das Adjektiv palästinensisch unbenutzt und erlaubte den palästinensischen Arabern, es exklusiv für sich zu beanspruchen.
Entstehung des Staates Israel
Während des israelischen Unabhängigkeitskrieges kämpften Araber gegen die politischen Ambitionen des jüdischen Volkes. In den 1950er Jahren waren es Fidaijun, die vom ägyptisch besetzten Gazastreifen und dem jordanisch besetzten Westjordanland aus nach Israel einfielen.
Die PLO wurde 1964 auf Betreiben des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser gegründet. Ihr erster Generalsekretär Ahmad Schuqairi war 1907 im Südlibanon als Sohn eines arabischen Vaters und einer türkischen Mutter geboren worden. Ab 1957 war Schuqairi Staatsminister in Saudi-Arabien und repräsentierte dieses Land auch bei den Vereinten Nationen.
Die Entwicklung vom Nasser’schen Panarabismus hin zum palästinensischen Nationalismus wird deutlich, wenn man die ursprüngliche Version der Palästinensischen Nationalcharta, die im Juni 1964 in Ostjerusalem beschlossen wurde, mit deren Revision vom 17. Juli 1968 in Kairo vergleicht.
1948 verwendete die UNRWA (United Nations Relief and Works Agency – Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten) den Terminus „arabische Flüchtlinge“, nicht „Palästinenser“. Vor 1967, solange das Westjordanland und Ostjerusalem von Jordanien besetzt und dann annektiert und der Gazastreifen von Ägypten verwaltet wurden, forderte niemand einen Palästinenserstaat, weil die Existenz einer palästinensischen Nation der Welt unbekannt war.
Ethnische Größe
Als Bezeichnung einer ethnischen Größe, eines Volks, taucht der Begriff Palästinenser im deutschen Sprachraum nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals in den letzten Wochen des Jahres 1974 auf. Nach Jassir Arafats Rede vor der UN-Vollversammlung am 13. November nahm der damalige deutsche Botschafter bei den Vereinten Nationen, Rüdiger Freiherr von Wechmar, Bezug auf die Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht für „das palästinensische Volk“. Fast zeitgleich beantwortete Arafat vor der UNO die Frage, was Palästina sei und wem es gehöre, mit den Worten: „Die Grenzen interessieren uns nicht. Palästina ist nur ein winziger Tropfen im großen arabischen Ozean. Unsere Nation ist die arabische Nation, die vom Atlantik bis zum Roten Meer und weiter reicht.“
Noch Ende 1992 erklärte Syriens Präsident Hafez Al-Assad: „Wir Araber haben denselben Ursprung. Unsere Sprache, unsere Geschichte, unsere Hoffnungen sind eins. Wenn der Präsident von Syrien einen Fehler macht, werden ihn die arabischen Bürger von Algerien oder Marokko genauso zur Rechenschaft ziehen, wie syrische Staatsbürger.“
Legendärer Revolutionär
Bis heute wird der Begriff Palästinenser den Beigeschmack anti-israelischer Propaganda nicht los. Araber, die rein technisch Palästinenser sind, weil sie seit den Verträgen von Oslo keine andere Staatsbürgerschaft besitzen und ihre historischen Wurzeln in Palästina haben, bezeichnen sich nur ungern als Palästinenser, wenn sie eine gute Beziehung zum jüdischen Staat haben. Man denke an Beduinen, die jahrzehntelang in der israelischen Armee gedient haben, obwohl sie aus Gebieten stammen, die Israel erst 1967 besetzt hat. Nichtjüdische israelische Politiker, wie der Druse Ajoub Qara, würden sich nie als Palästinenser bezeichnen.
Andererseits betonen Araber, die zwar die israelische Staatsbürgerschaft besitzen, sich aber mit der Existenz eines jüdischen Staates nicht anfreunden mögen, seit einigen Jahren ihre palästinensische Identität. Sie bezeichnen sich als Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft oder als Palästinenser, denen die israelische Staatsbürgerschaft aufgezwungen wurde.
Die amerikanische Time-Journalistin Nancy Gibbs schrieb: „Golda Meir hat einmal behauptet, so etwas wie einen Palästinenser gebe es nicht. Damals hatte sie gar nicht Unrecht. Bevor Arafat mit seiner Missionsarbeit begann, hielten sich die meisten Araber aus dem Gebiet von Palästina für Glieder der allumfassenden arabischen Nation. Es war Arafat, der den intellektuellen Schritt zur Definition der Palästinenser als ein besonderes Volk machte. Er formulierte die Sache der Palästinenser, organisierte sie, kämpfte für sie und brachte sie in die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit, wie das kein Kurde oder Baske jemals geschafft hat.“
Zweifellos ist das Phänomen einer palästinensischen Nation undenkbar ohne den legendären Revolutionär mit dem Stoppelbart und dem schwarz-weißen Tuch.