Esther Abrami gilt als Newcomerin der Klassik-Szene. Mit mehr als einer Million Followern auf Social Media wie Instagram, TikTok und Facebook ist die 28jährige Französin einer der gefragtesten Klassik-Stars weltweit.
von René Wachtel
Esther Abrami war nicht einmal fünf Jahre alt, da zeigte ihr die Großmutter ihre Violine und spielte ihr vor. Die Großmutter, Francoise, selbst ausgebildete Musikerin, hatte ihre Karriere nach ihrer Heirat aufgegeben. Der Klang, die Form, die Ausstrahlung des Instruments – all das faszinierte das Mädchen so sehr, dass in ihr der Wunsch erwachte, Violine zu lernen. Die Eltern erfüllten den Wunsch, Esther bekam Violinunterricht. Wenig später eröffnete sie ihnen: „Ich werde Violinistin und in diesem Bereich ein Star!“ Ausgebildet wurde sie am Konservatorium Darius Milhaud in Aix-en-Provence, später folgten Studien in Manchester, London und 2016 der Masterabschluss am Birmingham Conservatoire. Großmutter Francoise erlebte noch Esthers erstes Album und war voll Stolz auf ihre Enkelin.
Heute, fast zehn Jahre später, steht Esther Abrami bei Sony Classical Music unter Vertrag und hat gerade ihr drittes Album, Woman, herausgebracht. Dieses Album ist mehr als eine Sammlung von Musikstücken. Es ist eine bewusste Entscheidung, Komponistinnen sichtbar und hörbar zu machen, deren Werke in der Musikwelt oft unbeachtet bleiben. Woman enthält 16 Musikstücke, alle von Frauen komponiert: „In meiner gesamten Ausbildung spielte ich nur Stücke von Komponisten. In der Klassikwelt gibt es keine Komponistinnen. Da habe ich mir gesagt, das kann es nicht sein. Es muss doch auch Werke von Frauen geben.“ So begann sie zu recherchieren und entdeckte eindrucksvolle Komponistinnen wie Pauline Viardot, Anne Dudley oder Hildegard von Bingen. Die Mystikerin Hildegard von Bingen, die im Mittelalter lebte, ist die älteste Vertreterin der Komponistinnen auf dem Album. Besonders bewegend ist die Aufnahme von Wiegala, einem Schlaflied der jüdischen Komponistin Ilse Weber, das im Konzentrationslager Theresienstadt entstand. Ilse Weber wurde in Auschwitz ermordet. Esther Abrami arrangierte das Stück für Violine – eine leise, eindringliche Erinnerung, auch in Gedenken an ihre eigenen Vorfahren. Aufgenommen wurde das Album mit dem ORF Radio-Symphonieorchester unter der Leitung von Irene Delgado-Jimenez. Die Zusammenarbeit mit einer Dirigentin war für Esther Abrami ebenso bedeutend wie das Aufnahmesetting in Wien: „Ich hatte schon viel von dem speziellen „Wiener Klang“ der Orchester aus Wien gehört. Und beim Zusammenspiel habe ich es gespürt. Vor allem beim Walzer, da ist dieser Wiener Klang besonders zu hören. Das ist etwas wirklich Einmaliges!“
Neben ihren zahlreichen Arrangements für Violine findet sich auf dem Album auch ein eigenes Werk: Transmission. Diese Eigenkomposition ist ebenfalls ein Ausdruck dessen, was sie antreibt – Musik als Form der Verbindung, des Erzählens, des Erinnerns. In diesem Geist veröffentlichte sie auch Wiegala als Single zum Holocaust-Gedenktag – begleitet von einem eindrucksvollen Video. Als Enkelin von Holocaust-Überlebenden ist es ihr ein besonderes Anliegen.
Reisen gehören mittlerweile zum Alltag ihrer Solokarriere. Mehr als einhundert Tage im Jahr ist sie unterwegs, oft mit nur wenig Probenzeit vor Konzerten. Eine besondere Erfahrung war ihre Konzertreise durch China im vergangenen Jahr, bei der sie in nur zehn Tagen in acht Städten auftrat. „Das war eine ganz neue Erfahrung. Ich hatte jeweils nur ein paar Stunden Zeit mich mit den Orchestern zusammenzuspielen – die Proben waren dementsprechend intensiv. Es hat immer wunderbar funktioniert. Und am Abend bei der Vorstellung war alles perfekt. Das chinesische Publikum ist auch anders als in Europa – ganz ruhig, kein Wispern. Sie wollen das Konzert wirklich erleben. Nachher gab es oft Geschenke aus dem Publikum und ich musste lange Zeit Autogramme geben“, erzählt Esther Abrami.
Im Juni dieses Jahres spielte sie vor 60.000 Menschen bei der Champions-League-Feier von Paris Saint-Germain – ein Moment, den sie nicht so schnell vergessen wird: „Das war so toll. 60.000 Menschen hören mir zu und waren ganz ruhig, als ich spielte.“ Der absolute Konzerthöhepunkt ihrer bisherigen Karriere steht ihr im November bevor: Sie tritt am 23. November mit Ensemble im legendären Olympia in Paris auf: „Das ist so aufregend. Dort, wo Edith Piaf, Charles Aznavour, Johnnie Halliday auftraten, darf ich als Klassik-Künstlerin auch ein Konzert geben. Es ist eine große Ehre. Aufs Olympia freue ich mich besonders!“
Auf die Frage, was sie mehr erfüllt – das Einspielen eines Albums oder ein Konzert vor Publikum – antwortet sie: „Beides mache ich sehr gerne. Das Einspielen eines Albums, das Erarbeiten der Musikstücke, das innige Proben mit dem Orchester, das erfordert sehr viel Konzentration und Harmonie. Und das Besondere: Es gibt etwas für die Ewigkeit. Bei einem Liveauftritt ist auch die Reaktion des Publikums, die Resonanz, sehr emotional. Und jeder Auftritt ist anders. Auch wenn man schon eingespielt ist mit dem Orchester. Aber jeder Saal ist anders, das Publikum unterschiedlich, die Stimmungen anders. Das ist dann immer etwas Einmaliges – jeder Auftritt!“
Auch abseits der Bühne ist Esther Abrami präsent – in der Klassik-Szene gilt sie als Social-Media-Star. 2019 erhielt sie bei den Global Awards die Auszeichnung als Social Media Superstar. Auf ihren Kanälen gibt sie persönliche Einblicke: Proben, Reisen, Modeshootings, Alltagsmomente in ihrer neuen Pariser Wohnung. Sie zeigt ihrer Community auch, welche Kleider sie für ihre Auftritte aussucht. Als Markenbotschafterin für Dior, Fendi, Cacharel und Christian Louboutin verbindet sie Musik und Mode und betont, dass sie ihre Social-Media-Aktivitäten selbst gestaltet – nichts wird inszeniert, alles bleibt persönlich und authentisch.
Auf Social Media gibt sie auch Einblicke in ihr jüdisches Leben: Man sieht sie zu Pessach Matzah essen, zu Chanukkah Kerzen entzünden oder zu Purim erzählen, welche Bedeutung der Vorname Esther hat. „Für mich ist mein Judentum eine Tradition, das ist auch meine Kindheit, mein Zuhause. Wir haben zu Hause immer die Kerzen zu Chanukkah gezündet und Pessach gefeiert. Und jetzt, wo ich von zu Hause weg und erwachsen bin, ist das die Erinnerung an die wunderbare Zeit mit meiner Familie und auch an unsere Traditionen. Das mit meiner Community zu teilen ist auch sehr schön.“
Auf die Frage, ob auch für sie nach dem schrecklichen Massaker am 7. Oktober 2023 etwas anders geworden sei, wird sie nachdenklich: „Ja, ich bin etwas vorsichtiger. Jetzt, wo ich in Paris wohne, mache ich nicht alles so selbstverständlich. Ich höre viel über den steigenden Antisemitismus. Wobei ich in meiner Community, bei mir auf Social Media und auch wenn ich mit Kollegen arbeite, nichts davon bemerke.“ Zum Schluss sagt sie mir, dass ein Traum noch offen ist: „Ich war leider noch nie in Israel – aber einmal mit dem Israel Philharmonic Orchestra zu musizieren wäre mein großer Traum.“ Zeit dafür wäre aber momentan ohnehin nicht vorhanden. Der Sommer ist gefüllt mit Festivalauftritten in ganz Frankreich, danach folgen die Proben für das große Konzert im Olympia am 23. November: „Da heißt es üben, üben!“ sagt Abrami – ganz die Violinistin, die schon als Kind wusste, dass sie ein Star werden will.

