Warum der SPÖ die Beseitigung ihrer „braunen Flecken“ so weh tut – und warum sich die ÖVP bis heute weigert, die ihren aufzuarbeiten.
Von Petra Stuiber
Mit Leopold Gratz war die Angelegenheit nicht erledigt. Dem Austritt des ehemaligen Bürgermeisters von Wien und Außenministers aus dem Bund Sozialdemokratischer Akademiker schlossen sich weitere Altmitglieder an. Laut BSA-Chef Caspar Einem „etwa eine Handvoll – darunter auch solche, um die uns nicht leid sein muss“. Zum Beispiel ein Arzt aus Niederösterreich, der in seinem Austrittsschreiben stolz begründete, er habe „in jungen Jahren in zwei SS-Einheiten gegen den Bolschewismus gekämpft“ und daran sei „nichts, dessen er sich schämen müsse“. Einem: „Das war ein Effekt, den wir in Kauf genommen haben – wir klopfen auf den Busch und es fällt ein SSler heraus.“ Mitte Jänner war jene Studie fertig, die schon vor ihrem Erscheinen für maximale Aufregung gesorgt hatte: „Der Wille zum aufrechten Gang“, ein Forschungsbericht von Wolfgang Neugebauer und Peter Schwarz vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) über die gesellschaftliche Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten – erstellt im Auftrag des BSA. Die Studie beschreibt detailliert die verschiedenen Interventionen von Sozialdemokraten zugunsten ehemaliger Nazis. Sie verhalfen ihnen zu beruflichen und politischen Karrieren oder bewahrten sie schlicht vor beruflichem Ausschluss. Auch die Parteispitze, von Adolf Schärf und Bruno Pittermann, später Bruno Kreisky bis zu Christian Broda, machte mit. Es gab mehrere Gründe für diesen Eifer, die Täter von einst zu rehabilitieren: Einerseits fürchteten die neuen „starken Männer“ in der Partei innerparteiliche Konkurrenz durch emigrierte Rückkehrer, andererseits fürchteten sie obendrein politische Nachteile, wenn sie in der Öffentlichkeit als „Judenpartei“ gelten würden, wie Neugebauer gegenüber NU formulierte. Die Furcht war berechtigt: Vor dem Verbot der Sozialdemokratischen Partei 1934 wählte die Mehrheit der österreichischen Juden rot – die intellektuelle Elite der Partei bestand fast ausschließlich aus Genossen jüdischer Herkunft. Dieser intellektuelle Überbau fehlte nun an allen Ecken und Enden – und man ersetzte die Fehlenden flugs durch Neue, die einst der Nazi-Ideologie anhingen. Das dabei dominierende Motiv war wohl das politische Konkurrenzverhältnis zur ÖVP. 1949, bei der zweiten Nationalratswahl seit Kriegsende, durften auch die NS-Parteigänger wieder wählen – die Zahl der Wahlberechtigten stieg schlagartig um 25 Prozent. 700.000 Österreicherinnen und Österreicher galten nach Kriegsende als mehr oder weniger „belastet“. Das war ein „Happen“, den sich beide Parteien nicht entgehen lassen wollten. So integrierten SPÖ und ÖVP Nazis, wie Neugebauer und Schwarz bei der Präsentation der BSA-Studie betonten. Die SPÖ sei keineswegs die einzige politische Kraft mit „braunen Flecken“ gewesen. Bei Untersuchungen zu Interventionen für Nazis im Justizbereich habe man Belege dafür gefunden, dass die Interventionen durch die ÖVP für ehemalige Nazi-Juristen zahlenmäßig jene des BSA bei weitem überträfen. Schwarz nannte konkrete Interventionen für ehemalige hohe Richter des Volksgerichtshofes durch Leopold Figl und Julius Raab. Die Conclusio der beiden Historiker: Auch die ÖVP habe „Handlungsbedarf“ – was die ÖVP bis dato offenbar anders sieht.Dass man im Nachkriegs-Österreich lieber die Täter umwarb, statt die Opfer zurück zu bitten, beweist auch eine Anekdote, die Herbert Lackner für „profil“ ausgrub. Leopold Figl, erster ÖVP-Nachkriegskanzler, war als ehemaliger Bauernbunddirektor im Ständestaat bereits am 1. April 1938 verhaftet und ins KZ Dachau deportiert worden. Dennoch stellte sich Figl später der Reintegration der Nazis entgegen und vermerkte vielmehr bitter über jene, die vor Hitler geflüchtet waren, diese hätten „ihre Zeit in Clubsesseln verbracht, anstatt für Österreich zu leiden“. Im Herbst 1948 etablierte sich in der Steiermark ein „Amnestie-Aktions-Ausschuss“ in der Landesleitung der ÖVP. „Der Ausschuss machte sich zum Interessenvertreter der ehemaligen Nationalsozialisten“, wie Doron Rabinovici im Buch „Ess firt kejn weg zurik – Geschichte und Lieder des Ghettos von Wilna 1941–1943“ schrieb. Landeshauptmann Josef Krainer war oft und gern gesehener Redner auf den Veranstaltungen des „Ausschusses“, geleitet wurde die Vereinigung vom damaligen Dritten Nationalratspräsidenten Alfons Gorbach. Er erklärte: „Ich stehe und falle mit der Lösung des NS-Problems.“ Freilich war mit dem „NS-Problem“ nicht die Reinigung der jungen Demokratie von ihren Nazi-Altlasten, sondern die nachträgliche Reinwaschung der Nazis durch die neue Republik gemeint. Vor diesem Klima waren Freisprüche für Nazi-Verbrecher wie Murer nicht die Ausnahme. „Das Mitleid mit den Opfern der Nazis war gering“, sagte der Historiker Wolfgang Neugebauer zu NU, „man hatte vor allem mit sich selbst Mitleid, weil man ja auch Opfer des Bombenkriegs gewesen war“. Eine der Wurzeln des Übels war, laut Neugebauer, das „Nicht-Funktionieren der Entnazifizierung der Justiz“. In diesem Bereich habe die ÖVP noch viel stärker als „Reintegrationskraft“ gewirkt als die SPÖ, und auch in den Bundesländern habe sie gerne mal zugunsten von Parteifreunden beide Augen zugedrückt, vor allem bei „Minderbelasteten“ und Mitläufern: etwa beim späteren Tiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer, beim Wiener Stadtrat Wilhelm Neusser oder bei Hans Steinacher, dem ehemaligen Propagandaleiter der Volksabstimmung von 1920 in Kärnten. Die Verweigerungshaltung der heutigen ÖVP begründet Neugebauer so: „Die ÖVP will das Problem durchtauchen. Das ist schließlich ein sehr schmerzhafter Prozess.“ Caspar Einem kann das nur bestätigen: „Es kam auch sehr ernst zu nehmende Kritik in der Art, wir stellten Leute an den Pranger, die unbestreitbar viel für den Wiederaufbau getan hätten.“ Das sei wohl richtig, meint Einem, „der Punkt ist nur, dass diese Leute leider nicht die Wahrheit gesagt haben“. Er bringt das Beispiel des ehemaligen Vizebürgermeisters von Innsbruck, der bis vor 18 Jahren BSA-Mitglied war: Mit Hilfe des SPÖ-Parteibuchs wurde er 1957 zum Direktor der Tiroler Gebietskrankenkasse ernannt, dies wiederum beschleunigte seine weitere politische Karriere – nur hatte der Mann geflissentlich verschwiegen, dass er bei der Gestapo und wohl auch bei der SS gewesen war. Einem: „Es geht um die Wahrheit – nicht darum, als Nachgeborene von den Zeitzeugen Heldenmut zu verlangen.“ Für Einem ist der „Prozess, der viel zu spät begann“ noch nicht abgeschlossen. Auch rote Ikonen wie Karl Renner, Christian Broda oder Bruno Kreisky seien partiell „problematisch“ gewesen: Kreisky etwa habe „als Zyniker mit dem Antisemitismus in diesem Land gespielt“: „Seine Auseinandersetzung mit Simon Wiesenthal war nicht eine seiner feinsten. Und er hat dabei auch das von den Nazis geprägte Stereotyp des ‚polnischen Juden‘ bewusst gepflegt.“