Der internationale Erfolg israelischer Fernsehserien reißt nicht ab: „Losing Alice“ von Sigal Avin ist ein verstörend-faszinierender Neo-Noir-Albtraum.
Von Michael Pekler
„Es ist schwer, bei etwas so Verrücktem so genau zu sein.“ Das Drehbuch, das die Regisseurin Alice (Ayelet Zurer) in Händen hält, hat es in sich. Die Szenen sind offenbar überwältigend, zugleich bedrohlich und explizit. Alice hat das Skript in ihrem Postfach zwei Wochen lang nicht beachtet, bis sie auf der Heimfahrt im Zug – war es tatsächlich ein Zufall? – die Autorin kennengelernt hat. Die junge Sophie (Lihi Koronowski) hat sich als Bewunderin ihrer Arbeit geoutet, war angeblich sogar in einem von Alice’ früheren Schreibkursen. Nun soll Room 209, so der Titel, sogar verfilmt werden. Zuhause angekommen, erzählt Alice ihrem Mann David (Gal Toren), einem populären Schauspieler, von der merkwürdigen Begegnung. Er kennt das Buch, denn er ist bereits als männlicher Hauptdarsteller engagiert. „Ziemlich pervers“, meint er. Es sei die Geschichte einer jungen Frau, die mit dem Vater ihrer besten Freundin ein SM-Verhältnis beginnt – mit fatalen Folgen. Alice liest Room 209 in derselben Nacht zu Ende. Kann man sich so etwas ausdenken?
Alice ist Mitte vierzig, hat zwei Kinder und ein wunderschönes Haus. Merkwürdig allerdings sind die riesigen, einsehbaren Fenster. Oder auch, dass die Schwiegermutter ständig zu Besuch ist und wenig subtil Besitzansprüche auf ihren Sohn anmeldet. Einmal trägt sie das seidene Nachthemd der Schwiegertochter. Alice durchlebt eine Schaffenskrise, dreht Fernsehwerbespots, kann nicht mehr schreiben. Sie weiß, dass Room 209 sie als Regisseurin retten würde. Was sie nicht weiß: Sophie hat sie längst dafür ausgesucht. Ist plötzlich immer da, erscheint zum Kindergeburtstag und malt der kleinen Tochter tiefrote Lippen. Trifft die für die Hauptrolle vorgesehene Schauspielerin am Vorabend des Castings, worauf diese völlig verstört in Tränen ausbricht. Bringt sich selbst für die Rolle in Position und hat – wie die junge Frau in ihrem Buch – einen älteren Freund. Und wie in Room 209 geht es von Beginn an auch in Losing Alice um Verlangen. Um Obsession. Um das Spiel mit der Macht, die man über andere Menschen besitzt. Oder über die Freundin, wenn diese sich nicht mehr zu helfen weiß und – wie in den ersten Minuten der Serie zu sehen – in einem Hotelzimmer nach Erlösung sucht.
Hitchcock, De Palma, Lynch
Losing Alice ist eine der ungewöhnlichsten Fernsehserien dieser Tage und stammt – einmal mehr – aus Israel. Im vergangenen Sommer im israelischen Fernsehen und nun von Apple TV international veröffentlicht, stammt der zehnteilige Thriller im Unterschied zu den meisten Mainstreamproduktionen von Netflix und Co. nämlich aus einer Hand – und erinnert damit mehr an klassisches Autorenkino als an konventionelles Serienfernsehen. Sigal Avin, in Florida geboren und im Alter von zehn Jahren mit den Eltern nach Israel emigriert, hat als Drehbuchautorin und Regisseurin in Personalunion ein Szenario entworfen, in dem Psychohorror, Neo-Noir-Albträume und Gesellschaftsstudie ineinander übergehen. Vieles wirkt vertraut oder zumindest so vertraut wie die Filme von Hitchcock, De Palma und Lynch, die Losing Alice teilweise sogar direkt zitiert. Doch die zahlreichen Verweise und Anspielungen braucht man nicht zu kennen, um sich auf dem doppelten Boden, auf den man hier geführt wird, ziemlich unwohl zu fühlen: Ist das die wie üblich als Realität getarnte Fiktion einer unüblichen Fernsehserie? Sind die Vor- und Rückblenden, die einen hier wiederholt überrumpeln, Erinnerungsfetzen aus Alice’ Vergangenheit oder schaurige Zukunftsvisionen? Oder sind es bereits Aufnahmen aus Room 209, als Film im Film, wie Alice sich diesen vorstellt?
Die erstaunliche Kunstfertigkeit von Losing Alice liegt darin, wie Sigal Avin ihre Heldin offenen Auges in ihr offensichtliches Verderben laufen lässt: Wie ein endlos geflochtenes Band verwickeln sich die Halluzinationen und Fantasien von Alice und David mit der Geschichte von Sophie, die als Femme fatale mit Pagenkopf eine Falle nach der anderen aufstellt. Jedenfalls glaubt man das. Bis man erkennt, beim Zuschauen selbst in einer solchen gelandet zu sein.
„Losing Alice“ (Israel 2020, OmU, 10 Episoden) ist auf Apple TV+ zu sehen.