In seinem brillant komponierten Roman „Apeirogon“ erzählt Colum McCann anhand einer israelisch-palästinensischen Freundschaft vom Nahostkonflikt. Eine der literarisch und politisch beeindruckendsten Erzählungen des Jahres.
Von Michael Pekler
„Wir leben unser Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn.“
In seiner Vorbemerkung zu Apeirogon zitiert der irische Schriftsteller Colum McCann den österreichischen Lyriker Rainer Maria Rilke. Wohl deshalb, weil auch die von ihm beschriebenen Lebensgeschichten wachsen, sich ausdehnen und ineinandergreifen. Dass Rilke eigentlich nur über sich selbst schrieb („Ich lebe mein Leben“), weiß McCann natürlich, aber ebenso, dass die Geschichten seiner beiden Protagonisten für unzählige andere stehen. Es sind jene von Bassam Aramin und Rami Elhanan, einem Palästinenser und einem Israeli. Rilkes Gedicht setzt sich mit den Zeilen fort: „Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.“
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Apeirogon sei ein „Hybrid-Roman“, so McCann, „in dem das Meiste erfunden ist, eine Erzählung, die wie jede Erzählung Spekulation, Erinnertes, Tatsachen und Fantasie verwebt.“ Die Geschichten von Bassam Aramin und Rami Elhanan jedoch sind wahr, seit vielen Jahren erzählen die beiden Männer sie in Schulen, halten Vorträge, unternehmen Reisen. Beide Väter haben ihre Kinder verloren – durch den Feind. Beziehungsweise durch denjenigen, den sie jahrzehntelang als Feind betrachtet haben. Ramis Tochter Smadar wurde 1997 im Alter von dreizehn Jahren von einem palästinensischen Selbstmordattentäter vor einem Jerusalemer Buchladen getötet. Bassams Tochter Abir starb 2007 im Alter von zehn Jahren vor ihrer Schule durch ein Geschoß eines israelischen Grenzpolizisten. McCann hat Bassam und Rami getroffen, ausführliche Gespräche mit ihnen geführt und ihre Geschichten zu seiner gemacht.
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Bassam ist Mitbegründer von Combatants for Peace, einer aus Israelis und Palästinensern bestehenden Bewegung, die sich für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts einsetzt. Dort lernte er Rami kennen, dessen Sohn Elik die Bewegung von israelischer Seite mitbegründete. Man nennt Combatants for Peace eine „Graswurzelbewegung“, weil sie mit der Hoffnung und Absicht verbunden ist, „von unten“ die Dinge zu verändern. Also hier: den jahrzehntealten Konflikt. Den Krieg. Das Leid. Als seine Tochter ums Leben kam, verließ Bassam die Bewegung nicht.
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Apeirogon besteht aus tausendundeinem Kapitel, ansteigend nummeriert bis fünfhundert, dann wieder herunterzählend wie ein Countdown. Ein Kapitel mit der Zahl Fünfhundert existiert doppelt. Einmal beginnt es mit dem Satz „Mein Name ist Rami Elhanan“, ein zweites Mal mit „Mein Name ist Bassam Aramin.“ Es sind tausendundeine Geschichten, die manchmal nur aus einem Satz bestehen, manchmal aus ein paar Zeilen, mitunter aus einer oder mehreren Seiten. Manchmal aus einem Foto. Diese zwei Kapitel in der Mitte des Buches sind das Herzstück des Romans. Wie ein Spiegel mit zwei Seiten. Und hier, zwischen ihnen, findet sich dieser eine, der wichtigste, sich über eineinhalb Seiten ziehende Satz: „Vor nicht allzu langer Zeit in einem nicht allzu fernen Land fuhr Rami Elhanan, Israeli, Jude … mit dem Motorrad von einem Jerusalemer Vorort zum Kloster Cremisan in der mehrheitlich von Christen bewohnten Stadt Bait Dschala, im judäischen Bergland, bei Bethlehem, um sich dort mit Bassam Aramin zu treffen, Palästinenser, Muslim …“
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In Tausendundeiner Nacht muss Scheherazade um ihr Leben erzählen. Weil er wissen will, wie ihre Geschichte endet, lässt König Schahryâr seine junge Tochter am Leben. Die Töchter von Bassam und Rami sind tot.
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Aus Wörtern werden Sätze, aus Sätzen Geschichten, aus Geschichten Geschichte.
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Wie jene Israels und Palästinas. Sechshundert Seiten stark ist Apeirogon, und weil man dieses Buch kaum in einer Nacht zu Ende lesen kann, möchte man wissen, wie es nächste Nacht weitergeht. Der von US-Präsident Trump heuer vorgelegte „Friedensplan“ mit dem Titel „Peace to Prosperity“ umfasst 181 Seiten (inklusive Karten und Tabellen).
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Ein regelmäßiges Polygon, reguläres Polygon, regelmäßiges Vieleck, reguläres Vieleck oder Isogon (von griechisch ἴσος, gleich und γωνία, Winkel) ist in der Geometrie ein ebenes Polygon, das sowohl gleichseitig als auch gleichwinkelig ist. Bei einem regelmäßigen Polygon sind demnach alle Seiten gleich lang und alle Innenwinkel gleich groß. Wird bei wachsender Seitenzahl n stattdessen die Seitenlänge konstant gehalten, nähert sich die Form eines einfachen regelmäßigen n-Ecks einer degenerierten geometrischen Figur an, die Apeirogon (von griechisch ἄπειρον, das Unbeschränkte) genannt wird und mit dem Schläfli-Symbol {∞}bezeichnet wird. (Quelle: Wikipedia)
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Apeirogon ist ein formvollendeter Roman, in dem alles mit allem zu tun hat, sich doppelt oder bricht, in jedem Fall aufeinander verweist. Wenn ein Schmetterling seine Flügel bewegt, so kann der dadurch entstehende Luftwirbel einen größeren anstoßen, welcher wiederum einen noch größeren anstößt und so weiter. Vom Schmetterlingseffekt der Chaostheorie aus richtet McCann seinen Blick zum Himmel – zu den Vögeln. Als wiederkehrendes Motiv durchziehen sie diesen Roman: Wie sieht dieses Land von oben aus? „Fünfhundert Millionen Vögel ziehen jedes Jahr über den Hügeln von Bait Dschala durch die Lüfte“, hat McCann herausgefunden. „Jedes Jahr sieht die Landschaft unten anders aus: israelische Siedlungen, palästinensische Wohnblocks, Dachgärten, Kasernen, Absperrungen, Umgehungsstraßen.“
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Von den Geschichten Ramis und Bassams ausgehend erzählt McCann, wie in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge legen, von Israel, Palästina, vom Alltag im Westjordanland, von den Checkpoints, den Wegzeiten zur Arbeit, zur Schule. Oder vom zu lange dauernden Weg ins Spital. Und er taucht ein in die Geschichte des Landes, erzählt von historischen Figuren wie dem Forschungsreisenden Richard Francis Burton, der im 19. Jahrhundert als muslimischer Pilger verkleidet nach Mekka reiste; vom irischen Priester Christopher Costigan, der sich für die biblischen Geschichten am Toten Meer interessierte; und von einem maltesischen Matrosen, dessen Name für immer unbekannt bleibt.
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Die Brücken, die McCann schlägt, überqueren die Ufer von Symbolik und Realpolitik. Er erzählt, wie François Mitterand bei seinem letzten Mahl Ortolane verspeiste („die Flügel, die Sehnen, das noch warme Herz“), um im nächsten Kapitel detailliert zu schildern, wie die israelische Luftwaffe die Flugrouten der Vögel, die das Land überqueren, mit modernen Radaranlagen überwacht. Und wie ein Ortolan an der Talitha-Kumi-Schule im Westjordanland einen Erkennungsring angepasst bekommt, um den Vogel verfolgen zu können.
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„Ich habe gesammelt, gelesen und verglichen. Bekanntlich gibt es viele Versionen der Wahrheit. Manchmal widersprachen sich die Quellen, und auch die Fachleute sind oft konträrer Meinung. Letzten Endes gehen alle Fehler und alles Hinzugedichtete auf mein Konto.“ (Danksagung)
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Fünf Jahre dauerte die Arbeit an Apeirogon, vor allem aufgrund der umfassenden Recherche. Colum McCann ist auch deshalb ein grandioser Autor, weil er ein hervorragender Journalist ist, dessen Bücher auf Tatsachen beruhen, der die Tatsache aber nicht als etwas begreift, das in Stein gemeißelt ist. Wie bereits in seinen Romanen über den an Aids gestorbenen Tänzer Rudolf Nurejew (Der Tänzer), den Seilakrobaten Philippe Petit (Die große Welt) und die Transatlantikflieger John Alcock und Arthur Brown (Transatlantik) nimmt sich McCann in Apeirogon realer Lebensgeschichten an. Was ist wahr und was ist falsch? Ist es eine Tatsache, dass der israelisch-palästinensische Konflikt nur durch Gewalt und Gegengewalt zu lösen ist? Warum sollte derjenige als realitätsfremd gelten, der an die Möglichkeit einer friedlichen Lösung glaubt?
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Welche Perspektive ist also die richtige? Ist es die israelische oder die palästinensische? Kann es sein, dass beide wahr sind?
Colum McCann
Apeirogon
Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
Rowohlt, Hamburg 2020
608 S., EUR 25,–