Während seiner letzten Jahre im Exil blickte Stefan Zweig auf seine Zeit in Salzburg zurück. Die 1942 postum erschienenen Erinnerungen sind die eines überzeugten Europäers, für den die kleine Stadt zur großen Entdeckung wurde.
Es war gut in jenen Jahren der letzten Windstille zu reisen. Aber es war auch schön heimzukehren. Etwas Merkwürdiges hatte sich in aller Stille ereignet. Die kleine Stadt Salzburg mit ihren 40.000 Einwohnern, die ich mir gerade um ihrer romantischen Abgelegenheit willen gewählt, hatte sich erstaunlich verwandelt: sie war im Sommer zur künstlerischen Hauptstadt nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt geworden.
Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal hatten in den schwersten Nachkriegsjahren, um der Not der Schauspieler und Musiker abzuhelfen, die im Sommer brotlos waren, ein paar Aufführungen, vor allem jene berühmte Freilichtaufführung des Jedermann auf dem Salzburger Domplatz veranstaltet, die zunächst aus der unmittelbaren Nachbarschaft Besucher anlockten; später hatte man es auch mit Opernaufführungen versucht, die sich immer besser, immer vollendeter anließen. Allmählich wurde die Welt aufmerksam. Die besten Dirigenten, Sänger, Schauspieler drängten sich ehrgeizig heran, der Gelegenheit froh, statt bloß vor ihrem eng heimischen auch vor einem internationalen Publikum ihre Künste zeigen zu können. Mit einemmal wurden die Salzburger Festspiele eine Weltattraktion, gleichsam die neuzeitlichen olympischen Spiele der Kunst, bei denen alle Nationen wetteiferten, ihre besten Leistungen zur Schau zu stellen.
Niemand wollte mehr diese außerordentlichen Darstellungen missen. Könige und Fürsten, amerikanische Millionäre und Filmdivas, die Musikfreunde, die Künstler, die Dichter und Snobs gaben sich in den letzten Jahren in Salzburg Rendezvous; nie war in Europa eine ähnliche Konzentration der schauspielerischen und musikalischen Vollendung gelungen wie in dieser kleinen Stadt des kleinen und lange mißachteten Österreich. Salzburg blühte auf. In seinen Straßen begegnete man im Sommer jedwedem aus Europa und Amerika, der in der Kunst die höchste Form der Darbietung suchte, in Salzburger Landestracht – weiße kurze Leinenhosen und Joppen für die Männer, das bunte „Dirndlkostüm“ für die Frauen –, das winzige Salzburg beherrschte mit einemmal die Weltmode. In den Hotels kämpfte man um Zimmer, die Auffahrt der Automobile zum Festspielhaus war so prunkvoll wie einst jene zum kaiserlichen Hofball, der Bahnhof ständig überflutet; andere Städte versuchten diesen goldhaltigen Strom zu sich abzuziehen, keiner gelang es. Salzburg war und blieb in diesem Jahrzehnt der künstlerische Pilgerort Europas.
So lebte ich mit einemmal in der eigenen Stadt inmitten von Europa. Wieder hatte das Schicksal mir einen Wunsch erfüllt, den ich selbst kaum auszudenken gewagt, und unser Haus auf dem Kapuzinerberg wurde ein europäisches Haus. Wer ist dort nicht zu Gast gewesen? Unser Gästebuch könnte es besser bezeugen als die bloße Erinnerung, aber auch dies Buch ist mit dem Haus und vielem anderem den Nationalsozialisten verblieben. Mit wem haben wir dort nicht herzliche Stunden verbracht, von der Terrasse hinausblickend in die schöne und friedliche Landschaft, ohne zu ahnen, daß gerade gegenüber auf dem Berchtesgadener Berg der eine Mann saß, der all dies zerstören sollte? Romain Rolland hat bei uns gewohnt und Thomas Mann, von den Schriftstellern sind H. G. Wells, Hofmannsthal, Jakob Wassermann, van Loon, James Joyce, Emil Ludwig, Franz Werfel, Georg Brandes, Paul Valéry, Jane Adams, Schalom Asch, Arthur Schnitzler freundschaftlich empfangene Gäste gewesen, von den Musikern Ravel und Richard Strauss, Alban Berg, Bruno Walter, Bartók und wer noch alles von den Malern, den Schauspielern, den Gelehrten aus allen Winden? Wie viele gute und helle Stunden geistigen Gesprächs wehte jeder Sommer uns zu!
Eines Tages klomm Arturo Toscanini die steilen Stufen empor, und mit der gleichen Stunde begann eine Freundschaft, die mich Musik noch mehr, noch wissender lieben und genießen ließ als je zuvor. Ich war jahrelang dann getreuester Gast bei seinen Proben und erlebte den leidenschaftlichen Kampf immer wieder, mit dem er jene Vollendung erzwingt, die dann in den öffentlichen Konzerten gleichzeitig als Wunder und Selbstverständlichkeit erscheint (ich versuchte einmal in einem Aufsatz diese Proben zu schildern, die jedem Künstler den vorbildlichsten Antrieb darstellen, nicht abzulassen bis zur letzten Fehllosigkeit). Herrlich ward mir Shakespeares Wort bestätigt, daß „Musik der Seele Nahrung“ ist, und dem Wettstreit der Künste zublickend, segnete ich das Geschick, das mir gegeben, ihnen dauernd verbunden zu wirken.
Wie reich, wie farbig waren diese Sommertage, da Kunst und gesegnete Landschaft sich gegenseitig steigerten! Und immer, wenn ich mich rückschauend an das Städtchen erinnerte, verfallen, grau, bedrückt wie es unmittelbar nach dem Kriege gewesen, an unser eigenes Haus, darin wir frierend den durch das Dach einbrechenden Regen bekämpft, spürte ich erst, was diese benedeiten Jahre des Friedens für mein Leben getan. Es war wieder erlaubt, an die Welt, an die Menschheit zu glauben.
Aus: Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers
Nachdruck aus der 1942 in Stockholm erschienenen Erstausgabe.
Anaconda Verlag, Fischer Taschenbuch Verlag