Fans des First Vienna FC kämpfen gegen das Vergessen. Sie erzählen die Geschichte der Opfer des Vereins im NS-Regime.
Rudolf Grünwald hat den Naziterror nicht überlebt. Grünwald war ein jüdischer Pferdehändler und Fuhrunternehmer. Die große Leidenschaft des Wieners aber war sein Herzensverein, die Vienna, der er über viele Jahre verbunden war. Kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, im Sommer 1914, war der First Vienna Football Club zum ersten Mal in seiner Vereinsgeschichte abgestiegen. Es sah schlecht aus für die Vienna, sogar der Spielbetrieb musste eingestellt werden. Zwei Jahre später übernahm dann Grünwald die Reorganisation der Fußball-Sektion des Vereins – mit Erfolg: Unter seiner Leitung gelang schließlich die Rückkehr in die oberste Spielklasse.
Zu diesem Zeitpunkt hatte die Vienna bereits eine lange Geschichte hinter sich. Denn die Blau-Gelben gelten als der älteste Fußballklub in Österreich. Bereits seit 1894 wird in Wien-Döbling das runde Leder getreten. „Gelten“ deshalb, weil auch die Cricketers, der Vorläuferverein der Wiener Austria, diesen Ehrentitel für sich beanspruchten. Doch die Vienna konnte sich vor den Behörden durchsetzen – die Cricketers sprachen von Korruption – und darf daher bis heute das „First“ im Namen tragen. Auch nach dem Ersten Weltkrieg engagierte sich Grünwald für den Verein auf der Hohen Warte, teilweise half er auch bei der Finanzierung. Doch als die Nazis im März 1938 an die Macht kamen, gelang Grünwald die Flucht aus Wien nicht mehr.
Grünwald lebte nach dem „Anschluss“ im ehemaligen jüdischen Blindeninstitut auf der Hohen Warte, gleich neben dem Stadion seines Lebensvereins. Doch 1942 deportierten die Nazis die Bewohner in die Vernichtungslager des NS-Regimes, Grünwald am 9. Juni 1942 nach Maly Trostinez in Weißrussland. Sechs Tage nach seiner Deportation, am 15. Juni 1942, ermordeten ihn die Nazis in dieser Hinrichtungsstätte. Insgesamt rund 10.000 Menschen brachten die Nazis allein in Maly Trostinez um.
Grünwald war nicht der einzige Blau-Gelbe, der von den Faschisten ermordet wurde. Der ehemalige Spieler Paul „Gilly“ Goldberger starb im sogenannten „Ghetto Litzmannstadt“ in Łódź. Oskar „Schropp“ Grassgrün ermordeten die Nazis im Herbst 1944 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Otto „Schloime“ Fischer, der auch im Nationalteam gespielt hatte, wurde von der nationalsozialistischen Tötungsmaschine in Lettland umgebracht.
Und schließlich Rudolf Spitzer. Der spätere Rechtsanwalt hatte bereits beim allerersten offiziellen Fußballspiel in Wien am 15. November 1894 für Blau-Gelb gekickt. Als seine Spielerkarriere zu Ende war, wurde er Funktionär der Vienna. Nach dem „Anschluss“ musste er zuerst seine Kanzlei aufgeben, am 28. November 1941 ermordeten die Nazis Spitzer in Minsk.
Dem Vergessen entreißen
All diese Biografien hat der Fan-Zusammenschluss „Vienna Supporters“ in einer Broschüre in akribischer Kleinarbeit zusammengetragen und gesammelt. „Vorbild ist für uns unter anderem die Gedenkinitiative der Ultra-Gruppe Schickeria München für Kurt Landauer“, erzählt Robert Haidinger, Obmann der Supporters. Landauer war ein ehemaliger jüdischer Präsident des FC Bayern und musste vor den Nazis flüchten. Er überlebte, doch vier seiner Geschwister wurden ermordet. Die Schickeria als wichtigste Fangruppe der Bayern hat in den vergangenen Jahren immer wieder auf sein Schicksal aufmerksam gemacht. „Die Schickeria hat Landauer dem Vergessen entrissen. Nun wollen auch wir unseren Beitrag leisten“, sagt Haidinger.
Bei der Vienna ist Alexander Juraske federführend bei der Aufarbeitung der Vereinsgeschichte. Die Familie des Historikers und glühenden Vienna-Fans ist dem Verein seit Generationen verbunden. Sein Großvater spielte in der Zwischenkriegszeit sogar selbst auf der Hohen Warte. „Unsere Familie war immer Blau-Gelb. Ich konnte der Vienna also eigentlich gar nicht entkommen“, erzählt er. Wie er auf das Thema stieß? „Die Vienna war in der NS-Zeit unglaublich erfolgreich. Doch davor gab es viele jüdische Spieler und Funktionäre. Ich habe mich immer gefragt, wie das zusammenpasst.“
Dunkle Vergangenheit
Juraske machte sich also an die Recherche. Bereits in seinem ersten Buch über die Vienna, Blau-Gelb ist mein Herz, finden sich einige wichtige Ergebnisse. So wurde etwa im August 1945 Paul Hörbiger zum neuen Präsidenten der Wiener gewählt. Im NS-Regime war Hörbiger ein wichtiger Teil der NS-Propagandamaschine, sein Name stand auf der „Gottbegnadeten-Liste“ von Filmschaffenden, die vom Kriegsdienst ausgenommen waren. Für die Döblinger offenbar kein Hindernis, ihn unmittelbar nach Kriegsende zum Präsidenten zu machen.
„Im Gedenkjahr 2018 wollten wir aber eine eigene Publikation über die jüdischen Opfer des Vereins in der NS-Zeit veröffentlichen“, erzählt Juraske. Das war auch den Vienna Supporters ein Anliegen. „Wir wollen eine kritische Auseinandersetzung mit unserem Verein fördern und auch in der Fanszene das Thema bewusst machen“, so Haidinger. Dabei geht es auch um die Titel, die die Vienna in der Zeit des NS-Regimes errungen hat. „Diese Titel werden viel zu oft gewürdigt, ohne den Kontext zu sehen.“
Der Hintergrund: Die Vienna hatte in der Zeit des NS-Regimes die erfolgreichste Phase ihrer Geschichte. Dreimal nacheinander gewann der Verein die Meisterschaft der „Ostmark“ und 1943 sogar den deutschen Pokalwettbewerb. Verantwortlich für diese Erfolge war unter anderem Thomas Kozich, ab 1938 Wiener Vizebürgermeister. „Kozich war ein gestandener Vienna-Fan und ehemaliger Spieler des Vereins“, erzählt der Kulturhistoriker Matthias Marschik. „Er hielt seine Hand schützend über die Döblinger.“ Marschik gilt als absoluter Kenner der Wiener Fußball-Geschichte. „Kozich ist ein typisches Beispiel dafür, dass die Vienna – wie alle nichtjüdischen Vereine in Wien – auch eine Tätergeschichte hat“, sagt Marschik.
Und Kozich war nicht einfach irgendein Mitläufer. Er war ein Täter und ein Mörder. So sollte am 1. Oktober 1939 ein Match gegen eine Budapester Auswahl im Praterstadion in Wien stattfinden. Doch dort hielten die Nazis hinter einem Stacheldrahtverhau rund 1000 jüdische Männer gefangen. Einen Tag vor dem Match ließ Kozich die Männer in das KZ Buchenwald abtransportieren. Von den rund 1000 Deportierten sollten nur 71 das Konzentrationslager überleben. Nach dem Krieg kam Kozich beim Bund Sozialistischer Akademiker (BSA) unter, der später auch als „rote Nazi-Waschmaschine“ bezeichnet wurde. „In der Zeit des NS-Regimes waren die Vienna und die Austria die Aushängeschilder des Wiener Fußballs“, berichtet Marschik. Die Wiener Fußballschule war in ganz Europa berühmt, daher wurden die Vereine auch auf Propagandafahrten geschickt. „Vor und nach jedem Spiel zeigten die Spieler den Hitlergruß und machten so Werbung für das Regime“, erzählt der Historiker.
Gegen Rassismus in den Kurven
Die Fans der Vienna stellen sich nun ihrer Geschichte. Im Gedenkjahr 2018 wurde vor allem der Opfer des NS-Terrors gedacht. In einem weiteren Schritt wäre es sicherlich wichtig, auch die Täter-Biografien näher zu erforschen. Denn es ist keineswegs so, dass überlebende Opfer nach 1945 beim Verein wieder willkommen waren.
„Soweit bekannt ist, hat kein ehemaliger jüdischer Spieler oder Funktionär nach 1945 wieder den Weg zur Vienna gefunden“, erzählt Alexander Juraske, Mitherausgeber der neuen Broschüre der Supporters. „Der gesamte jüdische Anteil ist nach 1945 völlig aus der Geschichte der Vienna verschwunden.“
Die Wiener Sportjournalistin Mareike Boysen hält die jüngsten Aufarbeitungen bei der Vienna und der Austria für extrem wichtig. „Zur Auseinandersetzung von Fußballvereinen mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit gibt es keine Alternative“, sagt sie. Doch Boysen warnt auch:
„Diese Auseinandersetzung darf nicht nur eine Geste bleiben. Es braucht mehr als gelegentliche Appelle an die Mitmenschlichkeit.“
Boysen tritt dafür ein, das Gedenken in die Gegenwart zu holen und spricht dabei Homophobie, Rassismus und Sexismus in vielen Kurven an: „Vereine müssen sich ihrer Verantwortung stellen. Wenn sie das nicht tun, werden sie zu Mitläufern.“ Die Supporters der Vienna sind dabei auf einem sehr guten Weg. Der Verein ist von seinen Glanzzeiten aktuell zwar weit entfernt, im vergangenen Jahr musste er gar Insolvenz anmelden, weshalb die Blau-Gelben 2018 daher nur in der fünften Spielklasse spielten. Doch die Fans lassen sich davon nicht beirren. Ebenso wie die Lokalrivalen vom Wiener Sportclub stehen sie für eine Kurve ohne Diskriminierung. Es wäre ein Beispiel für viele andere Vereine.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von FM4.