Heute leben nur mehr wenige Jüdinnen und Juden auf der griechischen Ferieninsel. Gottesdienste in der Kahal-Shalom-Synagoge der Inselhauptstadt sind selten. Nur zu den hohen Feiertagen werden Rabbiner aus Athen oder Israel eingeflogen.
VON MICHAEL J. REINPRECHT
Die Sonne knallt unbarmherzig auf die historische Stadt von Rhodos, als die kleine Gruppe, geführt von Isaac Capelouto, drei Stunden durch die Juderia wandert, das ehemalige Viertel der sephardischen Gemeinde von Rhodos. Isaac lebt heute in Kapstadt. Jeden Sommer kommt er in die Stadt seiner Vorfahren. Seine Mutter war eines der ganz wenigen Mädchen, die die Shoah überlebten.
Rhodos war einst Außenposten untergehender Kreuzfahrerstaaten, ab dem frühen 16. Jahrhundert knapp 400 Jahre lang osmanisch. 1943 löste NS-Deutschland Italien als Beherrscher der Insel in der südöstlichen Ägäis ab. Unter türkischer Herrschaft konnte sich die knapp zweitausend Mitglieder zählende jüdische Gemeinde auf Rhodos reich entfalten, unter italienischer Dominanz war sie zumindest geduldet. Einige wanderten im frühen 20. Jahrhundert als sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge nach Amerika oder ins südliche Afrika aus, nicht zuletzt, um dem steigenden Druck der italienischen Besatzung zu entfliehen. So auch ein Teil der alteingesessenen Familie Ferrera, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Harare eine neue Heimat fand. Heute leben die Ferreras in Vancouver.
Diesen Sommer hat sich der Unternehmer Martin Ferrera mit seiner Frau und seinen Kindern auf die Suche nach Spuren der rhodischen Vorfahren gemacht. Gemeinsam mit ihnen folge ich Isaac Capelouto durch das ehemalige jüdische Viertel der Inselhauptstadtstadt.
Reiche Kultur
Bei dieser privaten Führung entsteht das Bild vergangenen reichen Lebens. Es beginnt mit der prachtvollen, in maurischem Stil erbauten und seit der Renovierung vor einigen Jahren in neuem Glanz erstrahlenden Kahal-Shalom-Synagoge; weiter geht es über die Calle Ancha, wie die Hauptstraße des Viertels in Ladino hieß, an der Höheren Schule der Alliance Israélite vorbei, von der nur mehr das Portal übrig ist, zum alten Friedhof; und schließlich zur Platiya Martyron Evreon mit dem schwarzen sechseckigen Gedenkstein, der an die Vernichtung der gesamten sephardischen Gemeinde von Rhodos erinnert.
Am 18. Juli 1944 begann für die auf der Insel noch verbliebenen 1650 Jüdinnen und Juden eine Reise ohne Wiederkehr: Der letzte Transport griechischer Juden nach Auschwitz muss eine Höllenfahrt gewesen sein. Erst auf drei Lastbooten zur Nachbarinsel Kos, wo weitere fünfzig Juden zusteigen mussten. Dann eine Woche lang durch die Ägäis bis nach Piräus, wo sie nach zwei Tagen „Rast“ im Konzentrationslager Hajdari bei Athen in Viehwaggons auf die zehntägige „Reise“ nach Auschwitz geschickt wurden. Kaum jemand überlebte, außer einige Mädchen.
Der schwarze Gedenkstein allerdings steht unbeachtet in der Mitte des Platzes. Touristengruppen, die eben mit dem Kreuzfahrtschiff eingetroffen sind, Souvenirs kaufen und in billige Kneipen gelockt werden, bemerken das kleine Denkmal nicht. Heute leben kaum noch Juden auf Rhodos. Jedenfalls nicht genug für einen Minjan. Deshalb werden in der Kahal-Shalom-Synagoge nur mehr selten Gottesdienste abgehalten. Auch Rabbiner gibt es keinen mehr auf der Insel. „Zu den hohen Feiertagen“, erklärte mir Moses Cohen, „kommt ein Rabbiner entweder aus Israel oder aus Athen, um mit den paar hier noch lebenden Juden und Gästen in der Synagoge zu beten.“
Vergilbte Erinnerung
Zwar hatte ich bereits im Vorfeld meiner Reise über das alte jüdische Viertel, die Synagoge und das daran angeschlossene kleine Museum gelesen, doch umso größer war die Überraschung, als sich herausstellte, dass der Taxifahrer, den ich im Vorfeld gebucht hatte und der mich vom Flughafen zu meiner Pension in der Altstadt brachte, nicht etwa Kostas oder Michalis hieß, sondern Moses. Moses Cohen. Seine Frau Carmen ist für die Verwaltung der Synagoge sowie die Administration der Gemeinde zuständig.
Als wir das der Synagoge angeschlossene Museum betreten, entdeckt Martin auf einem vergilbten Foto einer Mädchenklasse aus den 1930er Jahren seine Mutter. Er geht in die Knie, um das weit unten hängende Bild genauer zu betrachten. „Ja, das ist sie, meine Mama“, murmelt er und wischt eine Träne weg. Ich begleite diese Menschen auf der Suche nach einer verlorenen Zeit. Isaac gelingt es, den Steinen, Mauerresten und Überresten der sephardischen Gemeinde von Rhodos Leben zu entlocken, sie sprechen zu lassen. Sie sind Zeugen einer untergegangenen Welt. Im Museum werden auch Lieder in der sephardischen Sprache Ladino gespielt.
Assoziationen werden wach an Beirut und mein Gespräch mit dem Generalsekretär der jüdischen Gemeinde Beirut, Semaria Behar (siehe „Schweigende Trauer in Beirut“, NU 1/2022). Da wie dort leben kaum mehr Juden. In Rhodos (und Kos) ist es den Nazis gelungen, die jüdische Kultur auszulöschen. Ich erinnere mich auch an vergangene Besuche in Alexandria. Die ägyptische Hafenstadt am Mittelmeer war bis weit in die 1960er Jahre eine mehrheitlich griechische Stadt mit einer bedeutenden jüdischen Gemeinde. Als wäre es gestern gewesen, steht mir die schwierige Suche nach einem griechischen Kafenion vor Augen, auf die ich mich bei meinem kurzen Trip nach Alexandria 2012 begab; nur mehr wenige armenische und griechische Aufschriften waren, verblasst, zu sehen gewesen. Die seit Jänner 2020 renovierte Eliyahu-Hanavi-Synagoge in Alexandria war damals noch eine Ruine und nicht zugänglich.
Ende der Levante
Knapp 25.000 Juden lebten 1937 in Alexandria, heute sind es laut Wikipedia zwölf. Zwölf. Im Libanon sind es sogar noch weniger. Auch in Rhodos ist das vormals lebendige sephardische Leben erloschen. Es ist das Ende einer Zivilisation, das Ende jener Levante, dieses fruchtbaren Halbmondes, in dem einst Griechen, Türken, Araber, Armenier und Juden neben- und miteinander lebten, ihre reichen Kulturen entfalteten und diese auch untereinander austauschten. So spannend und rührend die Führung von Isaac Capelouto hier in der Juderia von Rhodos war, so nachdenklich lässt sie mich zurück. Ich denke an die Aussage von Adam, einem der Protagonisten im Roman Die Verunsicherten des libanesischen Autors Amin Maalouf, der seinen Freunden erklärt: „Wenn du das Pech hast, als Araber und Jude geboren zu sein, dann hast du die Arschkarte gezogen.“