In Ungarn gehört ein schriller Antisemitismus inzwischen zum Alltag. Auch in anderen europäischen Staaten leben alte Feindbilder wieder auf. Warum? Experten machen vor allem mangelnde Vergangenheitsaufarbeitung im Kommunismus dafür verantwortlich.
Von Barbara Tóth (Text) und Peter Rigaud (Fotos)
Menschen wie der jüdische Intellektuelle Gáspár Míklós Tamás können sich heutzutage in Budapest nicht mehr sicher fühlen. Tamás tritt oft im Fernsehen auf, sein Gesicht ist wohlbekannt. Sein Name findet sich auch auf der Startseite der Website „Kuruc Info“, samt einem Foto von ihm, im Rahmen eines Grabkreuzes. Für die Gestalter der Homepage ist Tamás nämlich ein „Fremdherziger“, der den ungarischen „Volkskörper verunreinigt“.
„Kuruc Info“ listet nicht nur Juden und andere „Feinde“ mit ganzem Namen, Adressen, Telefonnummern, Wochenendhäusern und ihren Bekanntenkreisen auf, sondern versorgt seine Besucher auch mit einschlägigen, antiisraelischen Nachrichten. Hier finden sich Schlagzeilen wie „Israelische Okkupation ist schlimmer als die Schweinegrippe“ oder der Bericht über einen mutmaßlichen Fund von Kinderpornos auf dem Laptop eines kanadischen B’nai Brith Vertreters.
„Kuruc Info“, hinter der die rechtsextreme Partei „Jobbik“ steht, ist ungarischer Alltag. In dem Nachbarland, das einst zu den Musterschülern der Wende nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vor zwanzig Jahren gehörte, ist inzwischen ein aufgehetzter, verunsicherter Staat am Rande des Abgrunds – wirtschaftlich (den Staatsbankrott konnte im Oktober nur eine schnelle Nothilfe von 20 Milliarden Euro verhindern) wie gesellschaftspolitisch. Jobbik, die bei den Europawahlen erstmals bei einer landesweiten Wahl als eigenständige Kraft antrat, erreichte 14,77 Prozent. Ihre EU-Abgeordneten werden also künftig den Rechtsaußen-Block um Heinz-Christian Straches und Filip Dewinters Parteien verstärken dürfen. Genauso wie Strache scheute sich auch die Jobbik nicht, ihren Wahlkampf mit offen antisemitischen Tönen zu führen. Sie attackiert dabei auch immer wieder Victor Orbans rechtspopulistische Fidesz-Partei, mit der sie höchstwahrscheinlich die nächste Rechts-der-Mitte-Regierung stellen wird. Aus „Fidesz“ wird dann „Zsidesz“ – eine ungarische Verballhornung aus den Wörtern „zsidó“ (Jude) und Fidesz. Anders als in Österreich, wo der Protest gegen Straches Hetze deutlich war, fehlt in Ungarn organisierter oder politischer Widerspruch. Es gibt keine Proteste, keinen Grundkonsens gegen sie. Die Grenzen zwischen Rechtsradikalen und der konservativen Bevölkerungsmehrheit verlieren sich in der Grauzone rassistischer und nationalistischer Blüten.
Kein Gesetz bestraft die Hasstiraden, weil in der neuen Verfassung nach 1989 die Meinungsfreiheit über die Menschenwürde gestellt worden ist. Inzwischen denkt die ungarische Regierung über eine Änderung der Gesetzeslage nach. Anton Pelinka, der als Professor für Politikwissenschaft und Nationalismusstudien an der englischsprachigen Central European University in Budapest lehrt, fände ein Verbot von systematischer Verhetzung fast besser als ein klassisches Verbotsgesetz, denn „der Antiziganismus in Ungarn ist ja momentan als Gewaltphänomen noch viel schlimmer“.
Mehr noch als ein Gesetz fehlt aber die gesellschaftspolitische Aufarbeitung. Pelinka: „In Ungarn gibt es – wie in Polen oder in Österreich – eine lange und spezifisch nationale Geschichte des Antisemitismus. In den Jahrzehnten kommunistischer Diktatur wurde fingiert, dass der Antisemitismus eine Frage der Vergangenheit ist. Es hat daher weder einen theoretischen Diskurs über noch eine politische Beschäftigung mit dem aktuellen Antisemitismus gegeben.“
Stattdessen blühen in Ungarn nationalistische Geschichtsmythen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die durch den Kommunismus sozusagen eingefroren wurden und um deren Entzauberung sich in den rasanten Jahren nach der Wende niemand wirklich kümmerte – schließlich galt es, auf anderen Gebieten aufzuholen: beim Konsum, beim Wohlstand.
Nach dem Ersten Weltkrieg erging es den Ungarn schlechter als den Deutschen mit dem Versailler Vertrag. Das Abkommen von Trianon nahm ihnen zwei Drittel des Territoriums, über die Hälfte der Bevölkerung – und trieb es unter seinem Reichsverweser Míklós Horthy an die Seite Hitlers. In dieser verzweifelten Zwischenkriegszeit festigte sich die nationalistische Ideologie des völkischen Magyarentums. Deren Feinde, damals wie heute: Liberale, Kommunisten und – als Wurzel allen Übels – Juden. Auch die Ungarische Garde, eine 2007 gegründete paramilitärische Gruppierung, die bei Bedarf für Jobbik aufmarschiert, lebt von diesen historischen Verdrehungen. Sie hetzt nicht nur gegen Juden, sondern vor allem gegen die rund 60.000 in Ungarn lebenden Roma, die zum zweiten großen Sündenbock für alle Übel der aktuellen Krise geworden sind.
Das Budapester Soziologie-Institut „Political Capital“ zeigte jüngst in einer Studie, wie Roma die Rolle der Juden als Schuldige übernehmen: Galten sie früher als faul, aber gutmütig und lebenslustig, werden sie heute als aggressiv, kriminell und parasitär beschrieben. Auch in Karikaturen werden antisemitische Stereotypen auf Roma übertragen. Die rechtsextreme Propaganda, schreibt „Political Capital“, falle auch bei der neuen Mittelklasse auf fruchtbaren Boden. Marschieren in Ungarn, Tschechien oder Bulgarien neofaschistische Garden auf, um die „Bevölkerung zu beschützen“, können sie mit viel Sympathie in der Bevölkerung rechnen. „Roma (ungarisch: Cigányok) zurück nach Indien; Siebenbürgen, die serbische Vojvodina und andere verlorene Gebiete zurück an Ungarn“ oder „Die ungarische Garde ist hart wie die geballte Faust, zäh wie Bast, scharf wie das Schwert“ lauten ihre Losungen.
Nicht nur die Entwicklung in Ungarn macht vielen Sorgen, in der ganzen EU nehmen antisemitische Vorfälle zu (siehe Grafik), besonders seit Dezember 2008. Das stellte die EU-Grundrechte-Agentur in ihrem kürzlich erschienen Bericht fest. In Belgien, Großbritannien oder den Niederlanden häufen sich Gewaltakte gegen jüdische Einrichtungen. In Brüssel und London versuchten Unbekannte eine Synagoge anzuzünden. Bei Anti-Israel-Demonstrationen tönt aus dem Hintergrund der Ruf „Juden ins Gas“. Auf riesigen Transparenten wird der Davidstern mit dem Hakenkreuz gleichgesetzt. Österreich reiht sich nahtlos ein, mit dem Verhalten von Wiener Schülern in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, der Attacke von Jugendlichen gegen Überlebende des Konzentrationslagers Ebensee – und nicht zuletzt mit den EU-Wahlkampfplakaten der FPÖ, die suggerierten, Israel wolle der EU beitreten und das gelte es zu verhindern. Sie alle folgen dem Trend, meint der in Wien tätige kanadische Zeithistoriker Murray Hall zur Tageszeitung „Kurier“, „mit Codes zu provozieren“.
Bei den Feindbildern hinter den „Codes“ hat Mittelund Osteuropa offensichtlich in den letzten fünfzig Jahren nichts dazugelernt.