Auch in der jüdischen Gemeinde wurden früh Vorkehrungen gegen die Ausbreitung von Corona getroffen. Die Krisenstäbe der Institutionen und Vereine erwiesen sich als hilfreich.
Die Nachrichten aus Norditalien wurden bereits im Februar immer beängstigender. Es war klar, die Pandemie würde nicht an der Grenze zu Österreich Halt machen. Besonders besorgt sah man die Entwicklung in jenen Einrichtungen, die ältere und kranke Menschen betreuen, wie etwa im Maimonides-Zentrum, das Wohnheim und Tagesstätte für betagte Jüdinnen und Juden ist; oder bei ESRA, dem psychosozialen Zentrum für NS-Überlebende, jüdische Migrantinnen und Migranten sowie traumatisierte Asylsuchende aller Konfessionen.
Micha Kaufman, Direktor des Maimonides-Zentrums, richtete rasch einen Krisenstab zur Ausarbeitung möglicher Notfallpläne ein. Um bis zu 350 Menschen autark versorgen zu können, wurden bereits im Februar Schutzausrüstungen und hygienisches Material gekauft sowie Lebensmittelvorräte angelegt. Schon Anfang März wurde ein Besuchsverbot verhängt, die Gemeinschaftsräume wie Speisesaal und Cafeteria wurden geschlossen und die Bewohner gebeten, das Haus nicht mehr zu verlassen. Dank dieser frühen Schutzmaßnahmen ist das Maimonides-Zentrum coronafrei geblieben.
Vor allem anfangs weckten die Isolationsregeln bei vielen älteren Heimbewohnern allerdings traumatische Erinnerungen an den Holocaust: eine für alle – auch das Pflegepersonal – äußerst belastende Situation, die durch intensive persönliche Gespräche wieder entspannt werden konnte. Eine besondere Herausforderung für die Heimleitung waren die Pessachfeiertage: Statt wie üblich einen großen Sederabend für Bewohner, Angehörige und Personal im Speisesaal zu feiern, konnten nur kleine Pessachfeierlichkeiten auf den einzelnen Stationen abgehalten werden. Mittlerweile wurden die Verhaltensregeln der Bundesregierung gelockert, seit Mitte Mai sind, freilich unter strengen Hygienevorschriften, wieder Besuche möglich. Wann wieder Normalität einkehrt, ist allerdings ungewiss.
Zusätzliches Angebot
Schon früh hat auch ESRA-Geschäftsführer Peter Schwarz mit seinem Team auf die Herausforderungen der Pandemie reagiert: Medizinische Behandlungen, Psychotherapien, sozialarbeiterische Beratungen mussten innerhalb kürzester Zeit auf Telekommunikation umgestellt und ins Netz verlagert werden. In den ESRA-Räumlichkeiten ist nur ein medizinisches Not-Team zugegen, die meisten Mitarbeiter arbeiten im Homeoffice. Zehn neue Laptops mussten deshalb angeschafft, die IT-Infrastruktur verstärkt werden. Ein der Coronakrise geschuldetes Zusatzangebot: ESRA hat ältere Gemeindemitglieder ab 75 Jahren kontaktiert, um psychosoziale Bedürfnisse abzuklären und gegebenenfalls zu betreuen. Eine eigens zu den Pessachfeiertagen eingerichtete Krisen-Hotline wurde vor allem von älteren Menschen genutzt, die durch die Schutzmaßnahmen an Einsamkeit litten. Schwarz fürchtet, dass es nicht so schnell eine Rückkehr in die Normalität geben wird: „Es ist absehbar, dass in Zukunft die soziale Arbeit von ESRA verstärkt beansprucht wird, da auch in unserer Gemeinde soziale und wirtschaftliche existenzielle Not deutlich zunehmen wird.“
Unbürokratische Unterstützung
Ein Krisenstab wurde auch in der IKG eingerichtet. Die Zusammensetzung spiegelt alle Aspekte jüdischen Lebens wider, auch Wissenschaftler und Ärzte gehören zum Team. Seit Beginn der Krise informiert die IKG regelmäßig in Newslettern ihre Mitglieder über die aktuelle Lage. Außerdem wurde ein mit 250.000 Euro dotierter Hilfsfonds eingerichtet, um (mithilfe von ESRA) bedürftige Menschen rasch und unbürokratisch unterstützen zu können. Ein weiterer Krisenfonds wird aus Spenden von Gemeindemitgliedern gespeist: Unternehmer, Freiberufler und Selbstständige können, falls sie keine staatliche Hilfe bekommen, Soforthilfe beantragen, eine dreiköpfige Kommission entscheidet, ob dem Antrag stattgegeben wird. Ausbezahlt werden pro Ansuchen bis zu 5000 Euro. Damit jedem IKG-Mitglied geholfen werden kann, haben die Unterstützer dieses Fonds zugesagt, den Topf immer wieder aufzufüllen.
Schwieriger war die Aufrechterhaltung der religiösen Infrastruktur, nachdem die Regierung im März die Schließung der Synagogen und Bethäuser verordnet hatte. Anfangs wurde in Privatwohnungen heimlich ein Minjan abgehalten; diese Gottesdienste, bei denen mindestens zehn im religiösen Sinne erwachsene jüdische Personen nötig sind, wurden teilweise von der Polizei aufgelöst. Die IKG ebenso wie das Oberrabbinat von Israel bat die Wiener Rabbiner, auf die Gläubigen einzuwirken und diese Zusammenkünfte zu untersagen.
Gefüllte Geschäfte
Kreativität bewies Oberkantor Shmuel Barzilai: Religiöse Veranstaltungen im Stadttempel wie etwa Kabbalat Shabbat wurden via Videostream auf Facebook und der Website der IKG übertragen. Auch der Verein der bucharischen Juden – sie stellen rund ein Drittel der Gemeindemitglieder – hat viele Initiativen gesetzt, unter anderem wurde ein Hilfsfonds für unbürokratische Soforthilfe gegründet. Weil das religiöse Leben eine besonders große Rolle für Bucharen spielt, war ein eigenes Team dafür zuständig, die religiöse Infrastruktur auch in Zeiten von Covid-19 zu gewährleisten.
Üblicherweise fliegt ein Drittel der Wiener Juden zu Pessach nach Israel, um dort zu feiern. Aufgrund der Reisebeschränkungen sowohl Österreichs als auch Israels war das in diesem Jahr bekanntlich nicht möglich. Doch die oft geäußerte Sorge, es würde deshalb in Wien zu wenig koschere Lebensmittel geben, war unbegründet, die koscheren Geschäfte und Supermärkte füllten ihre Lager rechtzeitig auf. Nach Rücksprache mit der IKG-Führung stellten sie, um einen unerwarteten Ansturm zu vermeiden, auf Lieferdienst um. Koordiniert von der Jüdischen österreichischen HochschülerInnenschaft, halfen Jugendliche und Freiwillige bei der Auslieferung, mitunter waren es mehr als 130 Menschen, die Lebensmittelvorräte, aber auch notwendige Medikamente für die Pessachfeiertage nach Hause brachten.