Kommentar von Eric Frey
Schon kurz nach ihrem Amtsantritt hatte die Koalitionsregierung von Langzeitpremier Benjamin Netanjahu mit massivem Widerstand auf drei verschiedenen Fronten zu kämpfen: Zivilgesellschaft und Opposition mobilisierten Massendemonstrationen gegen die geplante Justizreform, die auf eine Entmachtung des Justizapparats und des Obersten Gerichtshofs herauslief; massive Kritik an dieser und anderen Maßnahmen kam aus den USA, und nicht nur von den regierenden Demokraten, sondern auch von sonst so israelfreundlichen jüdischen Organisationen; und es kam zu einer bedrohlichen Häufung von Terrorangriffen von Palästinensern in Israel und aus den besetzten Gebieten.
Wie sich diese dramatischen Ereignisse weiter entwickeln würden, ließ sich beim Redaktionsschluss dieser Ausgabe von NU nicht voraussagen. Aber die Ursachen lassen sich analysieren – und die gehen über die offensichtliche Radikalität der rechtesten Regierung in Israels Geschichte, die in den letzten Wahlen nur durch Zufälligkeiten im Wahlrecht zu ihrer Mehrheit kam, hinaus. Bei der Staatsgründung vor 75 Jahren und in den Jahrzehnten danach wurden in Israel entscheidende Grundsatzfragen offengelassen, die in anderen Ländern selbstverständlich geregelt wurden.
Das mag überraschen, wenn man bedenkt, wie konsequent und detailbesessen die jüdische Religion an die Regelung von Glauben, Alltag und Gerechtigkeit herangeht. Aber der Zionismus war eine säkulare Bewegung mit tiefreligiösen Wurzeln, der einen Staat auch in einer völkerrechtlichen Grauzone schuf. Und da sich dieses Spannungsfeld nicht auflösen ließ, wurden in zumindest drei Bereichen Provisorien geschaffen, die bis heute anhalten – und nun zu den politischen Tumulten beitragen.
Das erste Provisorium ist das Fehlen einer Verfassung. Es gibt zwar ein paar Grundgesetze, die aber alle von der Knesset mit einfacher Mehrheit abgeändert werden können. Das ist in der demokratischen Welt einmalig. Auch Großbritannien hat zwar keine formale Verfassung, aber stark abgesicherte Grundrechte und Barrieren gegen willkürliche politische Änderungen. 75 Jahre haben sich alle israelischen Regierungen der Autorität eines Obersten Gerichtshofs unterworfen, der mit Augenmaß, aber einer gewissen Konsequenz für die Einhaltung von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit eingetreten ist – immer wieder auch gegen Entscheidungen der Besatzungsbehörden und des orthodoxen Oberrabbinats.
Das lag daran, dass alle Regierungen auf diversen Koalitionen basierten, die sich auf eine radikale Abkehr von diesem System hätten gar nicht einigen können. In Netanjahus jetziger Regierung fehlen diese Gegengewichte. Likud, Nationalreligiöse und Orthodoxe sind sich einig, dass sie die Fesseln der liberal-säkularen Justiz endlich abstreifen wollen. Für Netanjahu ist die Justizreform ein persönliches Anliegen: Er will die Strafverfahren wegen Korruption und Amtsmissbrauch, die er als politisch motivierte Hexenjagd empfindet, gegen ihn endlich beenden.
Die neuen Justizgesetze machen aus Israel eine rechtsstaatliche Bananenrepublik. Ein ähnliches Ziel hatte die rechtsnationale PiS-Regierung in Polen verfolgt, mit dem Unterschied, dass diese sich an die Grundregeln der Europäischen Union halten und unter Druck aus Brüssel zahlreiche Maßnahmen wieder aufgeben musste. Israel kennt solche Einschränkungen der Souveränität nicht. Dort ist es nur der Druck der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und vom Verbündeten USA, der den Spielraum der Regierung einschränken könnte.
Weniger Aufmerksamkeit hat ein anderer Plan der Regierung bisher erhalten, der ebenfalls ein Provisorium aus 1948 abändern würde: das Staatsbürgerschaftsrecht. Für einen Staat, der sich als Heimstätte aller Jüdinnen und Juden definiert, ist es auffällig, dass die Frage, wer eigentlich Jude ist, nie klar beantwortet wurde. Für das Recht auf Einwanderung wurde die Definition des NS-Regimes herangezogen: Es genügt ein jüdischer Großelternteil. Das Familienrecht richtet sich nach der orthodoxen Halacha: jüdische Mutter oder Übertritt nach orthodoxen Regeln. Weil es keine standesamtliche Eheschließung gibt, können viele Einwanderer in Israel nicht heiraten und müssen ins Ausland, meist nach Zypern, ausweichen oder nur eine Lebensgemeinschaft bilden. Bei Übertritten nach nicht-orthodoxem Ritus wurde bis vor kurzem zwischen jenen im Ausland und denen in Israel unterschieden; nur die ersteren berechtigten zur Staatsbürgerschaft. Erst der Oberste Gerichtshof beendete diese unlogische Regelung zumindest auf dem Papier.
Nun aber will die Regierung auf Druck der beiden ultra-religiösen Koalitionspartner das Einwanderungsrecht verschärfen, und zumindest einen jüdischen Elternteil oder einen orthodoxen Übertritt verlangen. Das ist vor allem gegen die Welle der Einwanderung aus Russland von Menschen mit wenig Bezug zum Judentum gerichtet, empört aber weite Teile des nordamerikanischen Judentums, wo die Mehrheit der Gemeinden nicht orthodox sind. Werden diese Pläne konsequent durchgezogen, könnte das die finanzielle und politische Unterstützung aus den USA, dem bei weitem wichtigsten Verbündeten, schwächen und damit auch Israels nationale Interessen gefährden. Da dies Netanjahus Interessen entgegenläuft, ist hier noch alles offen.
Das dritte und signifikanteste Provisorium sind die Grenzen des Staates und der Status der seit 1967 besetzten Gebiete. Auch 55 Jahre danach pocht Israel darauf, dass die Besatzung des Westjordanlandes ein temporärer Zustand ist, der einmal in einem Friedensvertrag geregelt werden soll. De facto hat Israel dieses Gebiet durch die laufende Ausweitung der Siedlungen weitgehend annektiert und die dort lebenden Palästinenser gegenüber den jüdischen Siedlern zu Bürgerinnen zweiter Klasse degradiert. Aber internationaler Druck und das Bestreben, dem Friedensprozess nicht endgültig die Tür zuzuschlagen, haben der völkerrechtlich illegalen Annexion einen Riegel vorgeschoben.
Der rechtsextreme Parteienblock von Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich will diese Einschränkungen in ihrem Judäa und Samaria nicht mehr hinnehmen und auf den wachsenden gewalttätigen Widerstand aus der palästinensischen Bevölkerung, dem sich auch immer mehr junge Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft anschließen, mit stärkerer Repression beantworten. Zu Ende gedacht würde diese Politik in eine Massenvertreibung der palästinensischen Bevölkerung münden – ein Szenario, mit dem die Rechtsextremen offen spielen, das aber Israel zu einem tyrannischen Aggressor machen und international völlig isolieren würde.
Terror und Repression sind im israelisch-palästinensischen Konflikt nichts Neues. Aber die aktuelle Gewaltwelle könnte sich als Vorbote einer Entwicklung erweisen, die die ersten beiden Intifadas an Brutalität bei weitem übertrifft und Israel in seinen Grundfesten erschüttert.