Mit dieser Ausgabe startet NU eine Serie über Rabbiner in Wien. Der erste Teil beschäftigt sich mit der streng-orthodoxen Gemeinde. Einige hundert Mitglieder leben in Wien, betreut werden sie von drei Rabbinern. Sie leben zurückgezogen und sind öffentlichkeitsscheu.
Von Martin Engelberg (Text) und Peter Rigaud (Fotos)
Die Definition
Schon der Versuch einer Unterteilung der ca. 10 amtierenden Rabbiner in Wien löst bei allen Befragten ein Stirnrunzeln hervor. Nach welchen Kriterien möchte man diese Rabbiner, von denen jeder einer eigenen Bethaus-Gemeinde vorsteht, denn einteilen?
Da gibt es einerseits die Kategorie ihrer Herkunft, die über viele Generationen läuft und vor allem geografisch bestimmt ist. Litwisch¹, Oberländer² , Yekisch³, Chassidisch&sup4; – und da wieder von den eher polnisch oder ungarisch-chassidischen Höfen. Das ist sehr kompliziert, die Grenzen verlaufen quer durch alle Bethaus-Gemeinden.
Weiters genügt die Kategorie „orthodox“ allein nicht, da auch der Stadttempel – per definitionem – nach orthodoxem Ritus geführt wird, wiewohl sich dort vor allem die vielen Juden Wiens zugehörig fühlen, die eigentlich sehr wenige der religiösen Gesetze einhalten.
Um die im Englischen zwar gebräuchliche, aber im Deutschen negativ konnotierte Bezeichnung „ultra-orthodox“ zu vermeiden, einigten wir uns schließlich auf eine erste Gruppenbezeichnung, und zwar jene der „streng-orthodoxen Rabbiner von Wien“, von denen in diesem ersten Teil die Rede sein soll.
Die Geschichte
Schon bald nach dem Ende der Nazizeit wurde auch in Wien wieder eine streng-orthodoxe Gemeinde, „Agudas Israel“, später „Khal Israel“ genannt, gegründet. Deren bekanntester Exponent war Benjamin Schreiber, der vor dem Verfassungsgericht am Anfang der 1980er Jahre sogar das historische Erkenntnis erstritt, neben der Kultusgemeinde weitere Gemeinden gründen zu dürfen. Die Tatsache, dass Schreiber unmittelbar danach starb und die Kultusgemeinde den orthodoxen Bethaus-Gemeinden seither großzügige finanzielle Zuwendungen gewährt, verhinderte jedoch die möglich gewordene Spaltung der Kultusgemeinde.
Generalsekretär der Agudas Israel&sup5; war Chaim Grünfeld, der sich im Laufe der Jahre durch Selbststudium und späten Besuch von Jeschiwes zum Rabbiner hocharbeitete, sich einen Bart wachsen ließ und zum Rabbiner der streng-orthodoxen Gemeinschaft küren ließ. Deren Zentrum war ursprünglich in der Weihburggasse, später und bis heute sind es die Bethäuser in der Tempelgasse im 2. Bezirk und in der Grünangergasse im 1. Bezirk. Nach dem Ableben von „Reb Chaim“, wie Grünfeld liebevoll von seinen Anhängern genannt wurde, beriefen die Mitglieder seinen Sohn Leib Grünfel d zu ihrem Rabbiner.
Fast die Hälfte der bisherigen Mitglieder der Agudas Israel erkannten jedoch Chaim Grünfeld nicht als ausreichende religiöse Autorität an, spalteten sich ab und gründeten die „Machsikei Hadass“. Sie hatte vorerst ihren Sitz in der Seitenstettengasse, im Haus oberhalb des Stadttempels und befindet sich heute in der Großen Mohrengasse im 2. Bezirk. Deren Rabbiner wurde später Rabbiner Bezalel Stern, dessen Sohn Chaim heute das religiöse Oberhaupt dieser Gemeinde ist.
Es war gerade diese rabbinische Erbfolge – neben einigen anderen Auffassungsunterschieden – die einige Mitglieder der „Machsikei Hadass“ so erzürnte, dass sie sich wieder abspalteten und sodann die Gemeinde „Ohel Mosche“ mit Sitz in der Lilienbrunngasse im 2. Bezirk gründeten. Deren Oberhaupt wurde Rabbiner Jona Schwartz, der 35-jährig aus London engagiert wurde.
Offenbar unvermeidlich, kam es auch dort wieder zu Auseinandersetzungen und Spaltungstendenzen, Rabbiner Schwartz kündigte vorerst und ging zurück nach London, kehrte aber nach sechs Monaten wieder, als Oberhaupt einer weiteren neu gegründeten Gemeinde, der „Khal Chassidim“. Seither kam es zu folgender interessanter Entwicklung:
Die „Agudas Israel“, später „Khal Israel“, hatte einen Vertrag mit der Kultusgemeinde, in dem dieser die Verantwortung für die Kaschrut&sup7; übertragen wurde. Nach einem Vorfall im koscheren Restaurant, bei dem treifenes&sup8; Fleisch gefunden wurde, wollte der junge Rabbiner Leib Grünfeld nicht mehr weiter für die Kaschrut verantwortlich sein, kündigte und wollte zurück nach Israel gehen.
Daraufhin engagierte „Khal Israel“ Rabbiner Jona Schwartz – zum damaligen Zeitpunkt eigentlich Rabbiner von „Ohel Mosche“ –, um den Vertrag mit der Kultusgemeinde weiterhin erfüllen zu können. Grünfeld überlegte es sich dann aber doch anders, blieb weiterhin Rabbiner in den Bethaus-Gemeinden Tempelgasse und Grünangergasse. Rabbiner Schwartz, zwischenzeitlich ja gewechselt zu „Khal Chassidim“, ist jedoch seither für „Khal Israel“ und damit die Kultusgemeinde, der für Kaschrut zuständige Rabbiner.
1 litwisch (Adj.); Litvaks (Subs.): Aschkenazische Juden mit Wurzeln in Litauen; Zugang zum Judentum über höchst konzentriertes und intellektuelles Studium des Talmuds. Litauen was das Zentrum der Opposition gegen den Chassidismus. Litvaks wurden als intellektuell und stoisch angesehen, im Gegensatz zu den Chassidim, die als emotional und spontan galten. Die Leitfigur der Litvaks ist der „Ga’on (rabbinisches Genie) von Wilna“ (1720 – 1797), einer der größten Talmud-Gelehrten.
2 Oberländer: Juden aus der Oberland-Region in Ungarn und der Slowakei. Orthodox, nicht chassidisch.
3 yekisch (Adj.): Art der deutschstämmigen Juden 4 chassidisch (Adj.); Chassidim (Subs.): Chassidismus, gegründet von „Ba’al Shem Tov“ – Rabbi Israel ben Eliezer (1698–1760), als Antwort darauf, dass viele das Judentum als zu „akademisch“, zu vertieft in das Studium des Talmuds, empfanden. Der Chassidismus ist sehr geprägt von Spiritualität und Freude.
5 Agudas Israel: gegründet 1912 als politischer Arm des orthodoxen Judentums. Gewann vor der Shoa Sitze im polnischen Parlament, entsandte in vielen Gemeinden Vertreter in die politischen Gremien, auch heute in der Knesset (israelisches Parlament) vertreten.
6 Jeschiwa: eine Institution für das Studium der Tora und des Talmuds für vorwiegend streng orthodoxe jüdische Jugendliche.
7 Kaschrut: Die jüdischen Speisegesetze – Regelungen zur Zubereitung von Speisen, Festlegung, welche Lebensmittel, Tiere verzehrt werden dürfen. Streng orthodoxe Juden ernähren sich ausschließlich von Lebensmitteln, die diesen Regeln entsprechen.
8 treife: Gegenteil von koscher – also unrein, und daher für den Verzehr verboten.