Die Krise der Hamas

Die anhaltende Krise in Syrien hat der palästinensischen Hamas die vielleicht größten internen Konflikte ihrer Geschichte beschert.
Von Florian Markl

Während ein Jahr nach Beginn des Aufstandes gegen Diktator Bashar al-Assad noch immer kein Ende des Blutvergießens in Syrien in Sicht ist, hat sich eine seiner Folgen bereits herauskristallisiert: Für die 1987 aus der palästinensischen Muslimbruderschaft hervorgegangene Hamas (der Name ist ein Akronym für „Islamische Widerstandsbewegung“), geht ein Abschnitt ihrer Geschichte zu Ende. Sieben Jahre lang war sie Teil eines ungewöhnlichen Bündnisses, jetzt muss sie sich neu orientieren.

Die „Achse des Widerstands“
Das Jahr 2004 markierte einen Wendepunkt in der Geschichte der Hamas. Binnen weniger Monate kamen ihre wichtigsten Führer durch gezielte Tötungsoperationen der israelischen Armee im Gazastreifen ums Leben. Die Leitung der Organisation ging daraufhin an Khaled Mashal über, den Chef des Hamas-Politbüros, der sich, zusammen mit den anderen Mitgliedern der externen Führungsriege, in Damaskus der Gastfreundschaft des syrischen Regimes erfreute. Parallel zum Wechsel der Führung vom Gazastreifen in die syrische Hauptstadt fand eine aus finanziellen Nöten geborene Umorientierung statt. Denn ebenfalls im Jahre 2004 sperrten saudische Sicherheitsbehörden die Konten vieler Anhänger Osama bin Ladens – dabei handelte es sich zugleich um jene Personen, die auch die Hamas bisher großzügig unterstützt hatten. Auf der Suche nach neuen Geldquellen wurde sie im Iran fündig. Das islamistische Regime in Teheran wurde ihr neuer Patron und pumpte fortan nicht nur Geld in die Organisation, sondern versorgte sie auch mit Waffen und organisierte die Ausbildung ihrer Kämpfer.

Die sunnitischen Islamisten der Hamas wurden damit zum Bestandteil eines ungewöhnlichen regionalen Bündnisses, das unter Führung des persisch-schiitischen Regimes im Iran auch die panarabische, baathistische Diktatur in Syrien sowie die schiitische Hisbollah im Libanon umfasste. Gemeinsam richtete man unter dem Schlagwort des „Widerstands“ den Kampf gegen den Einfluss des verhassten Westens im Nahen Osten im Allgemeinen, und die Existenz Israels im Besonderen. Lange schien vieles im Sinne der „Achse des Widerstands“ zu laufen: Im Libanon wuchs der Einfluss der Hisbollah genauso, wie der iranische im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins. Im eigenen Land konnten die Mullahs ihr Atomprogramm relativ ungestört vorantreiben. (Die Proteste nach der geschobenen Präsidentschaftswahl im Sommer 2009 konnten, wenn auch mit einiger Mühe, letztlich niedergeschlagen werden.) Der Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern war, ganz im Sinne und unter tatkräftiger Mitwirkung Teherans und seiner Verbündeten, so gut wie tot und im Gazastreifen übernahm die Hamas 2007 gewaltsam die Macht, nachdem sie im Jahr zuvor als Siegerin aus den palästinensischen Parlamentswahlen hervorgegangen war. Als dann Anfang 2011 eine Welle von Protesten und Aufständen den Nahen Osten zu erschüttern begann, waren davon in erster Linie die Gegner der iranischen Achse betroffen. Ben Ali und Hosni Mubarak wurden gestürzt, und wo immer in der Region Wahlen abgehalten wurden, ob in Marokko, Tunesien oder Ägypten, gingen islamistische Parteien als die klaren Sieger aus den Urnengängen hervor.

Zu ersten Komplikationen kam es, als im März 2011 Proteste in Bahrain nach einer militärischen Intervention der Golfstaaten unter Führung Saudi-Arabiens niedergeschlagen wurden. Iran und Hisbollah unterstützten die maßgeblich von der benachteiligten schiitischen Mehrheit getragenen Demonstrationen gegen das sunnitische Herrscherhaus, auch Syrien stellte sich auf die Seite der bahrainischen Opposition. Für die Hamas war die Sache hingegen nicht so einfach: Konnte sie sich als einzige sunnitisch-islamistische Organisation wirklich auf die Seite der schiitischen Proteste schlagen, ohne sich selbst völlig zu diskreditieren?

Die Krise in Syrien
Nur wenige Tage nach der Niederschlagung der Proteste in Bahrain kamen im syrischen Dar’a mindestens fünf Menschen bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften ums Leben. Das Begräbnis der Getöteten wurde zu einer Massendemonstration und war der Beginn der Protestwelle gegen das Regime Bashar al-Assads, das zur Unterdrückung der Opposition vom ersten Tage an auf rücksichtslose Gewalt setzte. Gelang es der Hamas im Falle der Niederschlagung der Proteste in Bahrain noch, sich einer unangenehmen Parteinahme zu entziehen, so war das nach dem Beginn der blutigen Auseinandersetzungen in Syrien nicht mehr möglich. In dem durch viele religiöse und ethnische Bruchlinien charakterisierten Land herrscht ein Regime, dessen Elite im Wesentlichen von Alawiten gestellt wird, Angehörigen einer heterodox-schiitischen Minderheit, die vermutlich nur rund 15 Prozent der syrischen Bevölkerung ausmacht. Die bei weitem größte Gruppe Syriens bilden die circa 75 Prozent sunnitischen Araber. Auch wenn die syrische Opposition sich in der Weltöffentlichkeit gerne als überkonfessionelle Bewegung präsentiert, kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Aufstand gegen das Assad-Regime maßgeblich von sunnitischen Kräften bestimmt wird.

In diesem Spektrum sticht vor allem die syrische Muslimbruderschaft hervor, die schon einmal einen Aufstand gegen das syrische Regime unternommen hat, bis der damalige Machthaber Hafiz al-Assad, der Vater des heutigen Diktators, dem 1982 ein blutiges Ende bereitete: Geschätzte zwanzig- bis dreißigtausend Menschen kamen ums Leben, als große Teile der Stadt Hama wortwörtlich dem Erdboden gleichgemacht wurden. Die syrischen Muslimbrüder hielten an ihrer Opposition gegen das Regime fest, und auch wenn keine genauen Angaben über ihre Anhängerschaft unter Syriens Sunniten vorliegen, spielen sie auf jeden Fall eine wichtige Rolle im Syrischen Nationalrat, der im vergangenen Jahr als Zusammenschluss verschiedener Oppositionsgruppen gegründet wurde.

Die Hamas versuchte anfänglich, die Krise in Syrien auszusitzen. Als palästinensische Gruppierung, so ließ sie verlautbaren, wolle sie sich nicht in die Angelegenheiten ihres Gastgeberlandes einmischen. Doch je länger die Auseinandersetzungen andauerten, umso unhaltbarer wurde diese Position. Die Führung der Hamas in Damaskus musste eine Entscheidung treffen: Entweder sie blieb ihren bisherigen Gönnern treu, stellte sich an die Seite Assads und damit gegen so gut wie die gesamte arabischsunnitische Welt oder aber sie wechselte zu ihren Kollegen von den syrischen Muslimbrüdern auf der Seite der Aufständischen.

Im Spätsommer widersetzte sich die Hamas den syrischen und iranischen Forderungen, in den palästinensischen Flüchtlingslagern Pro-Assad-Demonstrationen zu organisieren. Während ihre bisherigen Verbündeten, die libanesische Hisbollah und der Iran, sich tatkräftig an der Niederschlagung des Aufstandes in Syrien beteiligten, verließen die Mitglieder der Hamas-Führung zusammen mit ihren Familien nach und nach das Land. Einige gingen zurück in den Gazastreifen, andere ließen sich in Amman oder in Kairo nieder. Auch massiver Druck des Iran konnte daran nichts mehr ändern: Bis Ende Jänner 2012 hatte das gesamte Hamas-Politbüro Syrien verlassen. Damit stellte sich jedoch für die externe Führung eine Reihe von Problemen. Einerseits musste sie sich auf die Suche nach einem neuen Quartier machen. Ausgedehnte Reisen quer durch die arabische Welt, von Ägypten über Amman bis nach Katar, wurden unter anderem in dieser Absicht unternommen, doch scheint vorerst kein Land bereit zu sein, einer Gruppe Unterschlupf zu gewähren, die immerhin von einem Großteil der Welt als Terrororganisation angesehen wird. Andererseits galt es, neue Geldquellen zu erschließen. Die finanzielle Unterstützung aus dem Iran war in der letzten Zeit bereits arg geschrumpft – allen Beteuerungen zum Trotz machten sich hier die gegen den Iran verhängten Sanktionen des Westens deutlich bemerkbar –, nun musste für den Fall vorgesorgt werden, dass gar kein Geld aus Teheran mehr in die Taschen der Hamas fließt. Mögliche alternative Finanziers wären einige der Golfstaaten oder die Türkei, deren Premier Erdogan zwar keinen Hehl aus seiner Sympathie für die Hamas macht, die aber jegliche finanzielle Zusagen zumindest offiziell dementiert.

Interne Konflikte
Drittens muss sich die Hamas nach dem Ende ihres Bündnisses mit Syrien und dem Iran strategisch neu orientieren. Dabei versucht sie, von der Akzeptanz zu profitieren, die dem sunnitischen Islamismus in Form der Parteien der Muslimbruderschaft neuerdings auf internationalem Parkett entgegengebracht wird. Nicht zuletzt diesem Zweck sollte das Anfang Februar von Khaled Mashal und Mahmud Abbas in Doha geschlossene Abkommen dienen, mit dem zum wiederholten Male versucht wurde, die verfeindeten Palästinenserorganisationen Hamas und Fatah zu „versöhnen“. Der Vereinbarung zufolge soll Abbas interimistisch neben dem Amt des Präsidenten auch noch den Posten des Premierministers übernehmen und im Laufe des Jahres sollen Parlamentswahlen abgehalten werden. Das „Versöhnungsabkommen“ war ein Versuch der externen Führung der Hamas, einen Weg aus der Sackgasse zu finden, in die sie durch die Krise in Syrien geraten war. Doch wie schlagartig klar wurde, stellte sich die Situation für die interne Führung, das heißt die Hamas im Gazastreifen, völlig anders dar. Nicht nur beschwerten sich „Premier“ Ismail Haniyeh und andere hochrangige Hamas-Mitglieder aus Gaza darüber, dass über ihre Köpfe hinweg von der externen Führung weitreichende Vereinbarungen getroffen worden waren. Sie legten darüber hinaus in einem Rechtsgutachten dar, dass die Vereinbarung schlicht verfassungswidrig sei.

Bei dem öffentlich gewordenen Dissens handelte es sich weder um ideologische, noch um persönliche Differenzen, sondern um Interessensgegensätze. Die mannigfachen Probleme der externen Führung existieren in dieser Form für die interne Führung nicht. Im Gazastreifen herrscht die Hamas seit 2007 weitgehend ungestört. Sie verfügt durch die Kontrolle des Schmuggelhandels über eine lukrative Einkommensquelle und sieht sich, insbesondere durch die Triumphe der Muslimbrüder bei den Wahlen in Ägypten, in ihrer regionalen Position eher gestärkt – kurz: Sie sieht keinerlei Notwendigkeit, mit der innerpalästinensischen Konkurrenz Kompromisse zu schließen oder gar zugunsten einer Einheitsregierung auf einen Teil ihrer Macht zu verzichten.

Haniyeh begab sich auf eine Tour durch verschiedene arabische Hauptstädte und stattete auch Teheran eine Visite ab. Es mag sich dabei um einen Versuch gehandelt haben, das ramponierte Verhältnis zum langjährigen Wohltäter zu reparieren, aber aus heutiger Sicht war es ein Abschiedsbesuch. Mitte Februar machte Haniyeh in Kairo den Bruch der Hamas mit ihrem bisherigen Verbündeten Assad gewissermaßen offiziell, als er in einer Rede explizit das nach „Freiheit, Demokratie und Reformen“ strebende syrische Volk grüßte, während im Publikum lauthals Sprechchöre gegen die Hisbollah, gegen Assad und gegen den Iran skandiert wurden. Wenig später erklärten mehrere hochrangige Funktionäre aus dem Gazastreifen gar, dass die Hamas sich aus dem Konflikt heraushalten werde, sollte Israel Militärschläge gegen den Iran unternehmen. Auch wenn diese Meldungen sogleich wieder dementiert wurden, sind sie in Teheran sicher aufmerksam zur Kenntnis genommen worden. Es wird interessant sein zu sehen, wie sich dieses Verhältnis weiter entwickelt, denn der Iran verfügt mit dem Palästinensischen Islamischen Dschihad über einen Stellvertreter in Gaza, der der Hamas das Leben durchaus schwer machen könnte.

Versucht man, eine Bilanz der Vorgänge des letzten Jahres zu ziehen, so scheint die „iranische Phase“ der Geschichte der Hamas zu Ende gegangen zu sein, die eine Folge des Machtzuwachses der externen Führung im Jahre 2004 war. Mit der nun notwendig gewordenen strategischen Umorientierung im Zuge der Krise in Syrien hat fürs Erste die interne Führung der Hamas im Gazastreifen wieder die Oberhand gewonnen. Sie hält die seit dem Krieg gegen Israel zum Jahreswechsel 2008/2009 existierende Waffenruhe einigermaßen ein, sieht aber keinen Grund, von ihrer grundsätzlichen Ablehnung des jüdischen Staates abzugehen. Dennoch verändert das scheinbare Ende der „Achse des Widerstandes“ in ihrer bisherigen Form die regionalen Machtverhältnisse – für Israel ist das im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit einem nach Atomwaffen strebenden Iran eine der wenigen guten Nachrichten der letzten Zeit.

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