Wie das Weizmann Institute in Rehovot zum Vorbild des IST Austria in Klosterneuburg wurde.
Von Oliver Lehmann
Johanna Mikl-Leitner gilt nicht als sonderlich sentimental. Wohl zu Recht. Ohne Durchsetzungskraft und Entschlossenheit wird man nicht Landeshauptfrau von Niederösterreich. Aber wenn Mikl-Leitner von ihrem Besuch des Weizmann Institute for Science in Rehovot im September 2017 erzählt, lässt sich ein Anflug von Rührung und Stolz erahnen. Haim Harari, der Langzeit-Präsident der weltweit angesehenen Forschungseinrichtung südlich von Tel Aviv, habe das Institute of Science and Technology Austria in Klosterneuburg bei ihrem Besuch als „kleine Schwester des Weizmann Institute“ gelobt. „Das ist ein ausgesprochenes Kompliment”, so Mikl-Leitner durchaus bewegt im Kurier.
Man kann das als Schnurre abtun. Oder man kann sich fragen, warum eine österreichische Regionalpolitikerin kein halbes Jahr nach ihrem Wechsel vom Innenministerium in Wien in das Landhaus nach St. Pölten ausgerechnet nach Israel reist. Und was das 2009 mitten im Wienerwald etablierte IST Austria mit dem 1934 vom nachmalig ersten Präsidenten Israels, dem Chemiker Chaim Weizmann, gegründeten Institut zu tun hat.
Die Antwort lässt sich analytisch oder anekdotisch geben. Analytisch betrachtet geht die Gründung des IST Austria auf das Jahr 2002 zurück, als der heutige Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Anton Zeilinger, eine „Flaggschifforganisation“ für Spitzenforschung in Österreich forderte, und zwar als Teil einer europäischen Antwort im Wettbewerb mit den USA und Asien. Nach einigen Querelen den Heimathafen betreffend, wurde Klosterneuburg als Ankerplatz gewählt und das IST Austria per Bundesgesetz im März 2006 gegründet.
Motiviert von Wissbegierde
Die inhaltliche Orientierung der neuen Einrichtung wurde maßgeblich von einer dreiköpfigen Expertenkommission und deren Bericht geprägt: Olaf Kübler war langjähriger Präsident der ETH Zürich, der wohl erfolgreichsten Universität auf dem europäischen Festland; Hubert Markl leitete die Max-Planck-Gesellschaft; und Haim Harari – der Vorsitzende der Kommission – war von 1988 bis 2001 Präsident des Weizmann Institute. Die Gültig- und Wirksamkeit des inzwischen 15 Jahre alten Bauplans für das IST Austria ist verblüffend: „Der Weg von der Forschung – einzig motiviert von Wissbegierde – zu praktischen Erfindungen, die die Welt verändern, ist oft unvorhersehbar. Aber all diese Ergebnisse resultieren aus der Arbeit herausragender Individuen, die Forschungsteams leiten und dazu ermutigt werden, ihre eigenen wissenschaftlichen Ziele zu verfolgen.“
Harari, bis 2020 Präsident des Exekutivkomitees des Kuratoriums von IST Austria, fasst das Credo pointiert zusammen: „People over fields, quality over speed“, also etwa „Exzellente Forscher und Forscherinnen statt fixer Lehrstühle, Qualität vor Geschwindigkeit“. Für Politiker und Politikerinnen, die alle vier Jahre gewählt werden wollen, und Industriemanager und -managerinnen, die alljährlich Bilanz zu legen haben, eine ziemliche Herausforderung. Aber gerade das Weizmann Institute als Institut der Grundlagenforschung in den Naturwissenschaften beweist, wie sich Erfolge anhand von Exzellenz, Unabhängigkeit, Multidisziplinarität, Karriereförderung und Internationalität erzielen lassen.
So wurde in Rehovot bereits 1955 mit dem WEIZAC der erste Großrechner Israels gebaut, auch die die ersten Labore für Kernforschung und Teilchenbeschleunigung wurden hier eingerichtet. Die bahnbrechenden Entdeckungen in der Biologie halfen nicht nur Präparate zur Behandlung von Darmkrebs und Multipler Sklerose zu entwickeln; deren beispielhafte ökonomische Verwertung in Form von Patenten und Lizenzen durch eine eigens gegründete Firma erwirtschaftet bis zu 100 Mio. Dollar pro Jahr und trägt maßgeblich zur Finanzierung des Forschungsbetriebs bei.
Zur Konzertreife
Die anekdotische Fassung dreht sich um das Verhältnis zwischen Haim Harari und Erwin Pröll, dem Vorgänger Mikl-Leitners bis 2017. Auf den ersten Blick haben der Sohn einer Bauernfamilie aus Radlbrunn im Weinviertel und der Spross aus zionistischem Adel mit einer mindesten fünf Generationen zurückreichenden Familiengeschichte im historischen Palästina wenig gemeinsam. Und doch lässt sich bei Begegnungen der beiden erkennen, dass ihr Respekt füreinander aus der Anerkennung für das jeweilige Lebenswerk und einem vergleichbar aufgeschlossenen Verhältnis zur Macht schöpft: „Abgeklärter Absolutismus“, hat Michael Fleischhacker diese Haltung einmal genannt. Damit lässt sich die Gelassenheit – manchmal auch als Unverfrorenheit wahrgenommen – erklären, mit der Harari gegenüber Pröll in der Frühphase 2007 das eben gegründete Institut mit einem Baby verglich. Da frage man auch nicht, „wann es Klavier spielen wird“. Es brauche eben Zeit und Geduld – vor allem letztere eine Sekundärtugend, für die Erwin Pröll nie verschrien war.
Inzwischen hat das IST Austria die Konzertreife erlangt. Aktuell erkunden 65 Forschungsgruppen die Grundlagen der Physik, Chemie, Biologie, Mathematik und Computerwissenschaften, bis 2036 werden es 150 Gruppen sein. 2019 platzierte die führende Wissenschaftspublikation Nature das IST Austria in den Top 3 ihrer Wertung der weltweit erfolgreichsten Forschungseinrichtungen in Relation zur Größe; übrigens einen Platz hinter der großen Schwester aus Rehovot.
Wie das Weizmann Institute finanziert das IST Austria sein Wachstum zu einem erheblichen Anteil selbst, etwa durch Förderungspreise, die im internationalen Wettbewerb errungen werden: Zwei Drittel der Professoren und Professorinnen konnten sich bislang die renommierten ERC-Grants sichern, die höchstdotierten Forschungsförderungspreise der EU. Das IST Austria ist damit das erfolgreichste Institut, das an dem Leuchtturmprogramm der EU teilnimmt. Weitere Finanzierungsquellen sind Einnahmen aus dem Technologietransfer, wie in dem unlängst aktivierten Technologiepark gleich neben dem Campus praktiziert, und die Einwerbung philanthropisch motivierter Spenden. Auch hier setzt das IST Austria Standards, die sich am Weizmann Institute orientieren.
Aus Fehlern lernen
Die Erkenntnisgewinne färben auf die Umgebung ab. Österreich orientiert sich an der vorbildlichen Finanzierung der Grundlagenforschung in Israel. 2019 wurden in Österreich 12,69 Mrd. Euro für Forschung und experimentelle Entwicklung (F&E) ausgegeben, was 3,2 Prozent des BIP entspricht. Luft nach oben gibt es aber noch. Israel liegt mit 4,9 Prozent des BIP für F&E-Ausgaben in der Weltspitze.
Hört man Johanna Mikl-Leitner zu, ist Geld aber nicht alles: „Ich habe Israel als ein führendes Land im Bereich der Innovation und Forschung erlebt. Das Besondere hier ist die Kultur, Fehler machen zu dürfen und sie nicht als Niederlage zu verstehen. Daraus sollten wir lernen.“ Ganz unsentimental.
Oliver Lehmann ist seit 2007 am IST Austria tätig, wo er derzeit die Abteilung für Stakeholder Relations leitet.