Christian Kern, Generaldirektor der ÖBB, verbindet humanistisches Engagement mit einem pragmatischen Ansatz. Von NS-Aufarbeitung bis zum Transport von Flüchtlingen – er schafft mit großem Einsatz gute Lösungen.
VON DANIELLE SPERA (TEXT) UND MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER (FOTOS)
NU: Die ÖBB nehmen sich unter Ihrer Direktion einer Reihe von kontrovers diskutierten Themen an. Das hat mit der Ausstellung über die Rolle der Bahn in der NS-Ära begonnen. Was hat den Ausschlag dafür gegeben, dass Sie und Ihre Mitarbeiter sich da so engagieren?
Christian Kern: Als mir zu Beginn meiner Amtszeit ein Kollege die Idee der Aufarbeitung der Rolle der Bahn in der Zeit des Nationalsozialismus näherbrachte, habe ich für ausgeschlossen gehalten, dass es für die Zeit von 1938 bis 1945 bei der Bahn einen blinden Fleck gibt. Als wir das feststellten, war vollkommen klar, dass wir diese Arbeit aufnehmen. Dies schulden wir nicht nur uns selbst, sondern vor allem den Opfern und deren Hinterbliebenen. Aber auch den Eisenbahnern, die sich überproportional im Widerstand engagiert haben, ums Leben gekommen sind und ihre Familien zurückgelassen haben.
Wie sind die Reaktionen ausgefallen – auch innerhalb Ihres Konzerns?
Anfangs gab es Leute, die meinten: „Macht das lieber nicht! Das ist ein unangenehmes Thema, ihr habt so schöne Züge und bemüht euch so um eure Kunden … Damit beschwört ihr Bilder von den Viehwaggons und den furchtbaren Transporten herauf.“ Die Skepsis war stark vom Marketinggedanken getragen, der ein schönes, buntes Bild der Eisenbahnwelt zeichnet. Allerdings ist das genaue Gegenteil eingetreten. Wir ernteten viel Anerkennung und Dankbarkeit. Überall, wo wir die Ausstellung zeigten, haben wir positive Reaktionen bekommen. In Brüssel stellte sich ein etwa 90-jähriger Herr mit Tränen in den Augen als der stellvertretende Vorsitzende der Kultusgemeinde in Belgien vor und bedankte sich herzlich bei mir. Ich habe nicht gleich verstanden, warum er sich bedankt. Wir hatten diesen Akt der Aufarbeitung zu betreiben. Mir ist erst später bewusst geworden, was das für diese Menschen bedeutet. Es muss uns sehr nachdenklich machen, dass sich jüdische Menschen heute in Israel sicherer fühlen als in Europa. Leider kann man diese Haltung verstehen. Vor diesem Hintergrund finde ich die von der EU-Kommission beschlossene Kennzeichnung von Waren aus den israelischen Siedlungsgebieten erbärmlich beschämend.
Wie haben Sie jene umgestimmt, die nicht mit großer Euphorie an das Thema herangingen, wie gehen Sie mit den negativen Reaktionen um?
Als CEO führt man Diskussionen, aber ein Unternehmen ist am Ende keine basisdemokratische Veranstaltung. Da geht es darum, eine Entscheidung zu treffen. Man kann anfangs nicht alle immer überzeugen, aber mittlerweile ist dieses Projekt im Hause etwas, das uns alle stolz macht. Ich habe nachher nie mehr eine Stimme gehört, die meinte, das hätte man sich besser geschenkt. Dass sich ein Unternehmen einen Wertekanon zulegt, ist sehr wichtig. Der Respekt vor Menschen soll schließlich die gesamte Haltung des Unternehmens prägen. Diesen Respekt müssen wir auch gegenüber unseren Mitarbeitern und Kunden aufbringen, und dann ergeben sich viele Dinge von ganz alleine.
Sie sind Mitte der 1960er Jahre geboren, wie sehr war denn das Thema NS-Zeit in Ihrer Familie präsent?
Meine Eltern sind beide 1928 geboren und hatten insofern ein unmittelbares Erleben. In unserer Familie war das Thema in mehrfacher Hinsicht präsent. Mein Vater ist im 2. Bezirk aufgewachsen und hat erlebt, dass sich der charakterliche „Abschaum“, wie er sich ausgedrückt hat, früh bei den Nazis organisiert hat. Mit diesem Bild bin ich aufgewachsen. Meine Großmutter war Haushälterin bei einem jüdischen Ehepaar. Als dann die Nazis einmarschierten, sind sie bald in den Dachboden des Hauses übersiedelt. Meine Mutter hat jeden Tag Essen dorthin gebracht, bis dann eines Tages Gestapo-Leute vor dem Haus gestanden sind und sie weggescheucht haben. Meine Mutter war damals gerade zwölf Jahre alt, doch das hat sie bis heute nicht vergessen, sie erzählt immer wieder davon. Auch, dass die jüdische Familie dann plötzlich nicht mehr da war. Diese Erlebnisse hat sie an uns weitergegeben. Das ist auch die Idee der Ausstellung Verdrängte Jahre. Wir haben hier mit ÖBB-Lehrlingen die Geschichte aufgearbeitet. Die neue Generation kann leider nicht mehr von Zeitzeugen hören, wie es wirklich war.
Wie war das in Ihrer Schulzeit, bei welcher historischen Phase hat der Geschichtsunterricht geendet?
Wir hatten einen Lehrer, der sehr engagiert war und die Zeit des Nationalsozialismus auch immer wieder zum Thema gemacht hat. Aber grundsätzlich ist es so, dass man sich auf das Bildungssystem allein nicht verlassen kann. Als wir die Lehrlinge gebeten haben, die Artefakte für die Ausstellung aufzuarbeiten, haben wir sie gefragt, was habt ihr in der Berufsschule schon darüber gehört? Die Antwort war erschreckend: Sie sagten alle, das ist das erste Mal, dass wir uns damit beschäftigen. Und das ist genau der Mechanismus, den ich meine. Wir sind noch jene Generation, deren Eltern diese Zeit erlebt haben. Das verpflichtet uns, diese Kette der Erinnerung aufrechtzuerhalten.
Beim Thema Flüchtlinge haben die ÖBB ebenfalls sofort sehr engagiert reagiert. Wie kam das? War Ihnen das ein persönliches Bedürfnis?
Das war ähnlich wie bei der Ausstellung. Es war eine Entscheidung, die aus einer menschlichen Haltung heraus geschah. Aber im Grunde war das alternativlos, da wir wussten, dass diese Menschen kommen. Und sie kommen zu den Bahnhöfen und suchen sich entlang der Bahn ihre Wege. Es geht nicht, hier zu sagen, das geht uns alles nichts an, wir halten euch fern, sperren euch aus und das interessiert uns alles nicht.
Das heißt, für Sie gab es gar keine andere Wahl?
Wenn wir gesagt hätten, das geht uns nichts an, dann hätten wir ein Bahnchaos produziert. Wir haben auch im Interesse unserer Kunden und eines geordneten Bahnbetriebes gehandelt. Wenn einmal eine Strecke und ein Bahnhof geschlossen werden müssen, dann gibt es eine Kettenreaktion, und es dauert nur wenige Stunden, bis die Bahn gar nicht mehr fährt. Das war ein wesentliches Argument – denn mit der Haltung, wir müssen hier im Sinne der Menschlichkeit handeln, erreicht man natürlich auch die Mitarbeiter der ÖBB nicht restlos, denn sie sind ein Abbild der österreichischen Gesellschaft. Wir haben humanistisch und gleichzeitig pragmatisch vernünftig gehandelt.
Sie haben angedeutet, dass nicht alle Mitarbeiter mit großer Begeisterung Ihren Weg teilen?
Es war sehr belastend für die Kollegen, weil ein Einsatz bis an die Belastungsgrenze und manchmal darüber hinaus nötig war. Viele waren hier bereit, mit großem Engagement mitzutun. Wir haben 300.000 Menschen transportiert, zehntausende mit Nächtigungsmöglichkeiten in unseren Bahnhöfen und Büros versorgt. Natürlich klappt da nicht immer alles reibungslos. Da war auch das öffentliche Lob wichtig. Wobei ich dazu sagen muss, auch unsere Kunden hatten großes Verständnis.
Viele Menschen fürchten, was auf uns zukommen könnte. Artikulieren Ihre Mitarbeiter auch derartige Ängste?
Die Bahnmitarbeiter sind sehr diszipliniert. Die Aufgabe und die Verantwortung stehen im Vordergrund. Aber unsere Gesellschaft steht vor einer großen Herausforderung. Wenn wir den Zuzug nicht limitieren, gibt es nur eine Alternative: die rasche Integration dieser Menschen. Das bedeutet, dass Kosten entstehen und große Anstrengungen notwendig sein werden. Das amerikanische Beispiel zeigt, dass es grundsätzlich machbar ist. Es sollte alle Staatsbürger interessieren, dass dieser Integrationsprozess funktioniert. Wenn er das nicht tut, werden die Anstrengungen, menschlich zu handeln, Kräfte wecken, die das Gegenteil bezwecken.
Sie sind in Simmering aufgewachsen. Wie geht es Ihnen damit, dass dieser Bezirk zur FPÖ gewandert ist?
Ich hatte damals meine politische Sturm-und-Drang-Phase. Ich war in der Jungen Generation, aber trotzdem SPÖ-kritisch. Damals hatte die Partei eine Zweidrittel-Mehrheit. Unvorstellbar, dass sie die Mehrheit verliert. Der neue Bezirksvorsteher scheint ein jovialer, leutseliger Mensch zu sein. Das hat auch offenbar viele bewogen zu sagen, okay, das ist eigentlich ein netter Typ, mit dem können wir. Bleibt nur zu hoffen, dass es kein böses Erwachen gibt.
Ihre Mutter lebt noch in Simmering. Wie sieht sie dieses Phänomen?
Das Ortsbild im Zentrum von Simmering hat sich verändert, das Handtaschengeschäft, die Buchhandlung, wo ich in meiner Jugend war, sind ersetzt worden durch andere Geschäfte. Das kann aber noch kein Argument sein, Angst zu haben, denn Simmering ist ein sicherer Platz und hat eine sehr gute Lebensqualität.
Sie haben es gerade angesprochen: Neue, attraktive Wohneinheiten, das Bild des Bezirks hat sich eigentlich positiv verändert.
Wir waren am Wahltag in Simmering in einem Wirtshaus, mit Verwandten und Freunden. Da bekommt man deutlich die Frustration und Unzufriedenheit mit der Politik ganz generell zu spüren, damit wird man sich auseinandersetzen müssen.
Sie werden immer wieder für höchste Ämter genannt. Streben Sie in die Politik oder reagieren Sie eher zurückhaltend?
Mein Motto lautet: Mach, was du tust, mit größter Leidenschaft, brenne dafür, lebe dafür und investiere jede Stunde und jeden Gedanken, den du hast, um die Dinge voranzutreiben. Wenn man diese Haltung aufgibt und darüber sinniert, was könnte ich anderes machen, dann wird man seine Aufgabe nicht erfolgreich erledigen können. Es ist fünf Jahre exzellent gelaufen, aber wir sind bei weitem noch nicht dort, wo wir hinmüssen. Vor diesem Hintergrund sind wir gut beraten, uns mit der Aufgabe hier zu beschäftigen. Mit nichts anderem.
Ich bin überzeugt, als Bundeskanzler würden Sie genauso brennen und mit Leidenschaft arbeiten für dieses Land.
In aller Unbescheidenheit – mir macht mein Job große Freude. Es gibt in Österreich nämlich keine spannendere Aufgabe als diese hier.
Christian Kern, geboren 1966, wuchs als Sohn einer Sekretärin und eines Elektroinstallateurs in Simmering auf. Er studierte Kommunikationswissenschaften an der Universität Wien. Ab 1989 arbeitete er als Wirtschaftsjournalist, wurde dann 1991 Assistent von Staatssekretär Peter Kostelka und später Büroleiter des Klubobmanns der SPÖ. 1997 wechselte er zum Verbund-Konzern. Seit 2010 ist er Vorstandsvorsitzender der ÖBB-Holding. Kern initiierte die ÖBB-Ausstellung Verdrängte Jahre, ein Forschungsprojekt, das unter Einbeziehung von ÖBB-Lehrlingen die Geschichte der Bundesbahn 1938–1945 aufarbeitet.
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