Sie ist eine starke Frau, die polarisiert, gleichzeitig aber für die ÖVP Erdrutschsiege eingefahren hat, in der EU, aber auch in der Inneren Stadt in Wien. Auch wenn sie jetzt in der Kommunalpolitik aufgeht, gehört ihre Liebe der außenpolitischen Diskussion, vor allem über den Nahen Osten. Das ist kein Zufall.
Von Danielle Spera (Text) und Peter Rigaud (Fotos)
NU: Die wenigsten Österreicher wissen, dass Du Jüdin bist, Du machst daraus aber in der Öffentlichkeit auch nie ein Geheimnis. Wie wichtig ist Dein Judentum für Dich?
Stenzel: Es ist für mich sehr wichtig. Meine Mutter stammte aus einem Rabbiner- und Kantorenhaus. Dieser Teil der Familie hat das emanzipierte bürgerliche Judentum in Wien in der Zeit der Jahrhundertwende repräsentiert. Einer meiner Onkel war ein bekannter Feuilletonist, Julius Stern. Ein weiterer war Unternehmer, der sich um die Finanzen der Familie gekümmert hat. Ich bin also in dieser hochgeistigen, aber sehr offenen Atmosphäre aufgewachsen. Das hat mich sehr geprägt. Mein Vater kam aus einer Riege von Nordbahningenieuren.
NU: Aufgewachsen bist Du in der Czerningasse im 2. Bezirk, im Herzen der Mazzesinsel sozusagen. Stenzel: Die Wohnung, in der ich aufgewachsen bin, war die Dienstwohnung meines Urgroßvaters, der Kantor in der Rotensterngasse war. Musik war seine große Leidenschaft. Er ist jeden Tag in die Oper gegangen, auf den Stehplatz. Von der Jüdischkeit der „Mazzesinsel“ war in meiner Kindheit aber natürlich nichts mehr zu spüren.
NU: Wie hat die Familie die Nazi-Zeit überlebt? Stenzel: Fast alle sind emigriert – wirklich in alle Winde verstreut. Eine enge Verwandte meiner Mutter hat sich umgebracht. Meine Großmutter hat die so genannte Reichskristallnacht nicht überlebt. Es hat ihr das Herz gebrochen. Meine Mutter hat durch die Ehe mit meinem Vater überlebt, da er kein Jude war. Irgendwie hat er es geschafft, meine Mutter und meine Schwester zu schützen. Meine Schwester – sie war um 13 Jahre älter als ich – durfte dann nicht ins Gymnasium, man hat sie als jüdisches Kind in eine Schule für geistig minderbemittelte Kinder mit einer sadistischen Nazi-Lehrerin abgeschoben. Sie hat das alles nur überstanden, weil Klosterschwestern des Ursulinen-Ordens sie aufgenommen haben. Meine Mutter musste in ein Lager im Prater, wie viele andere Juden, die in Mischehen lebten. Es war ein ständiges Leben in Angst. Bis zum Einrücken der russischen Panzer in die Praterstraße war das Leben meiner Mutter unsicher. An die Kellertür, wo sie versteckt war, hat dann glücklicherweise nicht die SS, sondern die Rote Armee geklopft. Die Schwester meiner Mutter hat in der Emigration in London den Verstand verloren. Sie konnte das Schicksal nicht verkraften. Ihr Mann war ein Bankdirektor. Das gesamte Vermögen wurde „arisiert“. Der Bruder meiner Mutter ist nach Frankreich gegangen und hat dort im Widerstand gekämpft. Auch bei ihm hatte die Nazi-Zeit schwere psychische Narben hinterlassen. Meinen Eltern hat ein Priester sehr geholfen. Mein Vater war ja sehr religiös und meine Mutter ist aus Liebe zu ihm dann spät noch zum katholischen Glauben konvertiert. So habe ich wirklich beide Welten mitbekommen.
NU: Wie hast Du die 1950er und 1960er Jahre erlebt? Das Klima war ja nicht gerade offen und freundlich für Juden.
Stenzel: Ich war von klein auf mit dem Schock der Nazi-Zeit konfrontiert. Das hat in den Gesprächen meiner Eltern dominiert. Meine Mutter hat geschildert, was sich um sie herum abgespielt hat – wie die Freunde abgeholt wurden, die Menschen um sie verschwanden, die Nachbarn –, wie gefährdet sie selbst war. Es gab Leute in der Umgebung, die haben vor meiner Mutter ausgespuckt. Sie wurde oft gedemütigt, musste sich hinknien und das Stiegenhaus waschen. Die große Hoffnung meiner Mutter war, dass – als der Alptraum vorbei war – die Nachbarn irgendein Wort finden würden. Etwa: „Es tut uns leid“, oder: „Lassen Sie uns neu beginnen.“ Doch es kam nichts. Man ist einfach zur Tagesordnung übergegangen.
NU: Du bist in einer Klosterschule erzogen worden, welche Erfahrungen hast Du dort gemacht?
Stenzel: Meine Eltern haben meine Schwester und mich nach dem Krieg taufen lassen. Wir sind beide von Ursulinen erzogen worden. Das Judentum wurde als geistige und Schicksalsgemeinschaft verstanden. Ich habe sicher meinen Blick dadurch geschärft bekommen. Mein Vater war ein sehr gläubiger und praktizierender Katholik. In der Schule hat es keine Rolle gespielt, dass meine Mutter Jüdin war, aber man hat sehr genau gewusst, was meine Familie mitgemacht hat.
NU: Hast Du je persönlich Antisemitismus erlebt?
Stenzel: Nein, glücklicherweise nie. Erst im ORF habe ich dann antisemitische Zuschriften von Zuschauern bekommen, da ich schon damals kein Geheimnis daraus gemacht habe. In Österreich ist heute eine neue Generation da, die eine andere Einstellung hat. Das ist vorbei und es kommt so sicher nie wieder. Vielleicht in anderen Formen, aber so, wie es war, sicher nicht.
NU: Aber gerade in Österreich kommen doch immer wieder diese Gefühle hoch, denk doch nur an die Waldheim-Zeit.
Stenzel: Ja, leider gibt es diese Ressentiments noch immer. Die Waldheim-Affäre bedauere ich zutiefst. Waldheim hat seine Vergangenheit nie ehrlich aufgearbeitet und bewältigt. Dadurch war er dann einer aus innenpolitischen Motiven von Österreich aus gesteuerten Verleumdung ausgesetzt. Mich hat der Zeitpunkt gestört. Man hätte das Thema aufbringen sollen, als er Außenminister war unter Bundeskanzler Kreisky oder als er für den Posten des UN-Generalsekretärs kandidiert hat. Wo war denn beim damaligen FPÖ-Parteiobmann Friedrich Peter die Aufregung? Ich will nicht aufrechnen. Es gab viele, die man zu Recht hätte vor den Richter bringen müssen. Übrigens hat der Neo-Nationalratskandidat Hans Peter Martin damals eine nicht unwesentliche Rolle bei einem nicht sehr lupenreinen Spiegel-Cover über Waldheim gespielt. Waldheim hätte jedenfalls seine Vergangenheit nicht verheimlichen dürfen.
NU: Die Zeit der Wende – war das nicht eine Herausforderung für Dich, eine Koalition mit der FPÖ?
Stenzel: Ich habe es dramatisch erlebt, da ich ja die Reaktion in der EU erlebt habe. Binnen Minuten ist die Atmosphäre massiv gegen Österreich gekippt. Ich war schockiert, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte Haider – so wie er war und ist – charakterisiert. Ein populistischer Politiker, der sich von überall – damals noch sehr erfolgreich – ohne Skrupel Stimmen geholt hat, auch von den alten Nazis. Ich habe ihn aber nie als Rechtsextremisten angesehen. Allerdings hat er von seiner Familiensituation her ein sehr unkritisches Verhältnis zum Nationalsozialismus. Ich habe ihn für zu intelligent gehalten, um primitiv antisemitisch zu sein. Daher habe ich es als eine Überreaktion empfunden, dass gegen Österreich Sanktionen verhängt wurden. Denn die FPÖ ist demokratisch legitimiert, und wie man sieht, ist sie in einen Atomisierungsprozess geraten. Es gibt EU-Politiker, die Bundeskanzler Schüssel heute dafür loben. Strache will jetzt im selben Segment Wähler um sich scharen. Das ist nicht gut. Man kann es aber in keinem Land verhindern, dass solche Politiker hochkommen. Ich glaube, dass unsere Demokratie so etwas aber aushält.
NU:Wie beurteilst Du den Umgang Österreichs, vor allem von Ministerin Gehrer, in Sachen Klimt-Bilder?
Stenzel: Es wäre sicher viel besser gewesen, man hätte diese Sachen vor vierzig Jahren in Angriff genommen. Das Schiedsgericht war dann doch eine gute Idee. Wie man sieht, haben die Bilder einen großen Wert, ein guter Nebeneffekt. Es ist nun einmal in Österreich so, wie es der Cousin meiner Mutter immer gesagt hat: Sie sitzen in unseren Arztpraxen, sie sitzen in unseren Apotheken … Dieses Kapitel ist in Österreich viel zu spät aufgearbeitet worden.
NU: Europa hat in den vergangenen Jahren einen massiven Anstieg an Antisemitismus erlebt, auch durch die islamischen Jugendlichen, z. B. in Frankreich. Ist das nicht bedrohlich, wie siehst Du das?
Stenzel: Alles, was man heute erlebt, hat mit dem so genannten klassischen Antisemitismus, wie er in der Monarchie da war, nichts zu tun. Heute ist es ein Ausfluss des Nahost-Konflikts, der in einer islamisch-politisierten Gesellschaft geschürt wird, die sich an den Rand gedrängt fühlt. Das ist sehr besorgniserregend, weil das eine neue Dimension hat. Man trägt den Kampf gegen den israelischen Staat als Ersatzkrieg nach Europa. Ich weiß nicht, ob sich diejenigen, die Synagogen in Brand stecken oder Friedhöfe schänden, dessen bewusst sind.
NU: Die EU setzt sich in Sachen Nahost immer sehr für die Palästinenser ein und beurteilt Israel kritisch. Woran liegt das? Stenzel: Das sehe ich genau so. Vereinfacht ausgedrückt sind die europäischen Linken immer für anti-israelische Resolutionen eingetreten. Da gibt es eine eindeutige Schlagseite. Sie sehen die Ursache für den Nahost-Konflikt im Versagen Israels. Ihre Argumentation ist, dass die Palästinenser durch die israelische Politik in den Terror getrieben würden. Die konservativen Parteien, vor allem die deutschen, stellen sich dem entgegen. Sie sind da sehr sensibel.
NU:Israel wird in der Öffentlichkeit in Europa heute anders beurteilt als noch vor 15, 20 Jahren. Heute ist immer vom Aggressor die Rede. Wieso hat sich die Wahrnehmung so verschoben?
Stenzel: Ja, die Stimmung ist gekippt. Hans Rauscher hat das in seinem Buch über Europa und den Antisemitismus sehr genau analysiert. Die internationale Stimmung ist anti-israelisch. Weil man in Israel keinen wehrlosen Staat mehr sieht, sondern einen hoch bewaffneten Staat, der auch mächtig reagieren kann. Und ich sage bewusst reagieren und nicht agieren. Denn auch der jetzige Konflikt mit dem Libanon kommt nicht aus heiterem Himmel, sondern ist eine Reaktion auf hunderte Raketen, die in den letzten Monaten vom Libanon aus auf Israel abgefeuert worden sind. Das Furchtbare ist, dass die Presse das verschweigt. Von diesen Raketen war kaum die Rede, von der israelischen Reaktion natürlich schon. Dann diskutiert man darüber, ob das Verhalten Israels angemessen ist oder nicht. Das Drama ist, dass es nur eine politische Lösung geben kann und keine militärische.
NU: Wie soll man mit Hamas oder Hisbollah umgehen, wenn keine Entwaffnung oder kein Waffenstillstand möglich sind?
Stenzel: Man kann sich die Leute nicht aussuchen. Man muss mit denen reden, die an der Macht sind. Ich bin kein Verfechter der „road map“ – das ist nur ein Konzept, an das man sich hält, weil man kein besseres hat. Die einzige Möglichkeit ist, dass alle arabischen Staaten Israel in sicheren Grenzen anerkennen. Andererseits muss sich auch Israel durchringen und anerkennen, dass die Palästinenser einen lebensfähigen Staat brauchen. Mit Syrien muss verhandelt werden und dann eine Zwei-Staaten-Lösung gefunden werden.
NU: Wie beurteilst Du die Bemühungen, den Iran von seiner Atompolitik abzubringen?
Stenzel: Da wird die Diplomatie versagen, denn welches Land lässt sich schon gern vorschreiben, ob es Atomwaffen hat oder nicht? Alle Diskussionen darüber im Europa-Parlament, und ich habe hunderte erlebt, haben sich im Kreis gedreht. Es führt zu nichts, sie werden Atomwaffen haben, weil sie das wollen. Das Drama an der EU-Politik ist, dass sie gespalten ist. Durch diese Zersplitterung nimmt man die EU nicht ernst. Was bleibt, sind wieder nur die USA. Und die USA unterstützen Israel, daher wendet sich der Hass der arabischen Welt gegen die USA. Noch haben wir Zeit, aber es gilt zu handeln, bevor unberechenbare Mächte Atomwaffen haben, sonst gerät alles außer Kontrolle.
NU: Du hast vom Hass gegen die USA gesprochen. In Österreich ist die Stimmung gegenüber den USA auch nicht gerade freundlich.
Stenzel: Ich sehe in diesem Anti-Amerikanismus einen versteckten Antisemitismus. Es wird selten so direkt ausgesprochen, aber das ist es. Man meint Israel und greift die USA an. Das ist beängstigend. Das ist eine neue Art des Antisemitismus.
NU: Wärst Du persönlich für einen Beitritt Israels zur EU – im Gegensatz zur Türkei wäre ja Israel prädestiniert?
Stenzel: Bevor es keinen Frieden gibt, kann keine Rede davon sein – aber auch dann nicht. Natürlich hat Israel europäische Wurzeln. Aber nicht nur. Israel hat sich ja im Lauf von drei Generationen sehr gewandelt. Die europäischen Gründer sind heute nicht mehr in der Mehrzahl. Was im Nahen Osten geschehen muss, ist eine Art „EU der Regionen im Nahen Osten“ selbst. Ich war viele Male dort und habe sowohl in Israel als auch in Gaza oder in der Westbank mit vielen Menschen gesprochen. Ein Palästinenser hat mir gesagt, wir wollen einen Pass und dann einfach in Ruhe arbeiten und wirtschaften können. Offene Grenzen, Handel – und genau das haben sie nicht. Genau das ist das Problem. Daher bedauere ich den Sicherheitszaun.
NU: Israel argumentiert, es bliebe ja nichts anderes übrig, als sich so vor dem Terror zu schützen?
Stenzel: Es bleibt immer etwas anderes übrig. Momentan ist es meiner Meinung nach eine verständliche Reaktion, wie Israel im Libanon reagiert. Es geht darum, ein Momentum zu schaffen. Wenn das nicht aufgeht, bleibt allerdings nur der negative Effekt, mit noch mehr Hass und noch mehr Terror. Ich kann mich aber langfristig nicht nur auf Mauern und eine pro-aktive militärische Strategie verlassen. Es bleibt nichts anderes übrig als der Verhandlungstisch und dann eine EU-Struktur in dieser Region.
NU: Zum Schluss habe ich noch eine Frage, die uns in Deinen unmittelbaren Arbeitsbereich führt. Du hast Dich für eine Respektzone um den Stephansdom ausgesprochen. Könntest Du Dir so etwas auch für den Stadttempel vorstellen?
Stenzel: Das wäre auch wünschenswert. Eine Respektzone vor einem Tempel ist genauso wichtig wie vor einer Kirche. Da sehe ich keinen Unterschied.
Zur Person
Ursula Stenzel wurde 1945 in Wien geboren und begann 1970 ihre Karriere im aktuellen Dienst des ORF. 1975 war sie die erste Nachrichtenmoderatorin. 1995 wechselte Stenzel in die Politik und wurde 1996 als Listenführerin der ÖVP ins Europa-Parlament gewählt. 2004 erfolgte ihre Wiederwahl. 2005 wechselte sie in die Kommunalpolitik und ist nach einem Erdrutschsieg bei den Wiener Gemeinderatswahlen Bezirksvorsteherin für den ersten Bezirk.