Der Kulturwissenschaftler Ernst Strouhal analysiert im NU-Interview die vielen Gründe, warum es an den Kunstuniversitäten in Wien zu antisemitischen, nicht zu tolerierenden Vorfällen kam.
Von Thomas Trenkler
Wenige Tage nach dem Massaker am 7. Oktober 2023 sah sich das Rektorat der Universität für angewandte Kunst in Wien zu einem Statement verpflichtet: „Wir sind entsetzt über den grauenhaften Angriff der Hamas auf Israel. Wir dulden keinen Terror, keine Form des Antisemitismus und keine Relativierung des Existenzrechts Israels.“ Doch an der Angewandten gärte es. Am 14. Dezember 2023 fand eine – nicht vom Rektorat genehmigte – „Free-Palestine-Kundgebung“, bei der eine Sprecherin den verheerenden Anschlag der Hamas sogar leugnete.
Wenig später griff die Erregung auch auf die Akademie der bildenden Künste über. Im Oktober 2024 veröffentlichte Nour Shantout, Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Angestellte der Bildenden, auf Instagram in Englisch: „,Tod für Israel‘ ist nicht nur ein Thema. Er ist ein moralischer Imperativ und die einzig akzeptable Lösung. Möge die gesamte Kolonie für immer niederbrennen.“
Das Rektorat der Akademie der bildenden Künste löste in der Folge das Dienstverhältnis mit der syrischen Studentin, die seit 2015 in Wien lebt. Was einen internen Konflikt hervorrief. Auf Anfrage antwortete man dort nur sehr ausweichend. Und auf der Angewandten gibt es nach dem Rücktritt von Rektorin Petra Schaper Rinkel im Jänner einstweilen nur eine interimistische Rektorin, also keine Ansprechperson.
NU sprach mit dem Publizisten und Kulturwissenschaftler Ernst Strouhal, der jahrzehntelang an der Angewandten lehrte, über das Problemfeld. In seinem Buch „Vier Schwestern, Fernes Wien, fremde Welt“ (2022) erzählt er die Geschichte seiner Familie, der in der NS-Zeit die Flucht gelang: Verstreut in alle Himmelsrichtungen, blieben seine Mutter und deren Schwestern einander über Emigration, Krieg und Nachkriegszeit hinweg verbunden. Ernst Strouhal wurde 1957 in Wien geboren.
NU: An den Kunstuniversitäten in Wien gab es mehrere antisemitische Vorfälle, zuletzt Mitte Jänner 2025 beim „Rundgang“ der Akademie der bildenden Künste. Was ist los?
Ernst Strouhal: Man muss differenzieren: Nicht jede lautstarke Kritik an der Politik Israels oder an Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der aus meiner Sicht eine furchtbare Politik macht, ist genuin antisemitisch. Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind, egal ob von Israel, Warlords im Sudan, Myanmar, China oder der Hamas begangen, vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen und zu bestrafen. Das erscheint mir selbstverständlich. Aber wie wir alle seit längerem wissen, ist es zur Selbstverständlichkeit geworden, dass nichts mehr selbstverständlich ist. Viele, vor allem junge Menschen, sind über die Gräuel, die sich weltweit ereignen, empört, zurecht empört und melden sich zu Wort; es fällt jedoch auf, dass es nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 in der Kunstszene ein besonderes Interesse an dem Konflikt zwischen Israel und Palästina gibt. Es fällt die Intensität und Dringlichkeit auf, mit der man sich an den Kunstuniversitäten auf dieses Thema fokussiert. Weder über den Kongo noch über Putin oder Lukaschenko wird derart intensiv befunden. In den Gängen und Toiletten der Kunstuniversitäten findet man viele israelkritische Graffitis. Sie sind zum Teil nicht antisemitisch, aber ich habe kein einziges gefunden, das gegen die Hamas gerichtet ist.
Auf zwei Slogans reduziert: „Free Palestine“ muss nicht antisemitisch sein, „From the river to the sea“ hingegen ist es sehr wohl.
Ja, denn der zweite Slogan zielt auf die Auslöschung Israels ab. Ich bin mir nicht sicher, ob alle, die den Slogan skandieren, wissen, um welchen Fluss und um welches Meer es sich handelt und was damit gemeint ist. Aber das macht die Sache nicht besser.
Sie sprechen allgemein von Kunstuniversitäten?
Dieses Phänomen ist keineswegs auf Wien beschränkt, man findet es auch in Karlsruhe oder an der Universität der Künste Berlin, an französischen Universitäten und im skandinavischen Raum. Es gibt in den Bildern, Aktionen und Slogans einen Nachvollzug dessen, was ich woanders schon gesehen habe, etwa an den US-Universitäten. Die Empörungswellen sind nach Europa geschwappt und wurden hier aufgegriffen. Die visuellen und sprachlichen Formen des Protests werden in erster Linie reproduziert.
Warum gerade an Kunstuniversitäten?
Ich bin mir nicht sicher, ob dem so ist, aber tatsächlich scheint das Thema gerade in der Kunstszene, auf Filmfestivals – wie zuletzt auf der Berlinale – oder in PEN-Clubs dringlicher und vor allem lauter hörbar zu sein als an anderen Orten. Einer der Gründe könnte sein, dass an Kunstuniversitäten nicht unbedingt die vorsichtige Arbeit am Begriff im Vordergrund steht, auch nicht die historische oder gesellschaftspolitische Reflexion, sondern Aktion und Unmittelbarkeit. Gefühle spielen da eine große Rolle – und die Umsetzung der Gefühle in die Form der Erzählung. Zum Habitus der Künstlerin oder des Künstlers gehört zugleich die Idee der Radikalität. Ein Standpunkt, den man in einem politisch auf- bzw. abgeklärten Diskurs als zu radikal oder überzogen bezeichnen würde, ist hier eine Wertzuschreibung.
An den Musikuniversitäten scheint es keine bzw. weniger Auffälligkeiten zu geben. In der Kunst ist eben seit Joseph Beuys die Gesellschaft der Malgrund…
Ja, die Grundierung. Ich denke, die Differenz ergibt sich aus dem Zeichencharakter. In der Musik gibt es zwar Dur und Moll, Atmosphäre und Stimmungen, aber die musikalischen Zeichen beziehen sich nicht direkt auf die Welt. In der Sprache und im Bild, in der Konzeptkunst und in der Performance hingegen gibt es einen direkten Bezug zur Gesellschaft – unter den Bedingungen, die das Betriebssystem Kunst ausmachen: Empathie steht im Vordergrund und nicht Reflexion, Erzählung und nicht Abstraktion, die Gestaltung eines Werkes und nicht die Skepsis oder der Zweifel, die ja Grundlagen der Wissenschaft sind. Hinzu kommt ein Zweites: Kunstuniversitäten sind Experten für Sicht- und Hörbarkeit. Insofern kommt dieser Protest vielleicht ein bisschen größer rüber, als er tatsächlich ist. Kunst ist ja ästhetischer Schein. Er leuchtet – und er leuchtet in Wien, aber nicht nur hier, sehr stark.
Weil Sie die USA erwähnt haben: Von dort kommen auch die Postkolonialismus-Debatten, die hier auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Spielen die nicht auch in den Nahost-Konflikt hinein?
Ja, und es gibt vielgestaltige Gründe, warum Israel-Kritik an den Kunstuniversitäten manchmal in Antisemitismus umschlägt. Und eine der Quellen ist der postkoloniale Diskurs, der in seiner trivialisierten Form zu einer stark moralisierenden, manichäischen Weltsicht führt: Man behauptet, dass es den globalen Süden gäbe, der gut ist, und im Gegensatz dazu das Böse mit einem eurozentristischen, kapitalistischen Lehrmeister – also Opfer und Täter. Diese Anschauung sorgt bei undifferenzierten Epigonen postkolonialer Theorie für eine stabile Orientierung. Sie ersetzt die bisherige Orientierung von links und rechts. Den Anhängern dieser Weltsicht erscheint ganz klar, dass die Juden und Jüdinnen zum globalen Norden gehören und nicht zum globalen Süden, sie seien also Täterinnen und Täter.
Obwohl sie aus dem gleichen Gebiet wie die Palästinenser abstammen. Aber weil die Jüdinnen und Juden sozusagen aus dem globalen Norden reimportiert worden sind…
Genau. Der Identitätsbegriff, der von der postkolonialen Theorie verwendet wird, fußt auf Kollektiven, den Gruppen von Privilegierten und Marginalisierten, den Unterdrückern und den Unterdrückten, ethnischen Minderheiten oder Diskriminierten, mit denen man sich solidarisiert: Man gibt ihnen eine Stimme. Interessanterweise sind von diesem Anti-Rassismus die Jüdinnen und Juden offenbar ausgenommen. Da wird wenig differenziert. Und daraus entsteht die verquere Idee, dass man es mit Kolonisatoren zu tun hätte.
Weil die Israelis das Land nach dem Holocaust urbar gemacht haben…
Das ist der historisch verfahrenste, komplizierteste Konflikt, den es gibt und der viel früher beginnt. Nicht einmal die besten Historikerinnen und Historiker haben eine eindeutige Antwort. Und schon gar nicht die Aktivisten, die in ihrem manichäischen Weltbild vereinfachen, die Einfachheit einer starken Wahrheit suchen – und schließlich ihre legitime Empörung in eine Bildsprache und in Texte übersetzen, die Gefahr laufen, tatsächlich antisemitisch zu sein. Da sie die Meinung vertreten, dass die Juden als Kolonisatoren am Konflikt schuld seien, ist für sie die Gewalt der Hamas irgendwie legitim. Und es gibt, darauf muss man in diesem Zusammenhang hinweisen, noch einen Faktor, das ist der linke Antisemitismus. Er speist sich aus der Tradition der Identifikation von Judentum, Imperialismus und Kapitalismus. Man könnte das Zitat von Ferdinand Kronawitter über den Antisemitismus als „Sozialismus des dummen Kerls“ – so beschrieb er die populistische Politik Luegers – aus aktuellem Anlass abwandeln: Der Antisemitismus ist der Antiimperialismus des dummen Kerls. Es gibt tatsächlich Alt-Linke, die anhand des aktuellen Nahostkonflikts ihr altes maoistisches Mütchen kühlen. Lars Gustafsson, der schwedische Schriftsteller und Philosoph, hat einmal gesagt: Die Tagträume einer Generation kehren regelmäßig als Albträume der nächsten wieder. Der Palästinenserschal, der an den Unis heute stolz getragen wird, könnte ja aus den Kleiderkästen der Großeltern stammen.
Zu Zeiten von Bruno Kreisky, der mit PLO-Chef Jassir Arafat verhandelt hat, war ein Palästinenserschal lässig.
Und die alten Linken entdecken in den AktivistInnen ihre Jugend wieder, die es freilich so nie gegeben hat. Und noch etwas: TheoretikerInnen des Postkolonialismus betonen gerne, dass der Kontext beim Verstehen einer Aussage entscheidend ist. Sie sind in der Regel geradezu kontextversessen bei ihren Interpretationen. Aber in dieser Frage vergessen sie den Kontext völlig.
Inwiefern?
Wien war, auf diesen Kontext der Proteste möchte ich schon aufmerksam machen, das Labor des Holocaust. Den AktivistInnen und ProfessorInnen sollte also klar sein, in welchem politischen und historischen Kontext sie hier sprechen. Auch Kunstunis agieren nicht im luftleeren Raum. Das hat zur Folge, dass ein neuer Antisemitismus auf einen alten Antisemitismus stößt. Nach der Free-Palestine-Kundgebung Mitte Dezember 2023 auf der Angewandten meinte eine weit rechts stehende Person in Zusammenhang mit dem 7. Oktober zu mir: Es sei ja klar, schon ihr Vater hätte immer gewusst, dass man „mit den Juden keinen Frieden haben“ kann. Vielen, die sich an den Protesten gegen Israel beteiligt haben, müsste klar sein, dass es in Österreich Grenzen gibt, die vom Gesetzgeber und von der Akademie der Wissenschaften klar gezogen worden sind. Die Dämonisierung Israels und das Absprechen des Existenzrechts ist definitiv eine Grenzüberschreitung. Diese Grenze dessen, was tolerabel ist, wird derzeit verschoben. Und das ist kein, wie man sagt, „akademisches Problem“. Denn manche Antisemiten denken sich: Wenn die das auf der Universität dürfen, dann darf ich das wohl auch am Stammtisch, oder?
Was ist damals auf der Angewandten konkret passiert?
In Sprechchören wurden jüdische Studentinnen und Studenten des Saales verwiesen. Ich habe in 50 Jahren an der Universität so etwas nicht erlebt. Es ist absolut inakzeptabel, wenn sich diese Studierenden in dieser Stadt fürchten müssen. Täglich Parolen wie „F*CK ISRAEL“ in Balkenlettern hinzuschmieren, ist vielleicht legal, aber den Schreibenden sollte klar sein, dass sie damit vielen jüdischen StudentInnen, die durchaus Netanjahus Politik kritisch begegnen, Angst machen. Diese Studierenden überlegen sich, ob sie noch zur Uni, ihrer Uni, gehen wollen. Ist das das Ziel der Aktivisten?
Hat das Rektorat angemessen und richtig reagiert?
In einer solch aufgeheizten Stimmung zwischen Kunstfreiheit und Hassrede moderieren zu müssen, ist nicht einfach – und die Rektorin der Angewandten befand sich in einer Zwickmühle. Die Kunstuniversitäten sind eben kein geschlossener, sondern ein offener Raum, zu dem viele Zutritt haben, auch Wirrgeister und Ideologen. Das Rektorat hat wirklich viel versucht, aber etliche Beteiligte wollten gar nicht diskutieren. Die wollen nur laut sein und ihrer „Haltung“ möglichst lautstark Ausdruck verleihen. Andere Meinungen, Positionen oder Argumente werden dabei nicht als falsch, sondern als moralisch minderwertig angesehen. Diese gegenwärtige Moralisierung des politischen Diskurses ist die Ernte einer Tradition von Intoleranz. Und was ich sogar für gefährlich erachte: Dass Menschen, die sich selbst als liberal, antirassistisch oder woke verstehen und gegen Hassreden auftreten, nicht bereit sind, sich – bei aller Kritik an Netanjahu und seiner schändlichen Koalition – von einer faschistischen, frauenverachtenden Mörder- und Vergewaltigerbande wie der Hamas, ohne Wenn und Aber zu distanzieren. Ich verstehe auch nicht, dass Lehrende zu dieser Nichtdistanzierung ihrer KollegInnen schweigen oder diese relativieren. Denn das führt eben zu einer Verschiebung des Diskurses, der Neudefinition dessen, was in Österreich heute alles möglich ist und morgen möglich sein wird. Da muss man dagegenhalten, wo es geht.