Robert Warshow (1917–1955) war Essayist, Kritiker und Kulturtheoretiker – und in seinen wenigen Texten immer auch amerikanischer Jude. Als „antikommunistischer Linker“ fand er stets die richtigen Worte über den gesellschaftlichen Umbruch im Nachkriegsamerika.
Von Michael Pekler
Amerika ist von derart ungeheurer Maßlosigkeit, dass es sich auch sprachlich einen ganzen Kontinent einverleibt. Wir sagen „Amerika“ und meinen die Vereinigten Staaten. Wir denken dabei an Macht, Geld und Unterhaltung, also an US-Präsidenten, Silicon Valley und Hollywoodstars. Doch längst zeigt man sich – sei es aus Bequemlichkeit, Anpassung oder Resignation – nicht mehr über den amerikanischen „Kulturimperialismus“ erzürnt. Kritik an US-Konzernen und Raubtierkapitalismus wirkt im Gegenteil hilflos und, weil sie längst zum guten Ton gehört, mittlerweile auch irgendwie langweilig.
Amerika war und ist nämlich vor allem eine Frage der Perspektive. Und obwohl das natürlich für alle Staaten und Kulturen gilt, ist die Frage nach dem eigenen Standpunkt nirgends so wichtig wie beim Blick auf das militärisch, ökonomisch und kulturell mächtigste Imperium, das die Welt je gesehen hat.
Im Pantheon
Dass der essayist und Kritiker Robert Warshow in Vergessenheit geraten ist, liegt eben daran: dass er den Mythos Amerika auch als Sohn jüdischer Einwanderer kritisch hinterfragte und sich ihm zugleich zugehörig fühlte. „Ich habe nicht die geringste Schwierigkeit, ihn in jenes kleine journalistische Pantheon zu heben, dem Gilbert Seldes, Otis Ferguson, James Agee, Manny Farber, Pauline Kael und Andrew Sarris angehören“, rühmt der Schriftsteller David Denby den früh verstorbenen Kollegen. „Warshow entwickelt sowohl eine Genauigkeit als auch eine emotionale Verbundenheit zu seinem Sujet – ohne jeden Anflug von Rechthaberei, ohne eine gestanzte Phrase oder auch nur ein ausgefallenes Adjektiv. Der Ton ist zurückhaltend, die Sprache unauffällig.“ Denn Warshow kaschierte keine Plattitüden mit rhetorischer Brillanz, sondern nahm einen Standpunkt ein, der die eigene Perspektive – als Autor, Kritiker und amerikanischer Jude – immer mitdachte. Egal ob er über Charlie Chaplin, das Wesen des jüdischen Humors, das jüdische Bewusstsein für eine „lange Geschichte“, den Kommunismus oder den amerikanischen Gangster schrieb. Oder in Bela Chagalls Brennende Lichter in den Kindheitserinnerungen der Autorin an das Ghetto das „Ideal des jüdischen Lebens“ entdeckte, „was es sein sollte und was es für kurze Zeit tatsächlich war“.
Wofür Amerika steht
Robert Warshow starb 1955 im Alter von nur 37 Jahren an einem Herzinfarkt. Sein Vater Adolph war Ende des 19. Jahrhunderts aus Russland nach New York gekommen, arbeitete im Papierhandel und engagierte sich in der Sozialistischen Partei (die immerhin erst 1973, nach internen Konflikten um den Vietnamkrieg, aufgelöst wurde und deren Nachfolgeparteien als politische Kraft, für die Vereinigten Staaten bezeichnend, heute keine Rolle mehr spielen). Robert, geboren 1917, wuchs in New York auf, arbeitete im väterlichen Papiergeschäft, studierte Englische Literatur. Während des Weltkriegs war er als Codeknacker tätig, heiratete seine College-Freundin Edith Folkoff (die nur drei Jahre nach ihm an Multipler Sklerose starb) und wurde 1943 selbst Vater. Einer seiner besten Essays handelt von der Leidenschaft seines Sohns für Comics und trägt den Titel Paul, die Horrorcomics und Dr. Wertheim (1954).
„Die grundlegende Schwierigkeit bestand darin, dass die Comics offensichtlich kein ernstes Problem für Paul darstellten“, schreibt Warshow. „Mad und Panic haben dazu beigetragen, dass er einen Sinn für Humor entwickelt hat, der gelegentlich anstrengend ist, aber meist ziemlich erfolgreich; aber daran hat Jerry Lewis vielleicht genauso viel Anteil.“ Warshow schreibt zu einer Zeit über amerikanische Populärkultur, als sie andere Essayisten und Kritikerinnen bestenfalls ignorieren. Denn er weiß, was Amerika ausmacht und wofür es steht.
Gegen Stalin und McCarthy
Neben Texten in der Zeitschrift Commentary, für die er auch als Redakteur tätig war, und im Partisan Review hat Warshow nur elf längere kritische Essays verfasst, die sieben Jahre nach seinem Tod unter dem Titel The Immediate Experience zusammengefasst wurden. Mit jahrzehntelanger Verspätung erschien Die unmittelbare Erfahrung, ergänzt um Artikel u.a. über Hemingway, Kafkas Tagebücher und Gertrude Stein, erst 2014 auf Deutsch, nachdem einzelne Texte – vor allem jene über das Kino – wiederholt in diversen Anthologien veröffentlicht worden waren.
Warshow war Antistalinist und gegen McCarthy, richtet den Blick immer wieder nach Europa, Nazideutschland und die Sowjetunion. Und er sah die geopolitischen Erschütterungen in seiner amerikanischen Heimat. Er zählte zum Kreis jüdischer New Yorker Intellektueller, der sich größtenteils aus Kindern von Einwanderern aus Osteuropa zusammensetzte. Brillante, in politischer Theorie und Literatur geschulte Autorinnen und Autoren wie Philip Rahv, Alfred Kazin, Nathan Glazer oder die 1941 nach New York geflüchtete Hannah Arendt. Auch Warshow verstand sich nicht in erster Linie als Kritiker, sondern als politischer und kultureller Zeitzeuge Amerikas.
„Eine persönliche Aufgabe sah die New Yorker Gruppe darin, den endgültigen Bruch mit der Einwanderer-Vergangenheit zu vollziehen“, bemerkt Denby im Vorwort zu Die unmittelbare Erfahrung. „Mit größtem Feingefühl und Respekt fängt Warshow den Generationenkonflikt zwischen Immigranten und ihren Kindern in seinem Essay über Clifford Odets ein, wie auch in seiner höchst zurückhaltenden Trauerbekundung über den Tod seines Vaters (Ein alter Mann dahin). Für die New Yorker Schriftsteller bestand der Umbruch darin, das Ghetto intellektuell zu verlassen und in eine internationale Kultur einzutreten.“
Doch diese „unmittelbare Erfahrung“, mit der Warshow schrieb, sollte keinesfalls mit einer solchen verwechselt werden, die von der eigenen Perspektive als Maß der Dinge ausgeht. Nichts wäre uninteressanter und unergiebiger. Stattdessen unterzieht sich Warshow einer permanenten Selbstbefragung als Autor: „Ein Mann sieht einen Film, und der Kritiker muss anerkennen, dass er dieser Mann ist.“ Und er stellt andere auf den Prüfstand, wie in Der Idealismus von Ethel und Julius Rosenberg (1953).
Falsche Wahrheit
Das jüdische Ehepaar Rosenberg, im Juni 1953 wegen Spionage für die Sowjetunion auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet, schrieb während der zwei Jahre in der Todeszelle zahlreiche Briefe, die noch im selben Jahr veröffentlicht wurden. Erstaunlicherweise schrieben sie über alles Mögliche: über Kunst, Sport, Musik, natürlich immer wieder über ihre Kinder und was aus diesen werden würde, über Politik – und auch über das Judentum. Für Warshow ist auffällig, dass sich „die Briefe nie auf die Behauptung beziehen, ihnen sei aus antisemitischen Gründen ‚etwas angehängt‘ worden“. Was ihn jedoch irritiert, ist die Tatsache, wie die Rosenbergs ohne eigene, unmittelbare Erfahrung die von ihnen erwartete Rolle annahmen: sich als die „ersten Opfer des amerikanischen Faschismus“ (Ethel Rosenberg) zu betrachten. „Die Rosenbergs dachten und fühlten genau das, was ihre politische Überzeugung von ihnen zu denken und zu fühlen verlangte.“
Robert Warshow wurde nicht müde zu kritisieren, wie Politik, Kunst und Literatur mit jeweiliger Rechtschaffenheit auf der richtigen Seite zu stehen meint. Woran sich bis heute wenig geändert hat.
Robert Warshow
Die unmittelbare Erfahrung
Vorwerk 8
Berlin 2014
256 S., EUR 24,-