„Der Holocaust ist das Kainsmal unserer Zivilisation“

„Putins Befürchtung, dass der Funkenflug der Demokratisierung auf Russland überspringt, ist real.“ Dan Diner, bis 2014 Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig, verfolgt die russische Strategie mit Sorge. © PRIVAT

Der deutsch-israelische Historiker Dan Diner hat mit „Ein anderer Krieg“ eines der wichtigsten Bücher über das Verhältnis von jüdischer und europäischer Geschichte vorgelegt. Ein Gespräch über den Ukraine-Krieg, Holocaust und Postkolonialismus.

von Michael J. Reinprecht

NU: In Ihren Forschungen haben Sie sich mit Fragen des historischen Gedächtnisses und gegenläufigen Erinnerungen beschäftigt. Für wie gefährlich halten Sie die aktuellen Identitätsdebatten, die den Holocaust häufig relativieren? Auch Sie nennen die NS-Verbrechen einen „Zivilisationsbruch“.

Dan Diner: Ich gehöre zu denen, die diesen Diskurs nicht so dramatisieren und habe das Wort Singularität nie benutzt. Der von mir geprägte Begriff „Zivilisationsbruch“ will ja Allgemeineres zum Ausdruck bringen, nämlich, dass es hier um die Zerstörung der Grundlagen von Vernunft und auch von zweckrationalem Handeln gegangen ist. Das ist der Kerngedanke hinter dem, was man heute als Holocaust bezeichnet: Es wurde eine Tat vollzogen, die jenseits von Vernunft steht, und deren Kern die bloße Vernichtung war. Und die wiederum steht außerhalb aller möglichen Formen der Zurichtung von Menschen, auch der Sklaverei, ja auch der kolonialen Ausbeutung, die ja alle die negative Energie von Vernutzung in sich bergen. Das verstehe ich unter Zivilisationsbruch: Etwas, das vorher so noch nie stattgefunden hat, nämlich dieses Töten ohne Zweck, sodass es am Schluss eigentlich nur so etwas gab wie die Vernichtung um des Vernichtens willen.

Ist es nicht dennoch problematisch, wenn einzelne Vertreter des Postkolonialismus meinen, dass der Holocaust letztendlich „nur“ ein Verbrechen von Weißen an Weißen gewesen sei? Ist das nicht eine Verniedlichung der Schoa?

Das halte ich tatsächlich für falsch. Aber ich würde das jetzt nicht bewerten, sondern nur feststellen, dass es sich nicht so zugetragen hat. Grundsätzlich kann man in der Bewertung unterschiedlicher Meinung sein. Aber so weit sind wir ja gar nicht, was diesen Diskurs angeht. Insofern ist diese Diskussion heute ein Rückschritt. Wir waren schon einmal weiter. Mich interessieren vielmehr bestimmte Traditionslinien, die zeigen, dass der postkoloniale Diskurs auffälligerweise in jenen Ländern begonnen hat, die koloniale Herrschaft erfuhren und die in der Zeit des Faschismus und Zweiten Weltkrieges in großem Maße Affinität mit den Achsenmächten (vor allem mit Hitler-Deutschland) aufwiesen. Sehen Sie sich Indien an. Es ist bis heute so: Wenn man dort in Buchläden geht, gibt es zwei große Bücherstapel – einen mit der Biografie von Gandhi und einen mit Hitlers Mein Kampf. Diese politische Konstellation stellt das eigentliche politisch-kulturelle Milieu dar, aus dem der Postkolonialismus erwachsen ist. Es sind indische Sozialwissenschafter und Philosophen, die an vorderster Front der postkolonialen Theorie gestanden sind. Heute stehen sich zwei gegensätzliche Stränge gegenüber: die Dialektik der Aufklärung einerseits und die postkoloniale Theorie andererseits. Die Frage des Holocaust ist das Material dieser Auseinandersetzung.

In Ihrem Buch „Das Jahrhundert verstehen“ schreiben Sie, die NS-Zeit sei „als integraler Bestandteil deutscher Geschichte dem kollektiven Gedächtnis unauflöslich eingebrannt“. Dies erklärt wohl die besondere Sensibilität der deutschen Öffentlichkeit, was sich aktuell am Antisemitismusvorwurf gegen die „documenta“ gezeigt hat. Zugleich aber nimmt in Deutschland wie auch in Österreich Philosemitismus zu. Ist dieser – vielleicht nur scheinbare – Widerspruch ein typisch deutsches Phänomen?

Es kommt hier verschärft zur Geltung. Der Holocaust ist das Kainsmal unserer Zivilisation. Die Besonderheit des Holocaust ist nicht besonders, weil es Juden getroffen hat, sondern weil es Menschen angetan wurde. Nun verbindet sich allerdings im allgemeinen Bewusstsein diese negative menschheitliche Dimension mit Bildern von Juden, die man in der christlichen Kultur findet. Der Holocaust war, wenn man so will, eine negative Erwählung der Juden in den Tod. Und der klassische Antisemitismus richtet sich gegen die Juden in der Vorstellung, dass sie von sich ein Bewusstsein von Erwähltheit haben. Da verschmelzen beide Dinge. Beide haben etwas mit einer Besonderheit zu tun, die in einer Gesellschaft, die immer stärker auf Gleichheit achtet, als unerträglich empfunden wird – also die Unerträglichkeit des Opfers. Auch mich verwundert, wie hartnäckig und langlebig diese Phänomene sind, die sich letztlich auf christliche Wurzeln zurückführen lassen.

Sie meinen etwa das tief eingebrannte „Ans Kreuz mit ihm“.

Absolut. Ich kann nur wiederholen: zu meiner Verwunderung. Ich hätte mir vor zwanzig Jahren nicht vorstellen können, dass dies von einer derartigen Hartnäckigkeit ist. Wenn man so will, kann man alles zurückführen auf diesen vermeintlichen Gottesmord. Und dafür gibt es anscheinend keine Absolution. Die rein religiöse Form nimmt es wohl nicht mehr an. Vor allem in verdeckter Form tritt es wieder auf. Und diese verdeckte Form ist schwierig zu dechiffrieren, wie die postkoloniale Diskussion zeigt.

Das Entwicklungsdefizit in den arabischen Ländern ist als Defizit der Säkularisierung zu sehen, schreiben Sie. Aber ist das nicht auch in den ultraorthodoxen Gemeinden Israels der Fall? Ist das nicht auch eine „versiegelte Welt“?

Schon. Aber es ist eine künstliche Welt. Wir dürfen nicht vergessen, ein Mensch, der in der Ultraorthodoxie lebt, nimmt etwas auf sich. Und es ist gleichzeitig eine Parallelwelt. Das ist ähnlich wie bei fundamentalistischen Muslimen. Der Text wird rezitiert und dadurch eine Radikalität in den Text hineintragen, die sich so im Text gar nicht findet.

Wie sehen Sie als Historiker und als Völkerrechtler den Ukraine-Krieg? Sind wir wieder zurück im 19. Jahrhundert?

Die Ukraine ist wie ein Eisberg, der sich von einem kalbenden Gletscher gelöst hat und nach Westen driftet. Das Paradoxe ist, dass Russland sich genau gegenläufig entwickelt. Es driftet weit nach Osten, und auf der zeitlichen Ebene immer mehr ins 19. Jahrhundert. Wenn man sich Putins Reden anhört, dann erkennt man diese Rückwärtsbewegung. Zugleich ist dieser Krieg ein Gründungs- und Definitionskrieg. Die Ukraine war ja vorher eine Landschaft, natürlich mit kulturellen Besonderheiten. Durch den Krieg wird diese nun zu einem politischen Gemeinwesen. Auf der anderen Seite weiß Russland nicht wirklich, was es ist: ein Imperium? Hat es Grenzen oder keine? Oder ist es etwas Spirituelles? Geschichtsphilosophisch waren die Jahre 1989 und 1991 für die Sowjetunion ein mächtiger Knall. Das Echo bekommen wir erst jetzt, dreißig Jahre später, zu spüren. Wenn das stimmt, dann kann dieser Krieg sehr lange dauern. Möglicherweise entwickelt sich hier eine Art zweiter Dreißigjähriger Krieg, bei dem hoffentlich keine Nuklearwaffen eingesetzt werden.

Sie haben in Frankfurt Geschichte, Philosophie und Rechtswissenschaften studiert. Als junger Student und Dissertant in Frankfurt waren Sie als undogmatischer Linker damals wohl der Einzige, der an der NATO ein gutes Haar gelassen hat.

Ja, ich habe damals bereits eine Lanze für NATO gebrochen.

Heute ist das Verteidigungsbündnis attraktiv, Schweden und Finnland wollen beitreten. Sehen Sie in der Neutralität noch eine sicherheitspolitische Bedeutung, zum Beispiel für die Ukraine selbst? Oder etwa für Österreich, das zumindest derzeit auf das Instrument der Neutralität nicht verzichten will?

Die Neutralität hat nur dann einen Sinn, wenn die Vertragsfähigkeit und die Glaubwürdigkeit derjenigen gegeben ist, die die Neutralität gewährleisten. Das Problem mit Putin ist, dass er sich nicht mehr vertragsfähig verhält. Wenn das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit verspielt sind, wird es schwierig. In der Ukraine-Frage handelt es sich in Wirklichkeit um eine Frage Gesamteuropas. Wie wollen Sie der Ukraine vorschlagen, sie solle sich finnlandisieren, wenn nicht einmal mehr Finnland, der Namensgeber dieses Begriffes, neutral bleiben will? Ich habe keine Vorschläge zu machen. Ohne einen direkten Vergleich ziehen zu wollen, es ist ähnlich wie bei Hitler: Putin ist nicht vertragsfähig.

Die EU hat im Juni beschlossen, der Ukraine und der Republik Moldau den Kandidatenstatus einzuräumen. Ist das vernünftig und auch im Interesse der EU selbst? Und wie fair ist es gegenüber den Balkanländern?

Putins Hinweis, ganz knapp vor der Invasion, dass sich Russland bedroht fühlt, wenn die NATO zu nahe an die russische Grenze rückt, halte ich für ein vorgeschobenes Argument. Denn die von NATO-Raketen ausgehende Gefahr ist gleich groß, egal ob diese fünfzig oder hundert Kilometer von der Grenze stationiert sind. Entscheidend war der Euromaidan 2013/14. Mit dem Euromaidan begann die Demokratisierung der Ukraine. Putins Befürchtung, dass dieser Funkenflug der Demokratisierung auf Russland überspringt, ist real. Insofern geht es eher um ein europäisches Projekt als um die NATO.

Demnach müsste Putin also der Kandidatenstatus der Ukraine unangenehmer sein als eine etwaige NATO-Annäherung?

So ist es. Die NATO ist Hard-, die EU Software. Das dringt ein ins weiche Gewebe. Die Europäer sind geeint, sprechen mit einer Zunge. Aber das können sie nur, solange sie die Deckung der NATO haben. Allerdings bin ich beunruhigt, wenn ich nach Frankreich blicke. Dessen linke und rechte Ränder sind ja keine Ränder mehr, sondern rücken immer mehr ins Zentrum. Wenn die EU in schwierigen Phasen in Handlungsdruck gerät, wird es eng. Und Putin verfolgt in erster Linie eine Strategie weniger gegen die NATO und die USA, sondern gegen Europa. Das macht mir Sorgen.


Publikationen (Auswahl):

Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten. München, 2003.
Das Jahrhundert verstehen. 1917–1989. Eine universalhistorische Deutung. München, 2015.
Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935–1942. München, 2021.

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