Der gute Gott wird geben

Auch Stars wie Molly Picon traten mitunter in der „Jüdischen Bühne“ auf – ein großes Vergnügen für Publikum und Kritik.©Green-Film / Mary Evans / picturedesk.com

Nachdem sich 1901 eine erste jiddische Bühne im zweiten Wiener Bezirk etabliert hatte, kamen auch jiddische Ensembles nach Wien. Ihre Geschichte ist von Höhen, aber auch vielen Tiefen gekennzeichnet.

Von Marcus G. Patka

Ab Mitte der 1870er Jahre kamen jiddische Volkssänger nach Wien und traten in kleinen Lokalen auf, nach ihrem Urvater Berl Broder wurden sie „Broder Singer“ genannt. Zumeist mussten sie nur ihre Jacken umdrehen und standen schon im Kostüm auf einer improvisierten Bühne. Oft standen sie nur auf einem Sessel. Beliebt war auch die Darbietungsform im musikalisch-mimischen Duett: Einer sang und spielte dazu ein Instrument, der andere erzählte die gleiche Geschichte nur durch Mimik und Gestik.

Die ersten jiddischen Ensembles, die nach Wien kamen, hatten nur wenig Erfolg, weil das Wiener Publikum ihre Sprache nicht verstand oder, wie in der jüdisch-assimilierten Gesellschaftsschicht nicht selten, ablehnte. Doch bereits 1901 etablierte sich eine erste jiddische Bühne im „Leopoldstädter Orpheum“ in der Rotensterngasse 7a, die von Direktor Moritz Edelhofer nur mit einer Singspielkonzession geführt wurde. Die Akteure waren zumeist Wandertheater aus Polen, die Possen und Lieder zum Besten gaben, die mitunter überaus zeitkritisch sein konnten.

So erinnerte sich Felix Salten: „In der Roten Sterngasse gibt es ein kleines Wirtshaus, das sich Edelhofers Volksorpheum nannte (…) Dort also produzierten sich täglich ostjüdische Volkssänger. Darunter eine Frau von absoluter Genialität. Sie trug nie Frauenkleider, sondern das Kostüm eines Bochers: Seidenen Kaftan, Kniehosen, weiße Strümpfe, Pajes und das schwarze Käppchen. Sie sang ein Couplet, das den Refrain hatte: ‚Der gute Gott wird geben, wir wer’n das auch erleben!‘ Sie sang eine Strophe, die den Freispruch des Alfred Dreyfus prophezeite. Und sie hatte eine Strophe, die dem antisemitischen Bürgermeister tödliche Krankheit und Erblinden weissagte. Sie sang den Refrain: ‚Der gute Gott wird geben, wir wer’n das auch erleben!‘ Sie klatschte dazu in die Hände, und der Saal erdröhnte vor Beifall Abend für Abend.“

Heiteres und Ernstes

Durch den inzwischen eingetretenen Zustrom osteuropäischer Juden nach Wien hatte sich hier auch ein dankbares Publikum entwickelt, „Edelhofers Orpheum“ wurde zur Anlaufstelle für alle eingewanderten und durchziehenden Bühnenkünstler. Das Publikum hingegen war ein durchaus gemischtes, Felix Salten wusste davon eine treffliche Anekdote zu erzählen:

„Arier und Semiten, Christen und Juden bildeten zu gleichen Teilen das Publikum, ja es gab Abende, an denen die Christen weitaus die Mehrheit waren. (…) Als ich einmal zu dem kleinen Orchester hinging, um mich zu erkundigen, wo man diese Lieder kaufen könne, ergab es sich, daß der Kapellmeister ein rassenreiner Arier und musikkritischer Mitarbeiter an einer wütenden Antisemitenzeitung war. Er sprach mich, beinahe herzlich, ‚Herr Kollege‘ an. Wie seltsam war diese Wienerstadt, wo feindliche Gesinnungen so friedlich sich miteinander mengten, wo kein Mensch politische Programme wichtig zu nehmen schien, wo die Gegner ebenso bereit waren einander zu umarmen, wie einander die Schädel einzuschlagen.“

1908 mietete Maurice Siegler, der mit seiner Frau Erna auch in „Edelhofers Volksorpheum“ aufgetreten war, den Saal des „Hotel Stefanie“ in der Taborstraße 12 und etablierte hier „Die Jüdische Bühne“, die sich als Keimzelle für das jiddische Theater der Folgejahre in Wien entwickelte. In der Zwischenkriegszeit gab es auch eine Kooperation mit der „Rolandbühne“ in der Praterstraße 25. Hier wurden leichte Unterhaltungsstücke, Singspiele und Melodramen, mitunter sogar populäre jiddische Operetten geboten, die den Besucher aus einer grauen Alltags- in eine heile biblische oder amerikanische Welt entführten. Dazu gehörten heitere Werke von Abraham Goldfaden, dem Urvater der jiddischen Dramatik, und ernste Stücke von Schalom Asch und Jacob Gordins. Mitunter konnten auch Bühnenstars wie Jacob Kalich und Molly Picon begrüßt werden, was den Kritiker Otto Abeles begeisterte: „Ostjüdische Literaten sind in den letzten Jahren gegen die jüdische Posse, das jüdische Singspiel, die jüdische Operette empört ins Feld gezogen. Ein Mißverständnis! Posse, Singspiel, Operette sind zu pflegen, sofern sie jüdisch-eigenartig sind.“ Um vordergründig mit der Zeit zu gehen, wurde 1928 die Inszenierung der biblischen Operette Josef in Ägypten mit einer Nackttänzerin ausgestattet, was das Publikum aber gar nicht goutierte. Bis 1938 fungierte „Die Jüdische Bühne“ als Anlaufstelle für Wiener jiddische Schauspieler ohne Engagement und als Auftrittsort für osteuropäische Ensembles.

Bereits um 1908 hatte es erste Versuche gegeben, auch jiddisches Theater mit literarischem Anspruch in Wien zu etablieren. Die Protagonisten dieser Initiative, die ihren Spielort im „Intimen Theater“ in der Praterstraße 34 fand und Episode blieb, waren Siegfried Schmitz, Egon Brecher, Hugo Zuckermann, Leo Goldhammer, Oskar Rosenfeld und Max Gold. Im Mai 1919 etablierte sich die „Freie Jüdische Volksbühne“. Ihr Anliegen war es, den modernen jiddischen Dramen eine Aufführungsstätte zu schaffen und den Anschluss an aktuelle Theaterbestrebungen und Dichter zu finden. Hier kamen Dramatiker aus der Generation nach Abraham Goldfaden und Jacob Gordin zur Geltung: Leon Kobrin, Isaac Leib Perez, Scholem Alejchem, Schalom Asch, David Pinski, H. Leiwick, Ossip Dymow, Peretz Hirschbein. Die Dramen thematisierten die Probleme der jüdischen Bevölkerung wie Pogrome, den Zerfall der Familien durch die Aufgabe der orthodoxen Tradition, die allgegenwärtige Armut oder die Hindernisse bei der Auswanderung nach Amerika. Die Schwierigkeit dieses Unterfangens zeigt der Umstand, dass das als Verein organisierte Ensemble über keine feste Spielstätte verfügte.

Amerikanische Lebensbilder

Doch zurück zu den Lachbühnen: Das „Jüdische Künstlerkabarett“ wurde im Herbst 1925 in der Praterstraße 60 unter der Leitung des Komikers Max Streng eröffnet. Doch genau genommen war es kein Kabarett, sondern es platzierte Lebensbilder aus dem amerikanischen Einwanderermilieu sowie Dramen und Operetten auf dem Spielplan. Im Herbst 1928 wurde das Ensemble von Leopold Jungwirth übernommen und als „Neues Jüdisches Theater“ weitergeführt, das dem Singspiel- und Operettengenre treu blieb.

Im Oktober 1927 wurden die „Jüdischen Künstlerspiele“ im „Theater Reklame“ in der Praterstraße 34 eröffnet. Auch hier wurden Operetten, Singspiele und Revuen präsentiert, zudem einige ernste Stücke. Aufgrund dieser Bandbreite konnte sich das Ensemble bis in den März 1938 halten. Vor allem in den 1930er Jahren war mehrfach die „Wilnaer Truppe“ zu Gast, die humorvolle Stücke wie Herschel Ostropoler von Mosche Liwschitz, Die Mühle von David Bergelson oder Der grossje Gewinnst von Scholem Alejchem inszenierte. In den Jahren bis zum „Anschluss“ wurden auch einige zionistische Revuen von Abisch Meisels aufgeführt, die immer gut besucht waren. Zu den Mitwirkenden dieser Jahre gehörte auch der aus Deutschland geflüchtete Schauspieler Leo Reuss, der 1936 eine Realsatire von einzigartiger Genialität gegen den Rassenwahn vollbrachte. Er gab sich als Tiroler Bauer und schauspielerisches „Naturtalent“ mit Namen Kaspar Brandhofer aus. Hierfür hatte er monatelang am Bauernhof gelebt, seine komplette Mimik, Gestik sowie natürlich sein Aussehen verändert: Alle zehn Tage musste er ein unangenehmes Bad in verdünntem Wasserstoff nehmen, um sogar seine schwarze Körperbehaarung erblonden zu lassen. Über die Empfehlung von Max Reinhardt erhielt er von Ernst Lothar eine Rolle in Schnitzlers Fräulein Else. Sowohl die Reichspost als auch nationalsozialistische Zeitungen bejubelten die vermeintliche Inkarnation ihrer Theoreme. Zur Tarnung trug Reuss/Brandhofer auf der Straße immer eine NS-Zeitung unter dem Arm, doch da er immer wieder von Kollegen erkannt wurde, brach er unter dem Druck zusammen und der Schwindel flog auf. Danach entkam er nach Amerika und wirkte noch in zahlreichen Hollywood-Filmen mit (siehe auch NU 2/2020).

Der einzige Versuch, jiddisches Theater in deutscher Sprache dauerhaft auf die Bühne zu bringen, glückte dem „Jüdischen Kulturtheater“, wenn auch nur in der kurzen Zeitspanne zwischen 1935 und 1938. Zu den Mitwirkenden gehörte auch Oscar Teller, mehrheitlich setzte sich das Ensemble aus Flüchtlingen aus Deutschland zusammen. In der Tradition der „Freien Jüdischen Volksbühne“ stehend, wurden jiddische Klassiker von Scholem Alejchem, Ossip Dymow und Isaac Leib Perez auf die Bühne gebracht. Neben den geschilderten Theatergruppen gab es noch einige kleinere jüdische Theatervereine, die sich nach einer gewissen Zeit wieder auflösten. Mitte der zwanziger Jahre sorgten Gastspiele von Truppen aus New York, Budapest und die hebräischsprachige „Habima“ aus Moskau, das „Moskauer Jüdisch-akademische Künstlertheater“, für Aufsehen. Im Gegensatz zu Berlin konnte jiddisches Theater in Wien auch noch nach 1933 dargeboten werden, wobei es allerdings in großer Gefahr war, Ziel eines rabiaten Antisemitismus zu werden.

Der Journalist und Schriftsteller Oskar Rosenfeld versuchte jiddisches Theater mit literarischem Anspruch in Wien zu etablieren. ©Bildarchiv Pisarek / akg-images / picturedesk.com
In den frühen 1930er Jahren war der aus Deutschland geflüchtete Leo Reuss gern gesehener Darsteller. 1936 sollte er mit seiner Brandhofer-Realsatire für Aufsehen sorgen. ©Wolff-von-Gudenberg-Ullstein-Bild-picturedesk.com
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