Mit seiner Familienchronik „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ über seine Vorfahren, die Bankiersfamilie Ephrussi, wurde der Londoner Künstler Edmund de Waal schlagartig berühmt. Seine Keramikarbeiten werden in den wichtigsten Museen der Welt gezeigt. NU war mit de Waal im jüdischen Venedig unterwegs.
Es ist halb neun Uhr morgens. Auf der Seufzerbrücke und im Labyrinth zwischen Markusplatz und Rialtobrücke drängeln sich Einheimische und Touristen. Doch von den 130.000 Besuchern, die täglich in Venedig einfallen, kommen nur wenige ins jüdische Viertel im Nordwesten der Stadt, zumindest nicht um diese Uhrzeit. Boote schaukeln auf den schmalen Kanälen, Mütter eilen mit ihren Schulkindern durch die engen Gässchen zur Vaporetto-Station, Kellner wischen den Nachtregen von den Tischen und Stühlen. Am Campo di Ghetto Nuovo führt eine versteckte Tür in den verwunschenen, rosenumrankten Garten des koscheren Restaurants Ghimbel Garden. Hier gäbe es die mit Abstand besten Kuchen der Stadt, schwärmt der Londoner Weltkünstler Edmund de Waal, den ich hier zum Frühstück treffe. Geschmack sei pure Erinnerung, der Geschmack eines in Lindenblütentee getunkten Gebäckstücks namens „Petite Madeleine“ diente einst Marcel Proust in seinem Jahrhundertroman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als Schlüssel zur Vergangenheit. Nicht der Anblick des Gebäcks vermag den Prozess in Gang zu setzen, heißt es im Roman, sondern erst die Sekunde, da der mit „Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte. Mit einem Mal war die Erinnerung da.“ Und Erinnerungsarbeit ist Basis allen künstlerischen Schaffens des Schriftstellers und bildenden Künstlers Edmund de Waal.
Doch dann probiert dieser schlanke, asketische, feingliedrige Mann mit den klugen Augen kein an das Fin de Siècle erinnerndes Törtchen, kein Mürbgebäck, keinen Keks. Und auch am Espresso nippt er nur, weil er lieber über seine zweiteilige Ausstellung Psalm reden möchte, die noch bis Ende September zu sehen ist. Und über das Ghetto Nuovo mit seinen aus Platzmangel in die Höhe strebenden Häusern, wohin im Jahr 1516 venezianische und zugewanderte Juden zwangsübersiedelt worden waren. Bis heute sei es eine Art Mikrokosmos der multiethnischen Lagunenstadt, „ein Ort der ständigen Übersetzung, ein Versuchsfeld des Begreifens und der Schattierungen“, sagt Edmund de Waal. Fünf Jahre tüftelte er an den Psalm-Ausstellungen, recherchierte, konzipierte, notierte, schuf. Denn „erst wenn alle Vorarbeiten und Vorbereitungen erledigt sind, ist man frei, um die Kunst zu machen.“
Dienliche Sprache der Kunst
In der Scuola Canton, einer der fünf Synagogen, in der nun das Jüdische Museum Venedigs untergebracht ist, nimmt de Waal Bezug auf Geschichte und Architektur des Gotteshauses. Es sei ein Privileg, sein Projekt an einem so heiligen Ort realisieren zu dürfen, sagt er und läuft die Stiegen hinauf, erläutert seine anrührend filigranen, religiös-philosophisch grundierten Installationen und Objekte aus Porzellan, aus lichtreflektierendem Gold und, ja, aus Marmor, „weil Juden für ihre Synagogen keinen Marmor verwenden durften.“ Viele Arbeiten hängen ungewöhnlich hoch, so etwa jene, die den Tehillim-Psalm zum Thema hat, das über heilige Räume erzählende Lied aus dem 16. Jahrhundert. Es sind rhythmische Raum-Interventionen, elegant, minimalistisch. „Ich brauche nicht viel, um etwas auszudrücken. Wichtig ist, herauszufinden, welche künstlerische Sprache einem dienlich ist.“
In der Aula des Ateneo Veneto di Scienze, Lettere ed Arti am Campo San Fantin unweit des Markusplatzes hat de Waal eine „Bibliothek des Exils“ eingerichtet, auch als Hommage an seinen Urgroßvater, der nach dem „Anschluss“ 1938 in Wien miterleben musste, wie seine gesamte Bibliothek auf einen Lastwagen geworfen und abtransportiert wurde, sowie als Mahnmal für alle über die Jahrhunderte verlorenen und zerstörten Bibliotheken, von Ninive über Alexandria und Konstantinopel bis Timbuktu und Mosul. Ihre Namen hat er auf die Außenwände geschrieben, von Hand beschriftete Porzellanblöcke gliedern die Bücher nach den Herkunftsländern. „Es war nicht der Verlust der Paläste und Privilegien meiner Vorfahren, die mich beschäftigen. Klar hätte ich nichts dagegen, sie wieder zurückzukriegen“, fügt er hinzu und lächelt sein grashalmfeines Lächeln: „Aber dass mein Urgroßvater, der wirklich ein Gelehrter war, der Ovid übersetzte, zusehen musste, wie seine Bibliothek verloren ging, vernichtet wurde, hat zu hundert Prozent meine Vorstellung dessen, was Exil ist, geprägt.“
Der 1964 in Nottingham geborene, in London beheimatete de Waal ist ein international gefragter Künstler, spätestens, seit er mit seiner aufwühlenden Familienchronik Der Hase mit den Bernsteinaugen über den gesellschaftlichen Aufstieg seiner Vorfahren, der märchenhaft reichen Bankiersfamilie Ephrussi, und deren Vertreibung und Enteignung durch die Nazis einen vielfach ausgezeichneten Weltbestseller geschrieben hat. Den Anstoß zu diesem außergewöhnlichen Buch gab eine 264-teilige Netsuke-Sammlung, zu der auch der berühmte Hase mit den Bernsteinaugen gehört. De Waal entdeckte die kostbaren kleinen Figuren als Austauschstudent in Tokio eher zufällig bei seinem nach Japan emigrierten Onkel Iggie Ephrussi, der dem Neffen die Sammlung übergeben sollte.
Seine jüdische, ins Exil geflüchtete Großmutter Elisabeth konvertierte bei ihrer Heirat zum Christentum, ebenso wie de Waals Vater, der sich als mittlerweile pensionierter Dekan der anglikanischen Kathedrale von Canterbury für den christlich-jüdischen Dialog engagierte. De Waals Mutter war Nichtjüdin. Und er selbst? „Ich bin christlich aufgewachsen und nenne mich einen buddhistischen, anglikanisch-jüdischen Quäker“, sagt er, nachdem wir im Schatten des Ateneo Veneto an einem der Tische des „Al Theatro“ Platz nehmen. Immer wieder kommen Ausstellungsbesucher aus aller Welt zu ihm, viele haben Der Hase mit den Bernsteinaugen dabei und bitten um ein Autogramm, bedanken sich für die berührende Ausstellung, umarmen ihn. Der bescheiden, ja schüchtern wirkende Künstler lässt es freundlich geschehen, signiert, gibt Auskunft, freut sich über das Interesse.
Sieben Jahre arbeitete er an dem Buch, er bereiste Odessa, Paris, Wien und Tokio, stöberte Archivmaterial, Briefe, Fotografien auf, um die Familiensaga der Ephrussis profund in die kunst- und zeithistorische Realität der Jahrhundertwende einzubetten: „Ich würde nicht leugnen, dass ich – auch – melancholisch war“, erzählt er über seine intensive Erinnerungsarbeit. „Natürlich kann man in den Geist der Vergangenheit, in diese abgehobene Märchenwelt der Palais, des unermesslichen Reichtums, der eleganten Moden, der Kunstschätze nostalgisch hineinsinken als etwas, wonach man sich zurücksehnt. Doch Nostalgie und Melancholie isolieren die Vergangenheit, sie laden Vergangenheit mit Bedeutung auf, aber verhindern gleichzeitig, dass sie Macht entfaltet. Im Gegensatz dazu holt Erinnerung Dinge in die Gegenwart, sodass sie das Hier und Jetzt verändert. Mir ging es darum, nicht nur die Geschichte meiner Familie, sondern einer ganzen Epoche zu beschreiben.“
Mit Hand, Verstand und Herz
Doch seine große Leidenschaft gehört nicht (nur) dem Schreiben, der akribischen Recherche, sondern der Töpferkunst. Bereits mit fünf entdeckte der kleine Edmund, wie faszinierend und genussvoll das Formen und Transformieren eines rohen Klumpen Tons ist: „Es ist schön, von meiner Fantasie und meiner Hände Arbeit leben zu können. Ich liebe es, Dinge zu begreifen: mit den Händen. Mit dem Verstand. Mit dem Herzen. Berühren – ob mit Worten oder mit Objekten – ist der Kern all dessen, was ich mache.“
Als Keramikkünstler ist er bei Gagosian unter Vertrag, dem weltweit einflussreichsten Galerienmulti für zeitgenössische und hochpreisige Kunst, und das bedeutet: Ausstellungen weltweit. Seine Keramikarbeiten waren unter anderem in London in der Tate Britain und dem Victoria & Albert Museum ausgestellt. During the Night hieß eine von ihm kuratierte Ausstellung im Kunsthistorischen Museum in Wien, für die er zum Thema Angst drei Jahre in den Depots des Museums forschte.
Unter dem Titel Elective Affinities entzündet de Waal in der New Yorker Frick Collection bis 17. November einen spannungsreichen Dialog zwischen Sammlungsbeständen und seinen Installationen und Objekten aus Porzellan, Stahl, Gold, Marmor und Glas. Das Jüdische Museum Wien, dem die Familie de Waal das gesamte Familienarchiv geschenkt hat, zeichnet ab 6. November mit der Ausstellung Die Ephrussis. Eine Zeitreise die Geschichte der Familie von Odessa über Wien bis ins Exil nach. Zu sehen sein werden natürlich auch die berühmten Netsukes. Die kostbaren Miniaturen, die in Wien dereinst von einem Dienstmädchen hinausgeschmuggelt und so vor der „Arisierung“ durch die Nazis gerettet worden waren, hat Edmund de Waal – zusätzlich zum Familienarchiv – für zehn Jahre dem JMW als Leihgabe überlassen. Dass das Familienarchiv und die Netsukes just in jene Stadt zurückkehren, die Edmund de Waals Familie geschmäht, enteignet und vertrieben hatte, ist eine großzügige Geste gegenüber der Stadt, vor allem aber eine wertschätzende Anerkennung für das Jüdische Museum Wien und seine konsequente Aufklärungsarbeit: „Meine Kinder sind jetzt 21, 19 und 16 Jahre alt. Gemeinsam haben wir beschlossen, ein Drittel der Sammlung zu verkaufen und den Erlös an Flüchtlingseinrichtungen zu spenden. Zwei Drittel sind nun im Jüdischen Museum Wien. Diese Netsukes bewahren Geschichte. Und ich bin überzeugt davon, dass sie hier mehr Auswirkungen haben werden als in unserem Haus in London.“
Zu Tränen gerührt
An seinen ersten Wien-Besuch erinnert sich de Waal noch gut: „Ich war wütend, denn ich dachte daran, was man meiner Familie angetan hatte. Und ich stand zunächst vor einer Menge verschlossener Türen. Doch was mich wirklich positiv überraschte, war, wie das Buch in Wien schließlich aufgenommen wurde. Ich dachte, es würde vielleicht ignoriert werden oder die Leute würden zu nett sein, es würde Lob mit zu viel Schlagobers geben, wenn Sie verstehen, was ich meine: passiv aggressiv. Aber das war es ganz und gar nicht! Die Präsentation im Palais Ephrussi gehört bis heute zu einem der erstaunlichsten, unglaublichsten und schönsten Augenblicke meines Lebens: Mein Vater war da, zwei meiner Söhne, meine Frau. Ich hielt eine Rede und sah meinen Vater mit meinen zwei Söhnen im Haus seiner Eltern verschwinden. Dass er das erleben durfte, hat mich zu Tränen gerührt.“