Er schüttelte Reime und Noten aus dem Ärmel wie kein anderer. Porträt des jüdischen Multitalents Franz Mittler, dessen Kunst heuer beim Kammermusikfestival auf Schloss Laudon gewürdigt wurde.
Von Peter Weinberger
Vielleicht ist gerade Franz Mittler als Person besonders gut dazu geeignet, um jene rund zwanzig Jahre vor 1938 zu charakterisieren, in der Wien von genialen „Luftmenschen“ geradezu überquoll. Sie alle – vom Dichter und Kaberettisten Peter Hammerschlag bis zum Essayisten Anton Kuh – versprühten den intellektuellen Charme und Witz eines assimilierten Wiener Judentums und haben ganz wesentlich zur Kultur der Zwischenkriegszeit beigetragen – wofür sie nach 1945 nie honoriert worden sind.
Franz Mittler war nicht nur ein Meisterschüttler von Reimen, sondern vor allem ein Komponist und blendender Pianist. Doch davon später. Das Spielen mit Sprache, die umwerfende Rhythmik in so manchem seiner bestens bekannten Schüttelreime, lassen gelegentlich das musikalische Genie in Mittler vergessen. Neben den unvergesslichen Schüttelreimen aus seiner Wiener Zeit, die fast jeder kennt, wie etwa
Der einst die
Hottentotten schor,
Ist jetzt Friseur
am Schottentor.
Blas’ ich die
G-Dur-Barkarole,
So spielt mir
B-Dur gar ka Rolle.
Die vor sich hinbrüllt,
Das ist die Brünnhild.
Der Kurti ließ ein
Stinkerl wehn,
Drum muß er jetzt
im Winkerl stehn.
Und „heimisch“ klingenden Boshaftigkeiten:
Von Kopfe bis zum
Haxl sieß
War eine Maid,
die Sachsel hieß.
In der bösen
Träume Schlaf
Gestern ich den
Schlojme traf.
Schon seit der
grauen Vorzeit jaiern
Die Juden, wenn sie
Johrzeit feiern.
Was für ein Gejüdel
in Kammer am See?
Samer am Kai?
Später gesellten sich in der Emigration noch „Limericks“ in englischer Sprache bzw. in einem englischdeutsch- jiddischen Gemisch dazu:
Daphne Blumberg,
who visited Rome,
Went at Easter to
Saint Peter’s Dome.
She waved to the Pontiff
A friendly: Good Yonteff!
„And Pius waved back“,
she wrote home.
At a restaurant in
Massachusetts
I saw a girl eating
Crêpes Suzettes.
She looked Viennese
So I said to her: „Please,
Do you mind it,
wenn ich mich dazu setz’?“
My daughter went,
said Mrs. Bendix,
To the hospital for
her appendix.
„Oy“, remarked Mrs. Fuchs
„The way that girl looks
The appendix is ‘eppes lebendigs!“
Vielleicht am allerbesten lässt sich Mittlers Leichtigkeit im „Sprachverdrehen“ mit folgendem Zweizeiler zeigen,
Le lunch était delicious
Now we must faire les dishes.
in dem lediglich ein paar Worte genügen, um Französisch mit dem Englisch deutscher oder österreichischer Emigranten zu vermischen.
Franz Mittler entstammte einer österreichischen Unternehmerfamilie. Der Großmutter Fanny Biach widmete der Elfjährige Thema und Variationen für Violine und Klavier. Eine andere Verwandte, Leonie Gombrich, war einerseits Assistentin des in Wien unglaublich einflussreichen Pianisten Theodor Leschetitzky und andererseits eine der Lehrerinnen Mittlers. Seine musikalischen Ausbildung erhielt er an der k. k. Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien bei Leszetycki (Klavier) sowie Richard Heuberger und Carl Prohaska (Komposition) und am Konservatorium in Köln bei Fritz Steinbach und Carl Friedberg (Orchesterleitung). Noch als Jugendlicher komponierte er in den Jahren von 1909 bis 1912 Kompositionen, von denen einige bei Universal veröffentlicht wurden.
Internationale Karriere machte Mittler in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts insbesondere als Liedbegleiter. Die Liedzyklen von Schubert, Schumann, Brahms, Wolf und Richard Strauss konnte er aus dem Gedächtnis wiedergeben. Vor allem für Leo Slezak, über dessen „böhmakeln“ sich Mittler gelegentlich lustig machte, gehörte er zu den Lieblingsbegleitern. In dieser Zeit komponierte er Tangos, Walzer und Polkas; er war vermutlich einer der allerersten, die sich mit dem Phänomen „Jazz“ auseinandersetzten.
Sein wahrscheinlich bedeutendstes Engagement erfolgte in den Dreißigerjahren als ständiger Begleiter und „Musikdirektor“ von Karl Kraus bei dessen legendären Auftritten. Kraus konnte weder Noten lesen, noch war er musikalisch. Die Aufgaben Mittlers bestanden darin, Kraus Melodien zu Couplets einzubläuen, etwaige Vorspiele (Introduktionen) zu improvisieren und gelegentlich Tonarten anzupassen, wenn Kraus sich wieder einmal in der Melodie „verirrte“. Bei Kraus’ Vorliebe für Offenbach-Operetten keine leichte Aufgabe. Alban Berg gehörte, wie vielleicht bekannt ist, zu den begeisterten „Krausianern“ und damit auch zu den Bewunderern der musikalischen Flexibilität Mittlers.
1938, zum Zeitpunkt des Einmarsches der Deutschen Truppen in Österreich, befand er sich auf einer Konzertreise in Holland. Wegen seiner jüdischen Herkunft, aber auch wegen seiner engen Verbindung zu Karl Kraus, konnte er nicht mehr nach Wien zurückkehren, um seine Manuskripte abzuholen. Ab Dezember 1938 begann für ihn ein neuer Lebensabschnitt in New York. 1939 stieß er beim Verlassen eines Aufzugs mit einer jungen Frau zusammen, die auf den Aufzug wartete: Regina Schilling, eine ehemalige Studentin und Absolventin des Wiener Konservatoriums. Bereits Ende 1939 wurde geheiratet, Trauzeuge war Erich Zeisl, einer der vertriebenen Wiener Komponisten.
Zunächst (1940–1942) arbeitete Mittler als Arrangeur bei Columbia Records. Nach der kriegsbedingten Schließung seiner Abteilung fand er Zugang zu einem Verleger, in dessen Verlag eine Reihe seiner Tanzmusikstücke (z. B. Bolero in Blue oder Boogie-Woogie in Blue) erschien. Das 1943 gegründete First Piano Quartet, bestehend aus drei Wiener Pianisten (Holt, Robert, Mittler) und einem Russen (Padwa) gestaltete sich zu einer Sensation: Die vier spielten auswendig alles, von Bach über Händel bis zu Beethoven und Schubert, und das bloß über Blickkontakt. Margaret und Harry Truman befanden sich unter den vielen Fans dieses Quartetts. Die Konzertsäle waren übervoll, Radioübertragungen und Schallplattenaufnahmen folgten. Das Quartett bestand bis 1961. Ab diesem Zeitpunkt flaute das Interesse an arrangierter klassischer Klaviermusik ab. Das freiberufliche Musikerleben wurde mühsam, überdies erwies sich seine Ehe als zerrüttet.
1964 „rückübersiedelte“ er nach Europa, nach Siegsdorf in Bayern, etwa 50 Kilometer nördlich von Salzburg gelegen. Zwischen 1965 und 1967 half er zunächst bei der Sommerschule des Mozarteums aus, dann aber hinderten ihn eine zunehmende Parkinson’sche Krankheit und Arthritis in den Händen an weiteren öffentlichen Auftritten. Er starb am 27. Dezember 1967.
Da seine Kompositionen in Österreich (Wien) größtenteils unbekannt sind, spielte das Aron Quartett beim Kammermusikfestival im Schloss Laudon, das „Vertriebener Musik“ gewidmet ist, am 24. August 2012 sein Streichquartett Nr. 3 in d-Moll, Aus der Wanderzeit, das gewissermaßen eine Hommage an das alte Österreich, an das Habsburger Österreich, darstellt. Die Sätze Wolhynien, Scherzo (Serbien), Steiermark, Rapsodia ungherese (Ungarn), durchlaufen seine Stationen als Leutnant in der k. u. k. Armee. Im Vorprogramm zu dieser Darbietung lasen Christa und Kurt Schwertsik einige seiner Schüttelreime und Diana Mittler-Battipaglia (New York), Mittlers Tochter, erzählte über ihren Vater.
Übrigens, das optisch wohl eindruckvollste Musikstück Franz Mittlers ist die One Finger Polka (Piano Solo), Dedicated to Chico Marx’s second finger, 1945. Von Chico Marx’s Klavierclownerie kann man sich leicht in den Marx-Brothers-Filmen At the Circus und A Night in Casablanca überzeugen lassen. Die entsprechenden Szenen sind Klassiker der Filmkunst.
Und nachdem lediglich zweizeilige Schüttelreime zitiert worden sind, vielleicht als Abschluss noch ein etwas komplizierteres Exemplar:
Der Gast verfolgte bis
aufs Schiffsdeck
Die Fliege, die ihm schiß
aufs Beefsteak,
Worauf er laut und
erbost rief:
„ich will ein unbeschiß’nes
Roastbeef!“