Eine Initiative im neunten Bezirk hat die Geschichte der Juden recherchiert, die vor 1938 in der Servitengasse lebten. Aus dem kleinen Projekt ist ein großes Ganzes entstanden, das jetzt auch filmisch aufbereitet wurde.
Von Peter Menasse
Die Welt wird von unten gebaut“, sagt die junge Verkäuferin im Papiergeschäft. Sie hält eine Schachtel mit einem neuartigen Puzzlespiel in der Hand. Die Welt mit all ihren Kontinenten und großen Ländern wird seit neuestem nicht mehr flach auf einem Brett aufgelegt, sondern als Kugel von unten nach oben in einer halbrunden Schale zusammengesetzt.
Das ähnelt frappant einer Bewegung, die in den letzten Jahren in Österreich an Tempo gewonnen hat. Menschen der sogenannten „dritten Generation“, die Enkel der Opfer, Täter und Mitläufer suchen die Welt vor 1938 zu entdecken. Was jahrzehntelang in Österreich einigen wenigen Historikern und den ShoahÜberlebenden mit ihren in kleinen Verlagen aufgelegten Biografien vorbehalten war, übernimmt jetzt eine Generation, die nicht unmittelbar betroffen war, weder durch eigenes Erleben, noch durch die ständigen schmerzhaften Erzählungen der Eltern. Es ist das mitunter ein von Eile und Emotion getriebenes, ein atemloses Crescendo vor dem endgültigen Finale. Bald werden die letzten, heute schon über achtzigjährigen Zeitzeugen verstummt sein. Die neue Bewegung der „Rekonstruktion von unten“ aber braucht sie als Objekte der Zuneigung. Erfüllt von einer Mission, holen sie die alten Leute aus den USA, aus Israel und England in ihre frühere Heimat, um über sie Grüße in die Vergangenheit zu senden. „Seht her, wir sind unschuldig, wir sind gut, wir lieben euch.“
Ein solches „Projekt von unten“ befasst sich mit dem Schicksal der Verschwundenen aus der Servitengasse im neunten Wiener Gemeindebezirk. 1938 waren dort, wie in den meisten Gassen des Alsergrunds auch, mehr als die Hälfte der Hausbewohner Juden. Die Philologin Barbara hat mit den Recherchen begonnen. Im „Totenbuch Theresienstadt“ entdeckt sie den Namen eines ehemaligen Bewohners ihres Hauses in der Servitengasse 6. Sie will gemeinsam mit den anderen Bewohnern am Haus eine Erinnerungstafel anbringen, stößt jedoch auf Ablehnung bei den meisten von ihnen.
Barbara verbeißt sich in das Projekt und findet schließlich Unterstützung in der Nachbarschaft ihres Hauses. Im Jahr 2004 wird eine Projektgruppe gegründet, die das Schicksal der früheren Bewohner der Straße dokumentieren will. Ihr gehören Alsergrunder unterschiedlicher Berufe an, die zum Teil bereits bei ähnlichen Projekten mitgearbeitet haben. Die von der Gruppe erhobenen Fakten zeigen die Dichte jüdischen Lebens in der Servitengasse vor 1938. Über 360 der insgesamt 670 in dieser Gasse lebenden Menschen waren Juden. Sie besaßen dort Wohnungen und Häuser. 29 der 48 Geschäfte wurden von Juden geführt, darunter ein Kürschnergeschäft, eine „Wäschewarenerzeugung“ und eines der früher im Wiener Stadtleben häufigen Seefischhandlungen.
Die Zahlen, Fakten und Geschichten aus der Periode vor und nach dem März des „Anschlussjahrs“ werden von der Gruppe aufgezeichnet, in Schulen des Alsergrunds besprochen und als Material für den Unterricht verwendet, sowie in einer Publikation veröffentlicht, die im Herbst 2007 im Mandelbaum Verlag erscheinen wird. Diese soll mit einem Gedenksymbol im öffentlichen Raum dokumentiert, dessen Gestaltung unter Studierenden der Universität für Angewandte Kunst ausgeschrieben wurde.
Schließlich hat der Filmproduzent Kurt Mayer das Thema aufgegriffen und Dokumentarfilmer der Wiener Filmakademie eingeladen, die Suche nach der Vergangenheit aufzuzeichnen. Der Film „Unter dem Alsergrund – Servitengasse 1938“, von Mayer als „Werkstattprojekt“ konzipiert, wird am 20. September auf dem Kirchplatz Servitengasse im neunten Bezirk erstmals öffentlich gezeigt (Informationen siehe nebenstehender Kasten).
Kurt Mayer ist bereits einmal jüdischen Spuren im Alsergrund nachgegangen, als er in Zusammenarbeit mit dem Sigmund Freud Museum einen Film über „Freuds verschwundene Nachbarn“ produzierte. In der Servitengasse läuft fast alles seinen gewohnten Gang. Die Vergangenheit ist fast schon begraben: „Man hat ja viel getan, gerade in Österreich, das muss ich sagen“, meint die Hausbesorgerin, „das können Sie auch nicht abstreiten.“ Doch dann ist da noch Barbara, die von „ihren Überlebenden“ spricht. Sie sagt: „Ich kann mir das so lebhaft vorstellen, dass ich da total mitlebe und mitleide.“ Und ein andermal gesteht sie, dass sie nicht aufhören kann mit dem Recherchieren. In einer Filmsequenz sieht man sie am Flughafen beim Abholen von Paul Lichtmann, einem früheren Hausbewohner von Servitengasse 6, der nach San Franzisco flüchten konnte. Barbara empfängt und küsst ihn überschwänglich und herzlich, als ob er ihr leiblicher Vater wäre. Der alte Mann blickt verlegen ob dieser Euphorie einer ihm bisher nur über E-Mails bekannten Frau und lässt sie gewähren. In einer späteren Filmeinstellung wird sie sagen: „Er war sehr gerührt.“
Inzwischen ist das Projekt wegen dieses Eifers gewachsen und über diesen Eifer hinausgewachsen. Die Wiener Servitengasse ist zu einem Symbol für die Vertreibung der Juden aus dem Alsergrund geworden, weil kleine Leute aus einer kleinen Gasse die Welt von unten nach oben mit Puzzlesteinen nachgebaut haben.
OPEN-AIR FILMVORFÜHRUNG UND DISKUSSION
„Unter dem Alsergrund – Servitengasse 1938“
(ein Film von Tobias Dörr und Henri
Steinmetz, Ö 2006, 61 min)
ZEIT: 20. Sept. 2007 um 19.30 Uhr
ORT: Kirchplatz Servitengasse,
1090 Wien
Nach der Filmvorführung findet
ein Publikumsgespräch mit den
Filmemachern Tobias Dörr und
Henri Steinmetz und Vertretern der
Projektgruppe „Servitengasse 1938“
statt.
D a n a c h Erfrischungen.
FREIER EINTRITT!
Bei Schlechtwetter wird der Ort der
Filmvorführung unter der Telefonnummer
01/315 78 76 bekannt gegeben
Eine Veranstaltung von „kurt mayer film“.
PROJEKTGRUPPE
„Servitengasse 1938“
Die Projektgruppe „Servitengasse 1938“ besteht aus Bürgerinnen und Bürgern, großteils wohnhaft im 9. Bezirk, deren Anliegen laut Eigenbeschreibung es ist, die Schicksale ihrer „verschwundenen Nachbarn“ aufzuarbeiten.
KONTAKTADRESSE:
Projekt „Servitengasse 1938“,
c/o Agenda 21 am Alsergrund,
Liechtensteinstraße 81/1/1,
1090 Wien. Telefon: 0676/706 61 38,
E-Mail: servitengasse1938@gmx.at,
www.servitengasse1938.at