Die Synagoge in der Wiener Tempelgasse wurde 1938 zerstört. Wer sie heute besichtigen will, muss ins Ausland reisen. In halb Europa wurde das Gotteshaus im 19. Jahrhundert kopiert. Auch in Rumänien.
Von Eva Konzett (Text) und Martin Gruber (Foto)
Schwer sind die Bilder des touristischen Bukarest für denjenigen zu behalten, der hinter dem Einheitsplatz der rumänischen Hauptstadt den leichten Hügel hinaufsteigt. Weit weg scheinen die schmucken Jahrhundertwende- Villen, die wie andernorts vom Aufstieg des Bürgertums zeugen, auch der mächtige General-Magheru- Boulevard mit seinen Juwelen der modernen Baukunst der 30er-Jahre ist in den Abgaswolken einer durchmotorisierten Stadt zurückgeblieben. Hinter dem Einheitsplatz herrscht die Geschichtslosigkeit zwischen den in den 80er-Jahren hochgezogenen, einst weißen Betonhochhäusern. Staubbedeckt stehen sie da, eines neben dem anderen, geschmückt nur von den kleinen Kiosken, die sich in den Erdgeschoßen angesiedelt haben und die Bewohner des jeweiligen Blocks mit dem Notwendigsten versorgen.
An diesem Ort einer vergessenen Erinnerung befand sich früher das dichteste jüdische Viertel der Stadt. Es wurde im Zuge der Urbanisierungspläne des sozialistischen Machthabers Nicolae Ceausescu in den 70er- und 80er-Jahren den Planierraupen überlassen. Platz musste damals geschaffen werden für den Traum des Diktators, seinem Bukarest eine neue administrative Struktur zu geben, die im Volkspalast ihre Krönung finden sollte. Bis heute thront dieser, einer der größten Profanbauten der Welt, rücksichtslos über der Altstadt. Vom einst farbenreichen jüdischen Leben können im Viertel nur noch zwei Synagogen, ein Theater, ein Museum sowie die Jüdische Schule erzählen – verstreute Zeugnisse einer vergangenen Welt. Um das jüdische Leben wiederzufinden, muss heute zusätzlich in den Büchern gesucht werden und in den Geschichten der Menschen. Sie erzählen von einer bedeutenden jüdischen Gemeinde, die sich aus orthodoxen Ostjuden, sephardischen Händlern und einem sich im 19. Jahrhundert herausbildenden liberalen Flügel zusammensetze.
Eine der noch bestehenden Synagogen ist der Chor-Tempel. Leicht zurückversetzt steht er in einer Seitengasse des Corneliu-Coposu-Boulevards, der das Viertel heute durchschneidet. Die rostrote Fassade mit maurischen Elementen ist renoviert, dahinter arbeiten Handwerker an der Restaurierung des Innenraums. Die Verbauung von links und rechts nimmt dem Sakralbau das Monumentale, aber nicht den Stolz. Bis heute ist der Chor-Tempel architektonischer Ausdruck der im 19. Jahrhundert erstarkenden Reformbewegung rund um den Gelehrten Iuliu Barasch, welche die Ideen der Haskalah auch in Rumänien umzusetzen versuchte. In diesem Sinne kündigte die Zeitung Der rumänische Israelit im Jahr 1857 den Bau des Tempels an, der „nach Vorbild der Chor-Tempel in den zivilisierten Ländern errichtet“ werden solle. In der Wiener Tempelgasse hatten zuvor die Arbeiten zum neuen großen Leopoldstädter Tempel unter dem Architekten Ludwig von Förster begonnen. Warum also nicht diesen zum Vorbild nehmen? So wurden die Baupläne aus Wien von den Architekten I. Enderle und Gustav Freiwald übernommen und den rumänischen Gegebenheiten, das heißt vorrangig in kleinerer Dimension, angepasst.
Ein durchaus nicht ungewöhnliches Prozedere in der damaligen Zeit. Der Leopoldstädter Tempel wurde im ganzen deutschsprachigen Raum, in den Kronländern der Monarchie und auch in Rumänien kopiert. Der Zuzug von Juden in die Städte hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Bauboom an Gotteshäusern ausgelöst. Aus ideologischen und ökonomischen Gründen wurde in der architektonischen Gestaltung auf bestehende Synagogen und besonders gerne auf den Sakralbau in der Tempelgasse zurückgegriffen. „Wir können fast von einer industriellen Produktion sprechen“, erklären die Architekten Bob Martens und Peter Herbert im Gespräch. Seit 15 Jahren forschen sie von Wien aus in diesem Gebiet und haben u.a. den Stadtführer Die zerstörten Synagogen Wiens erstellt. Mehrere Kopien fallen den beiden Experten spontan ein: Zagreb, Szekszard, Cluj und eben der Chor- Tempel in Bukarest, überall findet sich eine dreischiffige Synagoge mit Türmen in mehr oder weniger starker Anlehnung an das Wiener Vorbild. „Es ist dies ein Archetypus, der sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat“, erklärt Peter dazu; dieser finde sich auch in katholischen Gotteshäusern oder etwa in der evangelischen Kirche in der Gumpendorfer Straße in Wien wieder. Die Synagogen selbst durften jedoch in keinem Fall eine Konkurrenz zu den Sakralbauten der Mehrheitsbevölkerung darstellen. Dementsprechend waren sie selten freistehend und wurden eher in den urbanen Randgebieten errichtet.
Orientierung nach Westen
Auch Lya Benjamin, eine jüdische Historikerin in Bukarest, überrascht es nicht, dass bis heute eine Synagoge die Existenz des 1938 während der Reichspogromnacht von Nazi-Schergen zerstörten Gotteshauses in der Tempelgasse belegt: „Der progressive Flügel hat sich damals aus Überzeugung an den Gemeinden in Westeuropa orientiert. Es war ein Prozess der Emanzipation aus sich selbst heraus. In Rumänien hatten Juden bis dato trotz aller Bestrebungen die vollen Bürgerrechte noch nicht erlangt. Ziel war es, einen monumentalen Tempel zu bauen, um die eigene Position zu untermauern. Um sichtbar zu sein“, erzählt sie. Der Tempel verkörpert demnach auch einen Freiheitswillen, den die rumänischen Juden bei ihren Glaubensbrüdern im Westen bereits verwirklicht glaubten.
In Rumänien wird es indes noch bis in die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts dauern, bis die Juden als Staatsbürger anerkannt werden. Auch der Chor- Tempel wird mit einigen Verzögerungen – unter anderem wird er 1866 von rumänischen Nationalisten in Brand gesteckt – erst 1867 vollendet, nachdem bereits 1864 der Grundstein gelegt worden war.
Etwas mehr als 100 Jahre später macht sich der damalige rumänische Machthaber Nicolae Ceausescu Ende der 70er-Jahre daran, solche Sakralbauten wieder einzureißen. Nicht nur ein neuer Mensch soll im Sozialismus geformt werden, auch das kollektive Gedächtnis muss sich auf radikal anderen Grundlagen neu bilden. Dass für die städtebauliche Umstrukturierung historische Teile der Stadt Bukarest zerstört und zehntausende Menschen zwangsumgesiedelt werden, nimmt man dabei in Kauf. Hunderte Synagogen und Gebetshäuser – ein Teil davon bereits ungenutzt – fallen diesem Prozess zum Opfer. Auch Kirchen und Klöster sind betroffen. Selbst Bauten, die der Demolierung entgehen, sind vor der städtebaulichen Marginalisierung geschützt. So werden um manches Gotteshaus mehrstöckige Neubauten hochgezogen, die Sakralbauten von Hochhäusern umstellt. Ein Schicksal, das etwa die sogenannte „Große Synagoge“ erfahren musste. Von drei Seiten wird das aktive Gotteshaus jetzt von Betonfassaden bedrängt. Die prunkvolle Hauptseite verschließt sich so der Öffentlichkeit, das Gebäude ist von der Rückseite aus nur schwer als Synagoge erkennbar. Sie wurde aus dem zugänglichen Stadtbild gelöscht. Dies schütze die Synagoge wenigstens vor antisemitischen Übergriffen, soll ein Rabbiner einmal gesagt haben. Der jüdische Galgenhumor hat den Versuch, einen neuen Menschen zu schaffen, unversehrt überstanden.