Das Lemberger Deutsch

Eine literarische Reise durch Ostgalizien und die Bukowina.
VON PETER WEINBERGER

Von Ostgalizien konnte sich Joseph Roth genauso wenig loslösen wie Manès Sperber von der südlichen Bukowina. Gemeinsam mit Paul Celan und Soma Morgenstern teilen sie ein österreichisches Deutsch, das weitgehend von der Provinzhauptstadt Lemberg mit seinen Schulen, der Universität und anderen Kultureinrichtungen, aber auch von der österreichisch-ungarischen Monarchie geprägt war. Vielleicht sind es auch die Menschen und Landschaften, von denen sie schreiben, die an eine längst vergangene Welt erinnern, an eine Kultur, die das 20. Jahrhundert vollständig ausgelöscht hat. Das Lemberger Deutsch weist Eigenheiten auf, die es, zum Teil bedingt durch die vorhandene Mehrsprachigkeit – Polnisch, Ukrainisch (Ruthenisch), Russisch, Rumänisch, Deutsch, Ungarisch und Jiddisch (Hebräisch) –, vom Wiener Deutsch der Jahrhundertwende und der Ersten Republik mitunter unterscheidet. Gelegentlich ist es sogar eine abgewandelte Grammatik, die zum Einsatz kommt, nämlich immer dann, wenn das gesprochene Wort wichtiger als das Geschriebene wird.

Die Städtchen

Die Beobachtungen und genauen Beschreibungen des Journalisten Joseph Roth in seinem Essay Juden auf Wanderschaft:

„Die kleine Stadt liegt mitten im Flachland, von keinem Berg, von keinem Wald, keinem Fluss begrenzt. Sie läuft in die Ebene aus. Sie fängt mit kleinen Hütten an und hört mit ihnen auf. Die Häuser lösen die Hütten ab. Da beginnen die Straßen. Eine läuft von Süden nach Norden, die andere von Osten nach Westen. Im Kreuzungspunkt liegt der Marktplatz. Am äußersten Ende der Nord-Süd-Straße liegt der Bahnhof. Einmal im Tag kommt ein Personenzug …“

finden sich mit fast denselben Worten in seinem wohl berühmtesten Roman, Radetzkymarsch, wieder:

„Die Grenze zwischen Österreich und Russland, im Nordosten der Monarchie, war um jene Zeit eines der merkwürdigsten Gebiete. Das Jägerbataillon Carl Josephs (Trotta) lag in einem Ort von zehntausend Einwohnern. Er hatte einen geräumigen Ringplatz, in dessen Mittelpunkt sich seine zwei großen Straßen kreuzten. Die eine führte von Osten nach Westen, die andere von Norden nach Süden. Die eine führte vom Bahnhof zum Friedhof. Die andere von der Schlossruine zur Dampfmühle.“

Dort, in jenem Grenzgebiet, mit seinen Grenzschenken, die in vielen Romanen Roths eine wichtige Rolle spielen, dort beginnt die Monarchie zu bröckeln, dort endet im Grunde genommen die Geschichte derer von Trotta.

Das Städtchen in Ostgalizien, das Roth in Juden auf Wanderschaft beschreibt:

„Die Stadt hat achtzehntausend Einwohner, von denen 15.000 Juden sind. Unter den 3.000 Christen sind etwa 100 Händler und Kaufleute, ferner 100 Beamte, einer Notar, einer Bezirksarzt und acht Polizisten. Es gibt zwar zehn Polizisten. Aber von diesen sind merkwürdigerweise zwei Juden. Was die andern Christen machen, weiß ich nicht genau. Von den 15.000 Juden leben 8000 vom Handel. Sie sind kleine Krämer, größere Krämer und große Krämer. Die anderen 7.000 Juden sind kleine Handwerker, Arbeiter, Wasserträger, Gelehrte, Kultusbeamte, Synagogendiener, Lehrer, Schreiber, Thoraschreiber, Tallesweber (Geschichtenerzähler), Ärzte, Advokaten, Beamte, Bettler und verschämte Arme, die von der öffentlichen Wohltätigkeit leben, Totengräber, Beschneider und Grabsteinhauer …“

– unterscheidet sich kaum von jenem Ort in der südlichen Bukowina, der Manès Sperber selbst im Traum noch erschreckt (Die Wasserträger Gottes):

„Heute früh, der Tag war noch nicht angebrochen, weckte mich ein Unbehagen jener Art, das ein Traum zurücklässt, von dem das Gedächtnis sozusagen nichts als den Schatten bewahrt hat.“

Die Luftmenschen

„Zablotow, so hieß dieser kleine Ort, der hunderten anderen Städtchen ähnlich war, in denen bis 1942 die jüdische Bevölkerung Galiziens, Russisch-Polens, Litauens, Weißrusslands und der Ukraine auf engem Raum zusammengepfercht lebte. Zablotow – schon der Name ist unangenehm: Er spielt auf den lehmigen Boden, auf die ungepflasterten Straßen an, in denen man zu versinken drohte, sobald die unaufhörlichen Herbstregen sie aufgeweicht hatten. Die dreitausend Einwohner waren zu neunzig Prozent Juden: Handwerker, viel mehr als man je brauchen konnte, Händler mehr als Käufer – Händler ohne Kapital, welche die Waren, die sie anboten, zumeist selbst noch nicht bezahlt hatten. Sie wurden sie nicht los, weil das Geld immer rarer wurde, weil die ruthenischen Bauern, die sich jeden Dienstag zum Wochenmarkt einstellten, zu wenig zu verkaufen hatten und für ihre Produkte nur schlechte Preise erzielten. Sie konnten deshalb kaum etwas anderes erstehen als gesalzene Heringe, einen Kamm für die Braut, einmal im Jahr ein Gewand oder ein besonders billiges Paar Schuhe.“

Die Zablotower waren wie die Bewohner der anderen Städtchen „Luftmenschen“ oder „Luftexistenzen“, wie sie sich selbst gerne nannten – mit jener Selbstironie, auf die sie schwerer verzichten hätten können als auf ihre kärgliche Nahrung oder ihre schäbige Kleidung.

Als Journalist porträtiert Roth die Menschen und zeichnet schwungvolle Skizzen aus ihrem Leben:

„Ich sah, dass in dieser kleinen Stadt lauter rothaarige Juden wohnten. Einige Wochen später feierten sie das Fest der Thora und ich sah, wie sie tanzten. … Die Chassidim fassten sich bei den Händen, tanzten in der Runde, lösten den Ring und klatschten in die Hände, warfen die Köpfe im Takt nach links und rechts, ergriffen die Thorarollen und schwenkten sie im Kreis, wie Mädchen und drückten sie an die Brust, küssten sie und weinten vor Freude. Es war im Tanz eine erotische Lust ...“ (Juden auf Wanderschaft)

Als Literat verarbeitet er das Gesehene, so im Roman Radetzkymarsch:

„Eine Laune der Natur, vielleicht das geheimnisvolle Gesetz einer unbekannten Abstammung von dem legendären Volk der Chasaren machte, dass viele unter den ,Grenzjuden‘ rothaarig waren. Auf ihren Köpfen loderte das Haar. Ihre Bärte waren wie Brände. Auf den Rücken ihrer hurtigen Hände starrten rote und harte Borsten, wie winzige Spieße. Und in ihren Ohren wucherte rötliche zarte Wolle, wie der Dunst von den roten Feuern, die im Innern ihrer Köpfe glühen mochten.“

Manès Sperbers Erinnerungen an den Ort, in dem er die ersten zehn Jahre seines Lebens verbrachte (Die Wasserträger Gottes), vermitteln kaum den Eindruck von „religiöser Lust“, sondern eher den einer abgeschirmten, seltsamen Welt, von einer zeitlosen Ergebenheit in ein diesseitiges Leben:

„Unter den Zuhörern (in den Bethäusern) mochte es Zweifler geben und Kleinmütige, die befürchteten, dass sie noch vor der Erlösung sterben könnten, doch gab es kaum einen, der nicht an den Messias und sein nahes Kommen glaubte. Sie standen in dem von Kerzen beleuchteten Bethaus, der leise Singsang, mit dem hier und dort junge Menschen ihr Talmudstudium begleiteten, störte die eifrigen Debattierer so wenig wie der Lärm der spielenden Kinder, den man um so duldsamer ertrug, als manche von ihnen den Vater oder die Mutter vor nicht langer Zeit verloren hatten. Die Waisenknaben mussten dreimal am Tag das Totengebet wiederholen, laut, deutlich.“

Jenseits der Städtchen und Dörfer Ostgaliziens und der Bukowina

Eine ganz andere Welt lässt dagegen Soma Morgenstern in der Trilogie Funken im Abgrund I, Der Sohn des verlorenen Sohns auferstehen, nämlich die Welt reicher jüdischer Gutsbesitzer:

„Welwel (Mohylewski) wurde früh am Morgen geweckt. Die über der weiten Ebene Podoliens aufgehende Sonne hatte eben ihre ersten Lichtblitze gegen die grünen Fensterläden geschleudert, als er sich erhob. Noch auf dem Bettrand sitzend, griff er nach dem Wasserglas, das auf dem Nachtkästchen neben einer Schüssel stand, schüttelte ein paar Wassertropfen über die Finger der linken Hand, die gleich mit ebenso flinker Übung die Finger der rechten bedienten und – fertig war die Waschung. Es ist dies eine Art symbolischer Waschung. Der Fromme wäscht sich so zum Beginn des Tages, beileibe nicht zum Zweck der körperlichen Säuberung. Es ist eine Waschung zum Zweck der Reinigung vor dem Gebet. Mit geschlossenen Augen, noch immer auf dem Bettrand sitzend, hob er gleich aus schlafschwerer Brust zum Gebet an, das dem Schöpfer Dank abstattet – für die Wiederkehr der Seele aus den Verwandlungen des Schlafes, für die Wohltat als Jude, nicht Gott behüte als Andersgläubiger, für die Auszeichnung als Mann, nicht Gott behüte als Frau erschaffen zu sein – zu dem kurzen vorläufigen und schnellen Geflüster, mit dem der Fromme den Tag anspricht, ehe er so weit ist, sich zu dem eigentlichen, zu dem großen Morgengebet zu stellen, das der Überlieferung nach den Erzvater Abraham zum Stifter hat.“

Spätestens bei Morgenstern bemerkt man die Faszination, die das Lemberger Deutsch vermittelt: Es sind die genauen Beschreibungen aller Einzelheiten, die Vergleiche, die auch Joseph Roths Romane auszeichnen. Sogar Roths seltsame Rothaarigkeit findet sich im Sohn des verlorenen Sohns wieder:

„Pesje war rund fünfzig Jahre alt, so alt fast wie ihr Brotgeber und seit dreißig Jahren im Hause, ein altes Fräulein, ein verdorrtes Blatt auf dem Baume Israels. Sie war mager, knochig, ihre Züge waren welk und grob, ihre Stimme war welk und dünn. Nur ihr Haar war jung und blühend, schön in seinen feuerroten Geflechten, die sie, weil sie nicht verheiratet war, als ein Fräulein frei in ihrem Glanze tragen durfte. Man nannte sie die ,versorgte Pesje‘. Nicht weil sie bei Mohylewski so gut versorgt, sondern weil sie immer um irgend etwas schwer besorgt war. Sie sorgte sich auch um belanglose, ja um erfreuliche Angelegenheiten des Hauses und der Wirtschaft. ,Hundertzwanzig Milchkühe haben wir in diesem Frühjahr, weh ist mir!‘ konnte sie mit dem Ausdruck tiefsten Kummers sagen.“

Allerdings, jenseits der Städtchen und Dörfer Ostgaliziens und der Bukowina, jenseits von „Luftmenschen“, Gaunern, Dieben, Schmugglern, Deserteuren, Grenzgängern und gelangweilten Offizieren, lag wie zum Kontrast eine im Sommer blühende und im Winter schneestarre Landschaft, das ländliche Podolien, das ebenfalls der Erinnerung bedurfte:

„Aus den blauen Dünsten der Frühe läuterte sich zusehends ein klarer Tag. Rot flammte die Sonne. Den schweren Gewitterregen hatte die podolische Erde gierig ausgetrunken, die letzten Tropfen atmeten die Wiesen auf. Die feuchten Gräser schimmerten purpurviolett in der Morgensonne. Der Weizen, das Korn waren bereits abgeerntet. Wie dicke rundliche Bäuerinnen mit ihren Kopftüchern über den Stirnen standen die Weizen- und Kornmandeln auf den goldenen und silbernen Stoppelfeldern; wie Männer, klein von Wuchs, strotzten die festen Gerstenhalme, in ihren gradgesträubten Schnurbärten glitzerten noch Regenperlen.“ (Soma Morgenstern, Der Sohn des verlorenen Sohns)

Das Lemberger Deutsch ist genauso verschwunden wie das Prager Deutsch. Geblieben ist eine großartige Literatur von versunkenen Welten. Von jüdischen Welten. Von Welten, deren endgültiges Ende Paul Celan in seiner Todesfuge beschwört:

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt
mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus
und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor lässt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz.

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